Samstag, 5. August 2006

Kracher, Böller, Salven

Gestern Abend wurde mein Haus befeuert, nein: vor dem Haus meiner Stadtschreiberwohnung wurde gefeiert. Die Stadtschreiberwohung liegt idyllisch am Ufer des Landwehrkanals, dort hinaus geht auch der Austritt, der immerhin so groß ist, dass man ihn auch zu zweit betreten kann und sogar mit einem kleinen Tischchen bestückt, so dass der Austritt im Vertrag mit dem Vermieter als "Balkon" erwähnt wird. Auf dem Tischchen wohnt derzeit eine Palme. Die Palme erholt sich hier vom langen Berliner Winter. Die Spitzen der Palme sind ungeheuer piksig, deshalb kann seither kann der Austritt nur noch im langen Mantel betreten werden, was an den heißen Tagen etwas mühsam war.

Aber ich schweife ab. Gestern wurde vor dem Haus auf der anderen Uferseite nicht nur gefeiert, sondern es wurden viele Böller, Kracher und Salven in die Luft gejagt. Es klang so, als hatte jemand sein restliches WM-Pulver zu verschießen. Die Sache ging bis in die Nacht und ließ mich schlecht schlafen.

Im Halbschlaf wurden die Wellen, die der Seegang der Touristenboote an die Ufermauer wirft, immer lauter, das Wasserfläche wurde immer größer. Und die Palme auf dem Austritt wuchs und wuchs. Ich träumte von Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeeres, die im Keller sitzen, während Salven und Bomben über ihre Köpfe fliegen. Ich träumte von Regisseur Amos Gitai aus Haifa, den ich vor Jahren mal auf der Berlinale gedolmetscht habe. Und als ich heute morgen die BERLINER ZEITUNG aufgeschlagen habe, las ich folgende Zeilen:

Warten auf die Sirenen

Der Nahe Osten erlebt jetzt seine Stunde der Wahrheit / Von Amos Gitai

Auf merkwürdige Weise setzt der Krieg für das Heranwachsen Punkt und Komma. Ich wurde 1950 in Haifa geboren, zwei Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg. In die Grundschule kam ich 1956: da herrschten die Suezkrise und der dritte arabisch-israelische Krieg. Man kann jede unserer Biografien aus der Perspektive der außenpolitischen Ereignisse im Nahen Osten beschreiben. Deshalb habe ich den Eindruck, dass sie in die intimsten Sphären jedes einzelnen eindringen.

Im Jahr nach dem Jom-Kippur-Krieg wollte ich mich nicht erinnern. Zu viele Albträume. [Gitai war 1973 in einem Rettungshubschrauber abgeschossen worden, d.R.] Ich gab das Architekturstudium auf. Ich suchte mir andere Mittel, um mit der Wirklichkeit des Nahen Ostens ins Gespräch zu kommen. Ich dachte, das Kino könne es mir leichter machen, meine Einfälle und Überlegungen auszudrücken.

In den 80er-Jahren begann ich die Trilogie, die ich gerade mit dem Film "News from Home/ News from House" beendet habe. Diese Trilogie behandelt die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern, die sich im Mikrokosmos der Bewohner eines Hauses in Jerusalem spiegeln. Seinerzeit war Scharon Verteidigungsminister, es war die Zeit des Libanon-Kriegs, und es wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen, dass Israel vor allem ein Kriegsfilm fehlen würde. Ich musste bis in die 90er-Jahre warten - darauf, dass der Frieden langsam ein Gesprächsthema wurde. Bis mir klar wurde, dass man den Krieg auf dialektische Weise zeigen muss. Genau zu dem Zeitpunkt habe ich den Film "Kippur" gedreht.

Zu viele Kriegsfilme zeigen distanzierte, ästhetisierte Bilder. Dabei ist der Krieg per definitionem Unordnung und Bruch. In einer Situation wie der des Jom-Kippur-Kriegs ist die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Ich wollte diese chaotische Seite, das Verschmelzen und die Verwirrung der ersten Tage am Beispiel von Staus einfangen, in denen sowohl Zivilfahrzeuge als auch Militärlastwagen oder Lieferwagen mit Eiskrem stehen.

Der Nahe Osten erlebt jetzt seine Stunde der Wahrheit. Ich glaube, wir werden gezwungen uns zu entscheiden, ob wir uns eine Form der Koexistenz vorstellen können oder nicht. Ich hoffe, dass diese Debatte friedlich geführt werden wird und nicht kriegerisch. Wir müssen andere Wege finden, miteinander zu sprechen oder geteilter Meinung zu sein, aber keinesfalls auf so mörderische Art und Weise wie jetzt.

