Sonntag, 28. Januar 2007

(wieder nichts über NK) Glücksformel

Schon vor mehr als zwanzig Jahren ist der kanadische Journalist Robert Blondin auf einer Recherchereise durch die Welt gezogen. Sein Ziel war es, die glücklichsten Menschen zu finden. Er befragte mehr als 2000 Menschen und beobachtete dabei, dass jene besonders glücklich waren, die aus einer Krise gestärkt hervorgegangen sind und nicht jene, die eher von ihren Bekannten als glücklich eingeschätzt wurden, weil sie zu den Reichen, Schönen und Mächtigen zählen. Seine "Glücksformel" aus dem Französischen übersetzt: "Glückliche Menschen ziehen das Wesentliche dem schmückenden Beiwerk vor, das Sein dem Haben, das Nützliche dem Angenehmen, das Dauerhafte dem Flüchtigen, das Ausreichende dem Zuviel, das Notwendige dem Überfluss, kurz: die Bedürfnisse dem Wünschen und Begehren."
Dann spricht er auch von "abandon" - auf Deutsch "Hingabe", sich mit Haut und Haar einlassen, das ist das Gegenteil von Kontrolle. Und jene sind glücklich, die sich selbst und ihre Lebenssituation richtig einschätzen und sich nicht andauernd mit anderen vergleichen müssen.

BLONDIN, Robert. Le bonheur possible. Les gens heureux ont une histoire. Les conclusions d'une vaste enquête. Éditions de l'Homme, Montréal, 1983

Montag, 22. Januar 2007

Möbel mit Geschichte

Was Möbel und Kleidung betrifft, bin ich nicht reich genug für meinen Geschmack. Auf das schwedische Möbelhaus habe ich auch nicht in allen Fällen Lust. Als ich die Stadtschreiberwohnung vor etwas mehr als einem Jahr bezog, war sie nicht mal zur Hälfte möbliert, das lag am Auszug von Mitmietern.

Ich fand eine neue Freundin, Jule, die hier als Holzkünstlerin mit der Bohrmaschine schon vorkam, sie half mir ab und zu, ich lernte aufmerksam. Als Schreinerin kann ich ihr nun auch einen Auftrag erteilen, zum Beispiel, für den ultraschmalen Flur ein Möbel mit Bauhaus-Türen aus einer Abrissvilla zu entwerfen und zu bauen.

Parallel dazu entdeckte ich einen Trödelladen in der Nähe, der abgeschliffene Möbel verkauft. Dessen Besitzer bot sich als Abschleifer an, das macht er selbst in einer Werkstatt in der Nähe. Das eine oder andere Ding fand ich dort: Mein Tischchen für den Drucker zum Beispiel. Die andren Sachen hab ich im wahrsten Wortsinn ausgebuddelt: aus Hinterzimmer-Möbelclustern in ranzigen Haushaltsauflösungsläden meinen schönen eingeschliffenen Spiegel mit Holzrahmen für drei Euro; ein Stück zog ich aus dem Müllcontainer, als unser Gemeinschaftskeller geleert wurde; ein Küchenregal verdanke ich einer betagten Nachbarin, die ins Altenheim zog.

Ich setze im Grunde hier nur etwas fort, das früh angelegt war: Schon im zarten Alter von acht habe ich auf dem Marburger Flohmarkt mein erstes Küchenoberteil gekauft - Abbildung rechts. Damals kostete es fünf Mark. 15 hätte es kosten sollen, aber kindlichem Charme konnte sich der Händler offenbar nicht entziehen.

Das Oberteil meines Wohnzimmerbuffets fand ich spätnachts auf der Straße. Es stand vor dem Haus, herrenlos. Und ich raffte all meinen Mut zusammen und bat zwei türkische Gängsta, so um die 18 Jahre jung, die mir gerade begegneten, das Ding für mich hochzutragen. Die waren überaus höflich und nett, weil ich ihre Schwester vom Rauchen abgebracht hatte, das ist aber eine andre Geschichte. Das Möbel ist sehr schön geworden - und vollständig, seit in einem andren Trödelladen das passende Unterteil rumstand. Das hatte eben gerade sein Oberteil verloren an eine Familie, die nur dieses als Bücherschrank haben wollte.

