Sonntag, 29. Oktober 2006

Brot und Reiterspiele

Frankreich gilt als Land von Wein und Käse, Deutschland als Land der vielen Bier- und Brotsorten. Indes: Wenn nicht Masse zählt, sondern Symbolik, dann ist Frankreich das größere Brotland. Nicht nur, dass die Franzosen zu jeder Mahlzeit davon essen, auf le pain wurde die Republik erbaut! Da ist zunächst der französisch-österreichischen Königin Marie-Antoinette unerträglicher Satz angesichts dräuender Untertanen: "S'ils n'ont pas de pain, qu'ils mangent de la brioche." Dass die brotlosen Massen stattdessen Brioche essen sollen, wird heute als böse Nachrede Rousseau nachgeschrieben, aber seit dieser genial erfunden Logline vom Vorabend der Revolution war Brot in Frankreich immer ein sensibles Thema. Noch lange fürchteten dessen Gewählte den Volkszorn, daher wurde der Brotpreis dort bis in die späten 80er Jahre von der Regierung festgelegt. Und noch heute legt das Dekret Nr. 93-1074 fest, wie "Brot französischer Tradition" herzustellen sei. Das Reinheitsgebot des Brotes begrenzt zum Beispiel die Verwendung von Sojamehr im Teig, aus dem sich sicher auch "pain à l'ancienne" backen ließe, ein mit gemahlenen Weizenkeimen und allenfalls mikroskopisch nachweisbaren Schrotspuren auf rustikal gemachtes Brot, das, goldbraun durchgebacken, mit Mehl bestreut wird.

Oder die "baguette", dieser angeblich in Paris erfundene Vorwand eines Brotes zur Erzeugung von möglichst viel Kruste, daher auch nur die geringe Dicke von durchschnittlich fünf Zentimeter. Die Kruste wiederum ist sowohl der Vorteil des Backerzeugnisses als auch sein Nachteil: Es wird rasch weich. Und für dieses weichgewordene, ein Meter lange Weißmehletwas haben die Franzosen Worte, die Deutsche in dieser Genauigkeit für ihre Dauerbackwaren gar nicht kennen. Wegen raschen Alterns wird in französischen Bäckereien auch mehrfach am Tag gebacken. Und weil man die Qualität des (noch frischen) Brotes daran prüft, ob das weiche Innere, wenn man es knetet, in seine Ausgangsform zurückstrebt, gibt es auch hier ein Wort für die Knetmasse, la mie, für das die deutsche Sprache mit "Brotkrume" keine echte Entsprechung kennt.

Während in sehr volksnahen Kneipen der deutschen Hauptstadt "ein Meter Bier" konsumiert werden kann, das ja bekanntlich auch 'flüssiges Brot' genannt wird, haben sich die Berliner gestern bei einer historischen Rekonstruktion um das Andenken Napoleons verdient gemacht. Es ging um die Frage, warum das französische Meterbrot ausgerechnet diese Form hat. Napoleons Mannen und seine Reiter zogen nach 200 Jahren erneut durch das Brandenburger Tor, auch um zu prüfen, ob das Baguette wirklich einstmals in diese Form gebracht wurde, um in die Hosentasche der Soldaten zu passen. Aus gut informierten Kreisen wissen wir jetzt: Das kann nicht die Erklärung sein. Die Hosentaschen der zeitgenössischen Uniformen sind zu klein und marschieren lässt sich mit dem Stock in der Hose auch nicht.

Die Dame der Quadriga hoch oben auf dem Tore, schon lange von ihrer damaligen Besuchsreise nach Paris zurückgekehrt, wird sich gewundert haben. Und sie wird ihren Rössern die Anekdote erzählt haben, wie das westfälische Schwarzbrot zu seinem Namen gekommen sein soll. Napoleon, der auf dem Feldzuge des schwarzen, weil extrem langsam ausgebackenen Brotes angesichts ward, soll befunden haben, dieses sei allerhöchstens gut für sein Ross mit Namen Nickel. Und aus "bon pour Nickel" soll "Pumpernickel" geworden sein. Schluss mit der Schwarzweißmalerei in Sachen Brot!

P.S.: Den Gedanken hab ich hier nirgendwo reingekriegt: les "copains", die Kumpel, sind auf Französisch natürlich jene, mit denen wir das Brot teilen. Und ein berühmter copain, Georges Brassens - les copains d'abord - starb genau heute vor 25 Jahren.