In diesen Tagen in meiner Geburtsstadt Haifa zu sein, den Bombenalarm und die Einschläge der Granaten zu hören, ist eine alles andere als intellektuelle Erfahrung. Es bedeutet ganz im Gegenteil physisch zu erfahren, wie sehr das Dasein eines Bewohners des Nahen Ostens doch Teil eines großen regionalen Rituals ist, das darin besteht, in regelmäßigen Abständen das Blut seines Volkes zu vergießen. Die einzige Frage, die sich aufdrängt, lautet: Warum? Wie viele Opfer, wie viel Zerstörung werden hier noch nötig sein, bis man versteht, dass dieser Totentanz keinen Sinn macht?

Der Konflikt zeigt wenigstens eines: dass der Nahe Osten sich in der letzten Zeit auf dem Weg der Beruhigung und der Versöhnung befand. Tragisch ist, dass die Extremisten jedes Mal ebenso regelmäßig wie vorhersehbar zuschlagen, wenn es in Sachen Frieden vorangeht - sie machen mit Gewalt alles wieder rückgängig. Man muss nur einige Jahre zurückdenken, um sich dessen bewusst zu werden: Genau in dem Moment, als Itzhak Rabin den Tsahal den Befehl gegeben hatte, sich aus Jenin und Nablus zurückzuziehen, begannen die Attentate auf Busse in Tel Aviv. Die Terroristen interpretieren jeden Fortschritt in Richtung Frieden als Zeichen der Schwäche - und als Gelegenheit, die eigene Macht zu demonstrieren, indem sie Israel treffen. So reiben sie das Lager der moderaten Israelis auf. Momentan haben weder Israelis noch Palästinenser Zeit, sich der täglichen, menschlichen Dinge anzunehmen, die hier wie überall in der Welt geregelt sein wollen, Probleme der Rente oder des Mindestlohns. Der Konflikt verhindert absolut jede soziale Entwicklung.

Hüten muss man sich vor dem Vermischen des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern einerseits und den Zusammenstößen zwischen Israel und den arabischen Ländern andererseits. Das Erste ist der Hauptkonflikt, weil die Erde beiden Völkern gehört und weil wir einen Weg fürs Zusammenleben finden müssen. Für uns linke Israelis ist der Krieg, den wir gerade erleben, politisch besonders komplex. Seit Jahren versuchen wir mit Artikeln, Büchern oder Filmen zu beweisen, dass der Konflikt durch den Rückzug aus den besetzten Territorien gelöst werden könnte. Nun hat sich Israel aus dem Gazastreifen und Libanon zurückgezogen, und genau hier haben jetzt die Hisbollah zugeschlagen. In dem Teil der Golan-Höhen, die noch immer besetzt sind, ist es hingegen ruhig. Wir wissen, was die israelische Rechte sagen wird: Rückzug war nicht die Lösung. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass Israel sich nicht nur weiter zurückziehen sollte, sondern dass die friedliche Koexistenz mehr ist als ferne Hoffnung: Sie wird sich ergeben. Aber bis dahin gibt es für den Kampf gegen die Hisbollah keine politisch korrekte Lösung. Kann man wirklich durch Diplomatie und Moderation eine ungebändigte religiöse Organisation befrieden, die sich so perfekt auf eine irrationale Ideologie stützt?

Der Konflikt im Nahen Osten ist deshalb besonders, weil er vollständig gefilmt wird. Es ist der Konflikt, der am meisten in den Medien vorkommt - die Lieblingsfernsehserie der Welt. Eine endlose Serie, bei denen die Guten und die Bösen regelmäßig die Rollen tauschen. In diesem Zusammenhang Kino zu machen ist eine schwierige Herausforderung: Man muss sich ständig für eine Perspektive entscheiden, trotz Sturm rational bleiben, trotz der ganz individuellen Sorgen.

Gleichzeitig Filmemacher und Bürger zu sein hat etwas Schizophrenes, aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Kino nicht die Rolle der Abendnachrichten übernehmen soll, sondern dass es die Aufgabe hat, die Vereinfachungsmechanismen der Medien außer Kraft zu setzen. Am Ende soll Kino nicht Hass schüren, sondern die gegenseitige Verständigung nähren.

Amos Gitai ist der renommierteste israelische Filmregisseur. In seinen Arbeiten hat er sich immer wieder mit den Gründungsmythen des israelischen Staates befasst. Sein Kunst-/Film-Projekt "News From Home" kommt am 7. September in die deutschen Kinos.

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