Solche Glücksfunde setzen zweierlei voraus: Geduld und gute Beziehungen zu den verschiedenen Trödlern. Meine Mittagspausen kennen viele Ziele auf den Spaziergängen im Kiez bis hin zum Südstern. Der Rest ist Handwerk und gutes Zuhören bei Jule oder bei Farben und Lacke Sachse vom Schlesischen Tor: Der maschinelle Abschliff des Trödlers geht bis zu einer Körnung von 350 (?), ich lege nach mit 600er und 1000er Körnung. Dann Schellack, dann nochmal schleifen, dann Wachs. Die Maserung kommt schön raus, die Farbe des Holzes, meist Kiefer, ist dann schön warm. Und das streichelzarte Holz ist jedes Mal wieder ein haptisches Erlebnis.

Unterm Strich kostet mich mein praktisches Hobby kaum mehr als Pressspan-Möbel vom Möbeldiscounter plus Zeit. Logisch, dass ich bei meinen Touren durch den Kiez immer Maßbänder in den Taschen aller Jacken habe. Natürlich die aus Papier, vom schwedischen Möbelhaus.

Freitag, 19. Januar 2007

Interview mit Sophie

In einem Café meiner Nachbarschaft lerne ich Sophie kennen, als der Kellnerin ein Tablett runterfällt und wir beide Spritzer abbekommen. Weil an ihrem Tisch eine große Pfütze ist, setzt sie sich für die Zeit der Aufräumarbeiten zu mir und bleibt hängen.

Sophie hat dunkelblonde, lange Haare, ist schlank und hat grazile Bewegungen; ich hätte sie maximal auf 37 geschätzt, dabei ist sie fünf Jahre älter. Als Kind war Sophie Ballett-Fan, heute tanzt sie Tango. Die Theaterwissenschaftlerin realisiert Dokumentarfilme, wenn sie denn mal wieder ein Projekt durchboxen kann.

Sophie: Nord-Neukölln ist klasse, ich wohne billig, mein Tanzstudio kostet ein Drittel weniger als das in Mitte, selbst der Milchkaffee ist oft billiger.

Ich: Das ist doch aber auch eine Gefahr. Die ZITTY schrieb vor einem Jahr über die Großstadtnomaden, die nicht ankommen, weil kein wirtschaftlicher Druck da sei.

Sophie: Den machen nicht die billigen Mieten, wir lassen uns nicht in die Hängematte fallen. Höhere Mieten könnte kaum einer zahlen, wenn die Einkommen so gering sind. Nimm mich als Beispiel: Akademikerin, Auslandserfahrung, mehrere Fremdsprachen. Ich hangele mich von Job zu Job, weil es immer Leute gibt, die besser vernetzt sind - und andere, die als "Praktikant" (sie malt Anführungszeichen in die Luft) kostenlos arbeiten. Die einen hatte Zeit sich zu vernetzen, als ich in Madrid und Lyon war. Für die andren blechen die Eltern. Wohin soll das noch führen?
Berlin ist für mich eine sehr nette Sackgasse: ich hab mich für meinen Freund entschieden, der hat ein Kind, ist also an die Stadt gebunden.

Ich: Und was machst Du, um Jobs zu kriegen?

Sophie: Besser sein als andere. Das hilft manchmal, auch nicht immer. Was im Vorfeld an unbezahlter Arbeit verlangt wird, Exposés, Treatments, am liebsten noch ein Kurzfilm zum Thema, wird immer komplexer. Mein vor-vorletztes Projekt haben sie beim Sender geklaut. Öffentlich-rechtlich, die kommunizierenden Röhren: während ich mit den einen noch verhandle, fingen die andren schon mit der Umsetzung an. Ein freier Redakteur war plötzlich der Autor. Nee, in dieser Gesellschaft gibt's die mehrfache Zweiteilung: drin oder draußen, absahnen oder nicht. Viele werden durch die Demütigungen ganz mutlos.