Sonne und Regen

Heute kurz nach drei klingelt es an der Tür. Zwei entzückende junge Damen stehen davor, beide eher klein gewachsen mit dunklen Locken. Die ganz kleine, sie ist vielleicht fünf Jahre alt, hält mir eine Sonnenblume entgegen. Die Große, ihre Mama, sagt: "Wir sind ja hier eingezogen und wollen uns kurz vorstellen!"

Leider kann ich nicht viel fragen, weil meine Stimme nach Zarah Leander klingt und der Hals sich so anfühlt, als sei ich der kleine Drachen Feuerschnief. Das werde ich auf jeden Fall nachholen.

Gefreut habe ich mich sehr, besonders an diesem ersten verregneten Oktobersonntag des Jahres. Die Sonnenblume ging auf. Tusch! Und Regenbogen!

Freitag, 27. Oktober 2006

Konkurrenz ...

... belebt das Geschäft. Hier entsteht was neu: http://www.neukoelln.tv/

Auf der Seite ist noch fast nichts, aber die Ankündigung klingt verheißungsvoll:

Gästebuch
Eintrag vom 21.10.2006, 21:34:40, Autor: Michael
"Endlich jemand, der mal zeigen möchte, dass Neukölln auch andere Seiten hat, als die in der Presse überwiegend Dargstellte. Neukölln hat mehr zu bieten. Zeigt es denen......"

Mein Weblog bekommt demnächst Fotos, vielleicht auch mal Bewegtbild. Später.

Und eine VORANKÜNDIGUNG
4.11.2006, ab 19.00 Uhr:
"Nacht und Nebel - Mit dem Chauffeur durch die Neuköllner Kunstszene"
www.nacht-und-nebel.info

Eine Kunstaktion im Kiez

Montag, 23. Oktober 2006

Neuköllner Ökonomie: Vera

Eigentlich hatte ich nur eine Schneiderin fürs Engmachen eines Jacketts gesucht, das schon immer zu weit ist. Dabei fand ich Vera.

Sie ist Modedesignerin, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt. Ihren Laden betreibt sie mit einer anderen Frau zusammen in Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg. Normalerweise ändert sie nicht, hier änderte sie meinen Blick auf Kleinstbetriebe.

Inmitten wunderschöner Modelle (manches lässt mich an Westwood denken, anderes an Jil Sander), die Vera alle selbst entworfen hat, sagt sie:

"Der Laden ist zu klein und zugleich zu groß. Zu groß, weil so viel Verwaltung zu tun ist. Zu klein, weil er nicht genug abwirft und ich mir keine bessere Lage leisten kann. Meine Partnerin strickt, ich nähe. Wir verkaufen nur eigene Modelle, hochwertige Boutique-Sachen. Nur fehlt uns hier die Kundschaft. Der Kanal zur einen und der Kottbusser Damm zur anderen Seite wirken wie Grenzen, die zu überqueren für viele nicht selbstverständlich ist."

"Die Kreuzberger und Neuköllner Kids, die hier zufällig reinkommen, wissen gar nicht, was das bedeutet, echte Wolle oder Kashmere. Sie wundern sich über den Preis, 300 Euro für einen Design-Mantel, und können Qualität nicht mehr erkennen. Wie denn auch, in ihren Plastikklamotten wissen sie nur, was Marken sind, dass die Klamotten aber aus China stammen und nicht viel taugen, ist ihnen neu, denn der nächste Modetrend sorgt dafür, dass die Sachen bald wieder abgelegt werden. Auch da geht ins Geld. Ein Mädchen hat mir erzählt, dass sie vor der Schule im Supermarkt hilft, um sich Kleidung zu kaufen, statt ausreichend zu schlafen, um in der Schule wach zu sein."

"Ab und zu kommt Kundschaft aus Zehlendorf oder Dahlem her. Die wissen genau, was ich verkaufe. Da gelte ich als Geheimtipp. Die sagen kaum was, fragen auch nichts. Aber sie kaufen. Ich sehe ihnen an, dass sie sich ins Fäustchen lachen über die 200, 300 Euro, die sie im Vergleich zu dem, was vergleichbare Ware in der Stadt kostet, gespart haben."

