Sonntag, 20. August 2006

Samstagnacht auf der Brücke

Nach dem Kino sitzen wir in der Samstagnacht auf der Brücke zwischen Kreuzberg und Neukölln. Wir, das sind etliche Leute, die gerade fast jeden Abend hier sind, und sei es für den "Absacker". Da ist zum Beispiel der Biologe, der vor kurzem wieder nach Neukölln gezogen ist, er war vor 15 Jahren schon mal kurz hier, oder der Kunsthistoriker, der am Prenzlauer Berg wohnt, und doch drei Abende in Folge auf der Brücke gesichtet wurde. Dazu etliche andere, die über Politik oder Kindererziehung diskutieren. Ein vierjähriger Deutsch-Italiener, der zu großem Geschrei anhebt. Und eben Carsten mit seinem Eiswagen (siehe "Brückenzoll").

Unter unseren Füßen das "schwarze Loch" des Kanals. Ab und zu zieht ein leerer Ausflugsdampfer unter der Brücke durch, der sich schon lange vorher durch sein Dröhnen ankündigt. Wir schauen in den nachtblauen Himmel, wieder eine laue Augustnacht.

Neben uns erklärt eine Frau, ab wo der Kiez, der am Helmholzplatz anfängt, mehr "61" ähnelt als "36". Mit den alten Postkennziffern von der vor-vorletzten Postleitzahlenreform erklärt sie eine Gegend am Prenzlauer Berg, indem sie Kreuzberg zum Maßstab nimmt. Sie wohnte schon mal hier, sagt sie, als Kreuzberg der hipste Bezirk von Westberlin war, also zu Mauerzeiten (damals hieß das noch nicht "hip", nicht mal mehr "in", nur wie dann?). Dann sei sie in den Osten gezogen und vor fünf Jahren wieder zurück. "Bis vor zwei, drei Jahren sind wir regelmäßig in Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain ausgegangen, jetzt gehen wir immer öfter einfach vor die Haustür!"

Vor etwa drei Nummern beschrieb das Stadtmagazin "Zitty" die Gegend um das Schlesische Tor als DAS neue Szeneviertel. Der Biologe neben mir meint, dieses Gebiet reiche weit über Kreuzberg 36 hinaus. "Es diffundiert langsam nach Neukölln rein. Grund dafür ist der Aufstieg von 36. Viele können dort gar nicht mehr wohnen, alles ist besetzt. In Neukölln gibt's Platz und immer mehr coole Nachbarn. Überhaupt ist das ganz cool, mal abgesehen von manchen, sehr laut geführten Nachbarschaftsstreitigkeiten. Die arabische Musik morgens um halb fünf ist auch stressig. Ich weiß gar nicht genau, wo das herkommt, es klingt mal wie live, mal ist es eindeutig übersteuert, also wird es dann jedenfalls vom Band kommen."

"Dagegen verbürgerlicht Kreuzberg 36 immer mehr. Die Leute von Universal und MTV, deren Büros auf der Ostseite an der Oberbaumbrücke liegen, finden es eben cooler, nach Kreuzberg zum Mittagessen zu gehen als nach Friedrichshain, was ja der Prenzlauer Berg für die junge Generation ist. Also landen die am Schlesischen Tor - und etliche wohnen jetzt da auch, abzulesen an den Volvos oder Mercedes Kombis vor dem Haus. Die Autobesitzer treffen auf Nachbarn, von denen sich viele gar kein Auto leisten können, und beziehen die Wohnungen jener, die der Kinder wegen nach Schöneberg, Friedenau oder neuerdings Steglitz ziehen, also in den alten, bürgerlichen Westen."

Soweit der Biologe. Nochmal zum Mitdenken: Kreuzberg "SO 36" (Süd-Ost 36) lag einst in der Sackgasse, das war ein Ausläufer Westberlins inmitten der "Hauptstadt der DDR". Die Brücke, auf der wir sitzen, liegt genau im Schnittpunkt des Vierländerecks: Friedrichshain im Nordosten, im Uhrzeigersinn ein wenig weiter "runter" dann Treptow, im Süden Neukölln, und auf dem Zifferblatt weitergerutscht bei sieben Uhr beginnt dann das schicke, das bürgerliche Kreuzberg "61", bei neun Uhr geht es wieder in SO 36 über.

In SO 36 waren die billigen, heruntergekommenen Häuser einst von "Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund" bewohnt, damals hieß das noch "Gastarbeiter". Studenten zogen hinzu, erfuhren von den Abrissplänen des Senats, besetzten Häuser und sorgten dafür, dass Sanierungspläne entstanden und umgesetzt wurden. Das war in den 70er und 80er Jahren.

Mit dem Mauerfall waren von einem Tag auf den anderen die Ostbezirke "angesagt". Und vor kurzem zogen Medienunternehmen ans Spreeufer. Der Osten und die historische Mitte wurden immer schicker und teurer, also gibt es einen osmotischen Druck auf Kreuzberg. Der dritte (oder war's der vierte?) Studentennachzug nach Kreuzberg verbürgerlichte, bekam Kinder, zog weiter. Nun kommen Mieter mit höherer Kaufkraft ins alte, nie so gut beleumundete SO 36, was sicher sehr bald auch zu mehr Baustellen führen wird. Jene, die früher diese bislang günstigen Wohnungen bezogen hätten, weichen jetzt verstärkt nach Nord-Neukölln aus.

"Es ist nicht eine bestimmte, definierbare Szene, die weiterzieht, wie die Zeitungen schreiben, das ist Quatsch", sagt der Biologe. "Es handelt sich um eine Gruppe, die ähnliches Alter und ähnliche Interessen auszeichnet, die aus Gründen der Kaufkraft und der Kommunikation sich ihre Orte sucht."

Wenig später gehen wir Neuköllner Laborkaninchen nach Hause über die Brücke, während der Gast aus dem 'nahen Osten' noch zur U-Bahn muss.

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