Ich: Und Du?

Sophie: Meistens draußen aber irgendwie stabil. Ich unterrichte seit acht Jahren an einer Kunsthochschule. Das bringt zwar nicht viel Geld ein, weil ich mich ja vorbereiten muss und wenn Theaterarbeit dabei ist, bekommen wir auch nicht alle Proben bezahlt. Viele Studenten arbeiten auch theoretisch.

Ich: Darf ich fragen, was Du da verdienst?

Sophie: Ich bin der Ein-Euro-Lehrer (lacht), und zwar ganz ohne Hartz IV. Im Ernst, man kriegt um die 20 Euro für jede gehaltene Stunde, also nur im Semester. Da ich Seminare halte, die so überfüllt sind, dass arbeiten oft schwer ist, läuft es auf eine Art Vorlesung hinaus. Das ist vorbereitungsintensiv. Plus Bücher kaufen, die Bibliotheken Berlins sparen halt echt, plus Klausuren, netto ein Euro ...

Ich: Hab ich schon mal gehört. Warum tust du dir das an?

Sophie: Ab und zu stellt man mir einen anderen Vertrag in Aussicht. Vielleicht ... naja, ich bleib vor allem im Geschäft - und im Gespräch. Und es ergeben sich manchmal Jobs daraus: ich hab letztens einen Autor entdeckt, an einen Verlag vermittelt und übersetzt.

Ich: War das besser bezahlt?

Sophie: Nur ein wenig. Literaturübersetzung bezahlt in Deutschland der Lebensgefährte (lacht wieder). Im Ernst, um die zehn Euro die Stunde. Für eine Akademikerin unangemessen, ich weiß. Für das Geld mach' ich auch nichtakademische Jobs.

Ich: Zum Beispiel?

Sophie: Akt stehen. An Kunsthochschulen und der VHS, bei Zeichenkursen zur Mappenvorbereitung, manchmal auch privat.

Ich: An der gleichen Hochschule, an der du unterrichtest?

Sophie: Nein, das nicht, ich ahne, worauf du hinauswillst: die Studis sind eher borniert und wechseln nur selten mal den Bereich. Aber ich glaube, es würde mich nicht stören, wenn aus dem Seminar einer käme. Ich bin nicht verklemmt. Ich mag mich, wer das nicht von sich sagen kann, sollte nicht als Aktmodell arbeiten.

Ich: Ist das nicht irgendwie auch eine erotisch aufgeladene Situation? Gibt's da Spanner?

Sophie: Vielleicht, aber nee. Das ist sehr professionell. Die haben mit ihren Formen und dem Papier zu kämpfen. Und ich denke ohnehin an was andres. An die Steuererklärung, die nächsten Seminare, Bücher, oder ich denke gar nichts.

Ich: Andere hätten da sicher mehr Probleme mit ...

Sophie: Ich bin nicht schamlos, aber weshalb sollte ich mich schämen? Für was?

Ich: Wie bist du dazu gekommen?

Sophie: Durch eine Freundin, mit der ich vor 20 Jahren zusammen studiert habe. Sie unterrichtet heut im Atelier. Vor 20 Jahren hab ich schon mal Akt gestanden, und als jetzt jemand ausfiel, bin ich halt eingesprungen.

Ich: Macht das was mit deinem Ego, dass du fürs Unterrichten als Akademikerin ein Zehntel von dem erhältst, was jemand ohne Qualifikationen fürs Aktstehen bekommt?