"Ich sitze hier fest, immer mit der Angst vor der Steuerprüfung im Nacken. Und vor der Frage: 'Wovon leben Sie eigentlich?' Manchmal weiß ich das selbst nicht. Ich arbeite meist 12 Stunden, manchmal habe ich keine Zeit für ein richtiges Mittagessen; und Licht im Schaufenster kann ich mir nicht leisten. Geht einfach nicht. Aber es gibt eh keine Laufkundschaft, die ich anlocken könnte, wie gesagt, die Gegend ist arm."

"Den Wandel im Kiez merke ich auch, es sind mehr junge Leute hier, Maler und Designer, Fotografen und Kunsthandwerker. Aber die haben ja auch kein Geld. Wie soll die Wirtschaft funktionieren, wenn lauter Leute, die vor allem eins haben, Ideen, sich gegenseitig was verkaufen sollen?"

"Das größte Desaster wäre, wenn das Finanzamt sagen würde, dass meine Arbeit nur ein Hobby sei. Das passiert dann, wenn ich längerfristig nicht genug Gewinn einfahre. Nicht nur, dass ich jetzt schon so arm lebe wie als Studentin, ich könnte den Laden dann ganz dichtmachen. Wenn das Amt eine Arbeitslose mehr haben will, brauchen die's nur zu sagen."

"In drei, vier Jahren wird der Kiez hier hip sein. Das Gute wird sein: Dann zieht Kaufkraft in den Kiez. Das Schlechte: Die Mieten steigen. Dann können Leute wie ich ihn uns nicht mehr leisten, es sei denn, die Verträge sind gut und laufen lang, aber neue Kreative werden's schwer haben. Wer's nicht schafft, muss weiterziehen, in einen neuen Kiez, der unten ist, und das Spiel geht von vorne los."

Sonntag, 22. Oktober 2006

Die Macht der Cineasten

In Deutschland leben mehr Cineasten als in Frankreich! Wetten?

Die Verwirrung hat ihren Ursprung in einem Übersetzungsfehler. Während in Frankreich nur die an der Filmherstellung künstlerisch Beteiligten Cinéasten genannt werden (mit Accent aigu), sind in Deutschland alle Filmliebhaber Cineasten (ohne Accent). Also Menschen, die Filme nicht nur konsumieren, sondern die kenntnisreich zu schätzen wissen, was auf der Leinwand geschieht. Sie lesen Filmzeitschriften und gehen auf Festivals. So findet man selbst zu Berlinalezeiten in Neukölln mehr Cineasten deutscher Herkunft als frankophone Filmschaffende in ganz Berlin.

Ein echter Cineast lebt im, durch und für das Kino. Die Generation um François Truffaut, Jean-Luc Godard und Agnès Varda lernte einander in der Cinémathèque Française kennen, zunächst waren sie nur Kritiker. Hier gab man sich auch als Tipp weiter, wer als Kameramann gut mit der neuen Technik umgehen könne. So wurde aus Raoul Coutard der "Fotograf" der Nouvelle Vague. Und aus den Filmliebhabern wurden Filmschaffende, aus Cineasten wurden Cinéastes.

Die Online-Enzyklopädie "Wikipedia" schreibt: "Cineasten tragen nicht selten einen wesentlichen Anteil dazu bei, dass aus manchen Filmen letztendlich Kultfilme werden." Das kann auch in Berlin passieren, und das liegt am ganz normalen Publikum. Denn in Cannes können interessierte Verleiher die Filme nur inmitten von Fachpublikum sehen, und das reagiert anders.
Cineasten verändern auch nachhaltig die Alltagssprache. In Frankreich vielleicht mehr als in Deutschland. Das geht schon mit dem Begriff "le septième art" los. Auf der anderen Seite des Rheins bezeichnet man als die siebente (der schönen) Künste die Filmkunst. Etliche Repliken sind Gemeingut geworden, und völlig unvermittelt können erwachsene Menschen heute ins Blödeln verfallen: "Bizarre, vous avez dit bizarre?" fragt der eine, lakonisch kommentiert vom andren: "Comme c'est bizarre!" Der Satz stammt aus der Kinderzeit des Tonfilms; Louis Jouvet sprach ihn in einem Film des vor zehn Jahren verstorbenen Marcel Carné ...