Sophie: Aktstehen ist nicht ohne. Ich werde gebucht, weil ich Ausstrahlung hab und trainiert bin. Posen zu halten kann ja auch sehr anstrengend sein. Aber im Grunde ist es eine Granatensauerei, was in diesem Land passiert, alle reden von Wissen und Bildung, dann hast du sie und dann ist es nichts mehr wert. Was mich auf die Palme bringt, ist, dass wir kinderlosen Akademikerinnen auch noch regelmäßig öffentlich abgewatscht werden. Mein Freund zum Beispiel hat sich sterilisieren lassen, weil ihn die Ex-Gattin mit juristischem Beistand arm gemacht hat. Die Gesetze entsprechen nicht mehr der Lebenswirklichkeit. Und ich hätt schon gern ein Kind, aber schau dich doch um? Wo sind denn die emanzipierten Väter?

Ich: Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Sophie: Ich bin die Fernsehredakteurin, die unbestechlich nur das Beste fördert (lacht) - oder Dekanin an der Kunsthochschule.

Ich: Arbeitest du heute an deiner Vernetzung?

Sophie: So gut ich kann. Ich fürchte, dass die Aktsteherei, wenn DIESE Leute davon erführen, mir zum Nachteil gereichen würde. Wenn du einen guten Job weißt ...
Oder vielleicht sollte ich mir einfach einen reichen Mann suchen (lacht).

Dienstag, 16. Januar 2007

Havarie! oder: Anderen Menschen beim Denken zusehen

Nach einem langen, auswärts verbrachten Wochenende gluckert es Montagvormittag komisch in der Leitung. Es klingt, als hätten die Nachbarn eine neue Waschmaschine.

Mittags fließt das Wasser im Klo nicht mehr ab. Als die Nachbarn oben Wasser laufen lassen, entsteht ein Schmutzsee in der Wanne. Der Wasserspiegel steigt bei jedem Spülgang.

Die Hausverwaltung wird informiert. Erst per Mail, dann nochmal per Telefon. Eine Firma sei beauftragt, "bleiben Sie zu Hause!", heißt es.

Ich benachrichtige die Nachbarn und warte. Sage meine Termine ab. Warte. Ich bin froh, zu Hause zu arbeiten und nicht im Büro; zum Arbeiten komme ich dennoch nicht. Das Café nebenan freut sich über meine häufigen Besuche.

Zeitsprung: Fast 20 Stunden später werde ich massiv. Rufe allen hinterher. Nach weiteren drei Stunden kommen die Handwerker. Die Hausverwaltung hatte dem Mitarbeiter der Rohrfirma auf die Schadensmeldung hin eine Mail geschickt, indes: die Arbeiter waren den ganzen Tag auf der Baustelle.

Was sich die Sachbearbeiterin dabei gedacht hat?

Die Männer fangen mit einer Spirale an zu arbeiten. Üben Druck auf die Stelle aus, die blockiert ist, eine halbe Stunde lang. Es tut sich nichts. Dann stehen die beiden stumm und dräuen vor sich hin, der Dicke und der Dünne. Sie stehen da und schweigen, brüten, sagen nichts. So also sieht Nachdenken bei Leuten aus, die nicht wie wir permanent denken.

Zweite Strategie: Jetzt kommt zur Spirale auch der Pömpel zum Einsatz, die Saugglocke. Druck auf die Stelle, dazu Wasserdruck per Pömpel. Als das nach einer weiteren halben Stunde nicht verfängt, das gleiche Bild nochmal: Pat und Patachon stehen reglos und stumm da. Und ich daneben, bewundere ihre Ruhe und Gelassenheit. Sie sind den Tücken des Objekts ausgeliefert, schicksalsergeben. Eine solche Situation, die keine Wahl lässt, würde mich mal wütend, mal rasend, mal hilflos machen.

Am Ende reißen sie Rohre aus der Rigips-Wand zwischen Küche und Bad, pumpen ab, spiralen weiter aus einem anderen Winkel.

Nach genau zwei Stunden macht es "Blubb!" Wasser marsch!

Montag, 15. Januar 2007

sie fragen sich, ob sie wollen sollten, wenn sie dürfen würden

Die Bedenkenträger im Berliner Senat zweifeln, ob Wolf Biermann gut genug sei für eine Ehrenbürgerwürde der Stadt. Eine würdelose Debatte. Unser Ehrengedenken muss besonders nach den Braunen Jahren widersprüchlich sein dürfen.

Biermann ist der Inbegriff eines Intellektuellen. Er hat verletzt, bewegt, sich geirrt, war mimosenhaft, hatte Recht, war laut. Er ist unbestritten ein großer Sprachzauberer. Und einer der besten Köpfe, die wir haben, trotz seiner Stimme, über die gestritten werden kann.

Die Bedenkenträger fragen sich, ob sie wollen sollten, wenn sie dürfen würden.

Die Berliner sehen das entspannter, sie sind quer durch alle Parteien dafür, so die repräsentativen Umfragen. Politiker, macht doch mal wieder, was wir wollen!

Montag, 8. Januar 2007

Wegen Inventars geschlossen

Drei Zimmer mit Balkon, acht Fenster, die Kammer,
Küche, Bad, zwei Schreibtische, ein Sekretär,
Zwei Computer, drei Betten, zwei Buffets,
Zwei Küchenstühle am Tisch, der Herd. Sofa,
Sessel, Teppich, zwei Beistelltische, neun Regale.

Eine Vitrine, ein Esstisch mit vier Stühlen,
Schuhschrank, Flurschrank, Waschbeckentisch.
Schreibtischsessel auf Rollen, noch mehr Stühle,
Bücher, Akten, Gabel, Löffel, Topf und Teller
Wäsche, Kissen, Bilder, Lampen, Schmuck.

Zwei Radios, eine geschnitzte spanische Wand.
Ein durchschnittlicher Haushalt besteht aus 10.000 Dingen.

Samstag, 6. Januar 2007

La galette des Rois - der Dreikönigskuchen

Rund liegt er da; froh und satt
Soll er alle machen: Ein Kuchen aus
Blätterteig und Marzipan.

In acht Stücke geschnitten für sieben,
Das Achte ist für den Armen, den Gast
Der überraschend kommt

Oder auch nicht. Drin eingebacken
Eine Saubohne, heute oft eine Figur
Aus Plastik. Wer auf sie beißt

Ist König für einen Tag. Erwählt seine
Königin. Beim Trinken, Essen: Das
Derbe Publikum gröhlt. Lacht. Hat Spaß.

„Le roi boit, le roi boit!“ Am Tag der
Drei Könige spotten die Franzosen
Gern über ihre Monarchen.

Und doch will jeder König sein. Und
Königin. Und fühlt sich was bess’res.
Einen Abend lang. Vive la République!

6.1.06

Freitag, 5. Januar 2007

Am Schlachtensee (eine SMS)

Der Himmel geht baden,
Das Ufer verschwimmt.
Schwarze Striche ziehen den Blick hoch:
Die Äste.

Kaum zu glauben –
Eben noch
Haben wir hier gebadet.

Donnerstag, 4. Januar 2007

Januarträume

Am Morgen etwas mehr Licht.
Durch die geöffnete Balkontür
Schreitet ein Kätzchen.
Springt auf den Tisch.
Schaut über die Brüstung.

Ihm gegenüber (zum Glück viel Luft
Zwischen den beiden)
Ein kleiner Vogel
Im Baum. Blickt zur Katze
Und singt.

Wovon die Katze und ich träumen
Scheint klar. Wovon aber träumt
Der Vogel?

4.1.06

Faktor Zeit, ein Vexierbild

"Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft (...) um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freizeit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen, sie lehnen an der Hauswand, am Brückengeländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts mehr muss schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen."

An diesen Text musste ich vorhin denken, als ich auf der Suche nach einem Schuster in einer Neuköllner Nebenstraße war. So viele Menschen mit so viel Zeit! Auf mich wirkte die Szene wie ein Filmausschnitt in Zeitlupe. Natürlich wunderte ich mich über Uhrzeit (halb zwölf Uhr vormittags) und Jahreszeit, aber die Temperaturen sind mild. Muße ist gut, wenn aber keine Pläne mehr da sind ...