Eines haben die Liebhaber des Lichtspiels damals jedoch nicht verhindern können. In der dunklen (tausendjährigen) Epoche wurde selbst aus der Frage, wer denn das Kino erfunden habe, zum Zankapfel der damaligen "Erbfeinde". Hier standen die Berliner Gebrüder Skladanowsky mit ihrem Bioscop, das in einem Variété-Theater vor ziemlich genau 111 Jahren zum ersten Mal bewegte Filmbilder auf der Leinwand vorstellte; dort die frères Lumière mit ihrem Cinématographe und der Vorführung im luxuriösen Grand Café am Boulevard des Capucines im gleichen Jahr. Für die Nazis reimte sich das so: hüben die Arbeitersöhne, die kaum Geld hatten für Plakate, drüben die Industriellensprösslinge, die sich rund um die Uhr der Bewerbung ihrer Entwicklung widmen konnten.
Nimmt man die Ideologie weg, stimmt die Sache im Kern. Doch das Thema ist größer: Le cinéma war im fortschrittsbegeisterten Frankreich von Anfang an in Frankreich ein "salonfähiges" Medium, während sich hierzulande, wo mangels intellektuellem Zentrum vieles langsamer ging, sich die bewegten Bilder erst aus der leicht schmuddeligen Atmosphäre der Jahrmärkte und Variétés befreien mussten.

Was das jetzt mit dem Bedeutungswandel des Wortes "Cineast" zu tun hat? Vielleicht glauben in Deutschland viele, dass Filmliebe in direkter Linie aus Frankreich stammt?
Vive le Cinéma ! Atmosphère ! (Arletty)

(Wieder nichts über NK) Notizen einer Dolmetscherin

Gerade bereite ich ein Filmfestival in Süddeutschland mit vor, und zwar die meiste Zeit von Neukölln aus. Meine Gebrauchstexte schreibe ich in dieser Phase für das dortige Publikum ... Heute berichte ich aus dem Alltag eines meiner gelernten Berufe.

Es passiert auf jedem Festival mindestens ein Mal. Der ausländische Gast hat gesprochen, ich habe Notizen gemacht. Dann entsteht eine kurze Pause, ich sammle mich und lege los. Und merke es erst nach ein, zwei Sätzen: ich hab Französisch gesprochen! Das Publikum lacht, ich mit, und es geht wieder los. Diesmal auf Deutsch.

Seit dem Studium dolmetsche ich für Filmleute und auf Festivals. "Wie machst du das nur?" ist eine oft gehörte Frage. Die ich mir selbst nicht mehr stelle. Wenn ich aus dem Französischen ins Französische statt ins Deutsche übersetze, hat mich eine oftmals winzige Kleinigkeit abgelenkt. Das kann eine anspringende Lüftung sein, oder jemand, den ich kenne, verlässt das Kino. Oder ich habe eine Äußerung von Cinéast oder aus dem Publikum unterschwellig als Kritik aufgefasst. Ich bin verdammt verletzlich da vorne, auch mit jahrelanger Routine noch.

Wer dolmetschen will, muss zunächst die Sprachen sehr gut beherrschen. Und einen großen Wortschatz haben. Was ich (noch) nicht weiß, weil mir ein Thema neu sein mag, wird angelernt, Internet sei Dank gibt es heute keine Beschaffungsprobleme mehr. Manchen Gast kann ich mir im Netz bei France Culture vorab sogar anhören, mich auf Akzent und Sprechgeschwindigkeit einstellen. Das beruhigt ganz ungemein, denn alles, was ich als Vorbereitung mache, folgt dem Plan der Selbstberuhigung.

Denn im Grunde gibt es nichts Unnatürlicheres und Peinlicheres, als da vorne zu stehen und etwas zu sagen, das bereits gesagt worden ist. Ich habe Jahre gebraucht, um meinen inzwischen geliebten Nebenjob als konkrete Dienstleistung zu interpretieren. Ich muss die Fragezeichen in den Augen meiner Kundschaft sehen, sonst bin ich nicht gut. Das ist auch der Grund, weshalb ich mehr Publikumsgespräche dolmetsche als simultan in der Kabine: Die Nähe.