Da fällt mir ein, was uns Gilles Duhem, damals Quartiersmanager des Neuköllner Rollberg-Kiezes, im Sommer erzählt hat: "Es gibt hier Schulklassen, da hat nicht ein Elternteil Arbeit. Und die Kinder wissen nicht, was ein Termin ist."

Das obenstehende Zitat stammt übrigens von 1932, es ist aus dem Buch "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel, der ersten soziologischen Untersuchung über die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit.

Mittwoch, 3. Januar 2007

Arbeitslose Künstler?

Die kleinen Ladenräume hier in den Nebenstraßen von Nord-Neukölln stehen oft leer. Oder es ziehen Filmemacher ein, Maler, Journalisten, Galeristen. Es sind keine Milch- oder Blumenläden, wie das, was viele aus der Literatur oder der eigenen Kindheit in der Nachbarschaft kennen, sondern KUNSTLÄDEN. Einer organisiert, dass die öffentlichen Gebäude Kunst bekommen. Einst gab es Mäzene, dann Kunst am Bau (angeblich eine Erfindung der Nazis, ich will das mal recherchieren). Heute wird derlei vom Europäischen Sozialfonds finanziert und das Honorar ratenweise ausbezahlt, um die staatliche Grundalimentierung nicht zu risikieren.

Dazu gibt es ein Quartiersmanagement, das Läden vergibt und Kulturvereine, die einziehen und von ABMlern betrieben werden. Hier um die Ecke an der Ladentür hängt ein Schild, auf dem steht in etwa "Für ein Fresko im Gang des Rathauses Kreuzberg suchen wir Künstler. Voraussetzung: arbeitzlos und Hartz IV".

Hm, das der Nachname eines Mannes, gegen den jetzt wegen Betrugs ermittelt wird, die deutsche Rechtschreibung derart verändert, ist die eine Sache. Die andre ist die: arbeitslose Künstler? Gibt's die denn? Darin besteht ja gerade ein Teil der künstlerischen Existenz: man arbeitet von sich aus, nach eigenem Impuls ...

Dienstag, 2. Januar 2007

Unternächte

Zwischen Weihnachten und Königstag
Steht die Zeit.

Noch sind die Tage kurz,
Oder merkst Du was?

Am Firmament gehen Räuber und Gehilfen
Auf Streifzug.

Haus und Arbeit ruhn, einst ruhte auch
Die Dienerschaft.

Und während die Nächte uns eine Frist geben
Schlägt die Stunde.

Prüf Deine Pläne, bring Deine Bücher
In Ordnung.

Zwischen Weihnachten und Königstag
Steht die Zeit.

2.1.06

Montag, 1. Januar 2007

Reisen bildet

Das Leben ist eine Reise. Aber wer reist, muss nicht unbedingt Verkehrsmittel verwenden. Meine Abneigung gegen Bahnhöfe und Flughäfen wuchs schon, als ich Kind war. Sie wuchs mit jedem Montagmorgen, an dem ich meinen Vater vor Morgengrauen in eine andere Stadt fahren lassen musste, um Geld zu verdienen. Da wirkte auch der Freitagabend nicht versöhnlich, als meine Mutter und ich um sechs an der Treppe auf Bahnsteig vier standen. Das war in Marburg an der Lahn, ich war fünf.

Letztes Jahr hatte ich bis zum Sommer schon 25 Fahrten zum Flughafen gezählt. Ich sah die Busfahrer und die Damen der Personenkontrolle häufiger als meine Freunde. Wie oft umrunde ich in meinen Vielreise-Jahren den Globus? Das erste Jahr dieser Art erlebte ich schon als Studentin und Praktikantin im aufregenden Jahr 1989. Damals studierte ich noch in Paris, bin damals aber meine ersten Schritte als Journalistin gegangen.

2007 wird wunderbar. Ich schreibe meine Dissertation - und bleibe mehr zu Hause. Daher werde ich natürlich weniger Geld zur Verfügung haben. Ich kehre zum Teil zu studentischen Lebensweisen zurück, vermiete ein Zimmer unter und habe mir extra im Wohnzimmer einen zweiten Arbeitsplatz eingerichtet, eine schöne Arbeitsecke mit verstecktem Regal, altem Sekretär und Mappenwägelchen (alte Holzschubladen auf Rollen, die man unter den Sekretär schieben kann). Dann kommen noch "Billies" (von Ikea) ins Schlafzimmer, aber die Sache ist es unbedingt wert! Ich arbeite in meinem Rhythmus, selbstbestimmt und ohne Kollegen-/Chefärger.

Warum ich "jetzt noch" promoviere, irritiert manche(n). Der Hintergrund ist einfach erklärt. Ich bin in meiner Arbeit sehr vielfältig, habe Projekte geleitet und durchgeführt, meist in kleineren Kulturbetrieben, Filmproduktionen, Festivals. Leitung liegt mir, entwickeln, schreiben, planen, kontrollieren, kommunizieren. Nur war ich meist auch meine erste Mitarbeiterin in der Basisarbeit, da der Kultursektor unterfinanziert ist (und Medienunternehmen mit unregelmäßigen Aufträgen für anspruchsvolle Filme zählen da auch dazu). Und hier lässt sich nicht delegieren, Basisarbeit erfordert Genauigkeit bis hin zu "Pingelqualitäten". Das bremst aus. Wenn dann noch Unmotivierte im Team sind oder, wie in den Jahren oft erlebt, der Anteil der Unterbezahlten und Unerfahrenen steigt, wird die Angelegenheit noch zäher.

Kurz: Diese Tätigkeiten wurden in den Jahren immer anstrengender, der Honorarschnitt der geleisteten Stunde sank in dem Maße, wie die Generation Praktikum die Bühne betrat. Nun kommt zur Armee der erfahrungssuchenden Gratis-Arbeitskräfte in Berlin der billige Büroquadratmeter hinzu. Einen Schreibtisch mehr aufzustellen kostet nicht mehr viel, in Telefoneinheiten gerechnet auch nicht ...

Am Ende bin ich einen Tag in der Woche als Dozentin in die Uni gegangen, weil ausgebildet habe ich ja ohnehin und die Leute, die in den Büros ankamen, wussten oft nicht viel. Nächste Misere: Die Honorare der Lehrbeauftragten wurden seit 40 Jahren nicht der Inflation angepasst. In den sechziger Jahren konnte man von 1,5 Seminaren im Semester leben und sich daneben weiterqualifizieren, heute zahle ich damit Strom und Gas. Und weil das nicht reicht, vermarkte ich jetzt eine andere Qualifikation, die ich in internationalen Koproduktionen nebenbei verbessert habe: ich dolmetsche zwischen Deutsch und Französisch, inzwischen auch simultan und in der Kabine.

Und mir fiel ein, dass meine Dissertation auch einfach nur eine Studie über einen Teil der Filmbranche und Filmproduktionsweisen sein könnte. Aus der Summe meiner Erfahrungen strickte ich ab dem Sommer meine Gliederung. Dann kam das Exposé dran. Das soll mir jetzt Kofinanzierungen durch die Filmfördereinrichtungen verschaffen, über die ich in der Arbeit eben auch arbeite; ein Teil ihrer Budgets ist für Forschung reserviert. Und diese Woche räume ich meine Wohnung um, miste alte Filmproduktionsakten aus und schreibe parallel am ersten Kapitel.

Diese komplexe Situation bildet ab, dass ich etliche Talente habe, ja, es sind zu viele, das hat mich jahrelang so gut ausbeutbar gemacht - und dass ich aktiv nach Lösungen suche und finde.

Das Leben ist eine Reise und Reisen bildet. Jetzt werde ich in meinen Büchern reisen: Filmwirtschaft in Frankreich und Deutschland.