Daneben gilt es die sprachliche Hemmschwelle zu überwinden. Wie viele Zweisprachige habe ich die Sprachen als ein jeweils eigenständiges System gelernt, in dem sich Erklärungen und Vergleiche immer nur auf Begriffe aus der jeweiligen Sprache bezogen. Beim Dolmetschen geht es aber nicht um Synonym oder Gegensatz, sondern um die möglichst exakte Entsprechung in der anderen Sprache. Als ich 1989 zu dolmetschen begonnen habe, war mir, als müsste ich die Vokabeln beider Sprachen noch einmal lernen. Nein, nicht beide Sprachen: Die Verbindungen zwischen ihnen.

Diese Verbindungen waren in meinem Bewusstsein untergründig schon da, aber eben nicht aktiviert, nicht bewusst. Den zweiten Sprachstrom als etwas Alltägliches zu erfahren und wie auf einem Videoband zwischen "Spur 1" und "Spur 2" hin- und herzuspringen, das ist im Grunde der ganze Aufwand. Und natürlich das permanente Suchen und Notieren von Vokabeln. Manches wird in der einen Sprache nicht substantivisch, sondern als komplizierte verbale Konstruktion ausgedrückt. Oder aber es gibt diesen oder jenen Begriff in der anderen Sprache nicht - also muss ich übertragen, kurz den Kontext anreißen. Aber nur kurz, sonst bremst diese Geste und das Publikum hat zu Recht den Eindruck, Sachen zu hören, die gar nicht gesagt worden sind.

Dolmetschen ist also immer ein Abwägen. Wie gehe ich damit um, wenn ein Sprecher sich x-fach wiederholt? Was mache ich mit den fünf Adjektiven, die er oder sie so schnell runterrattert, dass ich nur drei davon behalten habe? Ich kürze geringfügig, fasse zusammen. Und wenn ich gar nicht mehr mitkomme, darf ich nachfragen. Denn auch das Jonglieren von Mikro, Stift und Stenoblock raubt Aufmerksamkeit. Ich schreibe übrigens keine Steno, sondern zeichne in eigenen Kürzeln die wichtigsten Begriffe auf. Wobei ich Sie, geneigtes Publikum, manchmal auch kurz warten lasse: Wenn der ausländische Gast fertig gesprochen hat, notiere ich oft noch den letzten Gedanken. Denn auf die Pointe will ich nicht verzichten.

Und hier ist sie: Was ist der Unterschied zwischen Dolmetschen und Übersetzen? Sie werden das nie wieder verwechseln: Übersetzer übertragen Texte, sie schreiben also. Wenn Übersetzen Handwerk ist, ist Dolmetschen Mundwerk.

Samstag, 21. Oktober 2006

Der Apparat

Der vor 50 Jahren gestorbene Bert Brecht forderte, der Rundfunk solle als Kommunikations-, nicht nur als Distributionsapparat genutzt werden. Das war in den 30er Jahren.

Mehr als siebzig Jahre Lärm später - erst kamen die Bomben, dann die Dauerbeschallung - ist Brechts Traum wahr geworden. Fast. Das Netz funkt zurück, in den Sendeanstalten geht die Angst vor der Entmachtung um. Zu Recht.

Nicht nur via Netz und Quote, auch sonst ist der User/Leser/Zuschauer plötzlich wichtiger geworden. Indes, die neue Zeit findet zunächst überwiegend in den Printmedien statt. Was wir als Zwischenstadien erleben, ist zugegebenermaßen manchmal etwas unappetitlich, ich denke an die BILD-Leserreporter, die Promis im Urlaub auflauern, auf dass deren Glanz auf sie abfärbe.

Aber selbst Journalisten wie Johan Hufnagel, stellvertretender Chefredakteur der französischen Libération, die einst wie die taz als Kollektiv anfing, Hufnagel also schwört schon seit 1995 auf sein "Forum", das Lesern mehr Raum als andere Zeitungen für Meinungsäußerung anbietet.
Inzwischen veröffentlicht Hufnagel auch Fotos, die Leser von diversen Ereignissen geschossen haben. Und verteidigt dies so: "Wir bringen sonst nur Bilder aus Paris, denn in der Provinz haben wir kaum Korrespondenten. Und es stimmt einfach nicht, über einen nationalen Aktionstag mit Demos nur die Ausschreitungen abzubilden und nicht das, was die meisten Menschen erlebt haben: fröhliche, farbenprächtige Demos mit witzigen Slogans zum Beispiel."

Das Phänomen wird "Bürgerjournalismus“ genannt, die Medien reflektieren dessen Ausmaße bislang eher mit einem abwertenden Unterton (siehe Tagesspiegel vom 13.9.06). Anders 'lese' ich diese Tatsache: Nicht nur Privatpersonen, auch Zeitungen haben ihren WebLog. In Deutschland, erzählen sich Medienwissenschaftler, werde die WebLog-Parallelausgabe des Trierischen Volksfreund häufiger angeklickt als die Zeitung selbst. Hintergrund: Die Redakteure stellen auch ihre Cutouts hier ein, kommentierten mit Meinung, und genau das werde gesucht: Meinung, nicht formatierte Info, die oft einer nicht kenntlichen Verlegermeinung folge. Soweit die Medienwissenschaftler.

Das Output des geneigten Publikums wird auch vom Hörfunk aufgenommen. Samstags sendet Inforadio (rbb) die Sendung "Druck und Blog", ein fester Programmplatz, in dem in der "Presseschau" zur Weltpolitik aus WebLogs ztitiert wird. Hier kommen zur besten Haushaltssendezeit (13.45 Uhr) aber auch Fachleute zu Wort, die über die Veränderung der Medien durchs Zurückfunken nachdenken: Die Deutungshoheit der Wirklichkeit sei das erste, was die Medien einbüßten, habe ich gerade noch gehört, als ich zufällig auf die Sendung gestoßen bin.

Die "Bürgerjournalisten" genannten Laien werden immer mehr Output liefern. Wie können die etablierten Medien kontern? Auf den gestern zuende gegangenen Münchener Medientagen, die eine Kollegin besucht hat, sei das Credo gewesen: Die Journalisten müssen noch mehr arbeiten. Man ging unhinterfragt davon aus, dass Journalisten die bessere Qualität abliefern würden. Die freien Journalisten im Saal kommentierten das indes so: "Wir arbeiten längst mehr, da ist keine Luft mehr drin. Wir brauchen nach einem Jahrzehnt reeller Honorareinbußen endlich wieder eine bessere Bezahlung." (Danke, Annette.)

Es scheint die alte Frage nach Henne und Ei zu sein. Wer hat das Geld, wer zahlt für Qualität (oder doch nur für Masse) und wo fließt es hin?

Kommenden Montag wird Libération möglicherweise nicht ausgeliefert. Die Druckereien blockieren, denn sie haben seit dem Sommer kein Geld gesehen. Die Zeitungskrise ist ein anderer Aspekt unseres veränderten Umgangs mit Informationen. Und sie bedroht zu allererst die Kleinen. Fortsetzung folgt.


@ Marwan: Vielleicht solltest du die taz doch nicht abbestellen, schreib lieber der Redaktion, was dich nervt.

Freitag, 20. Oktober 2006

3 x 5 (Kleine Übung, um Wartezeit rumzukriegen)

Fünf Dinge, die ich gerade nicht habe, aber gerne hätte:
- Mehr Ruhe, Entspanntheit und Besinnung für mich und meine Lieben
- Zur beruflichen Anerkennung IMMER das entsprechende Honorar (manchmal klappt's schon)
- Eine, vielleicht sogar zwei weitere Sprachen
- Die Fähigkeit, zaubern zu können (damit Listen wie diese hinfällig werden)
- Ein tolles (eigenes) Haus in bester Lage, renovierter Altbau

Fünf Dinge, die ich habe, aber lieber nicht hätte:
- Sorgen um unser Bildungssystem
- Meinen Wohnsitz in einer Gegend mit acht Monaten Schmuddelwetter (oder fast)
- Schmutzige Fensterscheiben zum Hof
- Mehr Einfälle als Zeit, diese auszuarbeiten
- Lärmende Nachbarn

Fünf Dinge, die ich nicht habe und auch nicht haben möchte:
- Die Gesichtsfalten von Angela Merkel
- Einen präpotenten pickeligen Teenager im Haus (aber kann sich keiner aussuchen)
- Einen Sprachfehler
- Eine Schrankwand
- ?

Donnerstag, 19. Oktober 2006

Verbindungsgebrüll

Als Textfrau hänge ich von meiner Leitung zur Außenwelt und der Qualität der Quellen und Gesprächspartner ab. Letztere kann ich (durch Recherchen) beeinflussen, ersteres nicht. Seit Wochen rauscht es in der Leitung, meist nur bei mir. Ob die Nagetiere, die seit der Fassadenenovierung hinter der Verkleidung sitzen, daran Schuld sind?

Manchmal führt das Grundrauschen zu ganz merkwürdigen Verzerrungen. Wie mit dieser Mail geschehen, die ich vor kurzem bekam:

"DRINGEND!

Es erscheint, dass Ihr Konto von einem nicht bevollmächtigten Dritten zugegriffen wurde. (...) Zusätzlich kann die Email-Adresse Ihretwegen herumhantiert worden sein. (...) Wenn Ihr Konto in jener nicht bevollmächtigten Tätigkeit, wie Schlagseite habende Einzelheiten oder stellende Gebote verwendet wurde, ist diese Tätigkeit ohne Vorfall gestrichen worden. Irgendwelche eng verbundenen Gebühren wurden Ihrem Konto kreditiert. Wir versichern Sie, dass Ihre Kreditkarte-Information auf einem sicheren Server versorgt wird und von niemandem angesehen werden kann.

Um Kontrolle Ihres Kontos wiederzugewinnen, klicken Sie bitte auf das Verbindungsgebrüll."

Mittwoch, 18. Oktober 2006

(aus dem Notizbuch) Küsschen!

Eigentlich ist das Ganze ziemlich komisch: Die Köpfe der Beteiligten kommen sich näher, dann weichen sie, um nicht mit den Nasenspitzen aneinanderzustoßen, ein wenig zur Seite aus und nähern sich von dort der Wange des Gegenübers, die kurz und zart touchiert wird. Nach einem (leisen!) Kuss in die Luft wird das Procedere mit der anderen Backe wiederholt. Wenn beide zu lange zögern oder die Koordinierung nicht stimmt, stoßen die Nasen aneinander. Spätestens jetzt sind ein paar Worte über das Wie und Warum des Zeremoniells « la bise » fällig.

Kuss. Schon die Urchristen sollen den Kuss als Begrüßung gekannt haben, daraus wurde dann der heilige Kuss, aber das ist eine andere Geschichte.
Klar ist, Küssen verbindet, das Gefühl kurzzeitiger körperliche Nähe auch. Dabei nehmen die Küssenden die Witterung auf. Erschnuppern den Reinlichkeitsgrad des anderen, aber auch die Qualität von Parfum oder After Shave. Und Rezeptoren in der Nase prüfen kurz, ob die Gene des Gegenübers im Fall der Fälle zum eigenen Erbgut passen würden. Die Natur will stets alles neu mischen, nur unterschiedliche DNAs werden als angenehm empfunden. Ist das nicht so, können wir "den anderen nicht riechen", im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir klären ab, ob die Luft rein. Ist mein Gegenüber entspannt oder gestresst, führt er oder sie etwas im Schilde?
Das zu wissen war für die frühen Christen überlebensnotwendig.

Küsser. Im Frankreich Ludwigs des Vierzehnten, nachdem dieser 1685 den Toleranzedikt von Nantes widerrufen hatte, galt die Anzahl der Küsse insgeheim als Erkennungszeichen der Hugenotten. (Sie küssten sich drei Mal, im Gegensatz zu den zwei Küssen der Katholiken.)
Heute entscheidet nicht die Religion, sondern die Region darüber, wie oft geküsst wird: a) in Paris, im Elsass und in Toulouse sind es zwei Küsse; b) unter Pariser Studenten und im Languedoc wird dreimal geküsst); c) im Westen Frankreichs und in etlichen Pariser Vororten oft sogar vier. Das erklärt sich wie folgt: a) In grenznahen Gegenden (terrestrische Grenze) verliert sich der Gebrauch (im Elsass ist man schon auf halbem Weg nach Hohenzollern); b) bei Pariser Studenten ist der Flirtfaktor groß, ergo braucht die Erspürung des originären Aromas mehr Zeit; c) im Westen und Südwesten gibt es viele Urlaubsregionen, also wird auch intensiver geflirtet; und in der Banlieue muss man sich seiner Gruppenzugehörigkeit stets aufs Neue versichern - und der harmlosen Absichten des Gegenübers.
1685 wanderten viele Hugenotten aus, auch nach Preußen, den Kuss haben sie einst leider nicht mitgebracht.

Küssestens. Jetzt ist « la bise » auch immer öfter in Deutschland zu beobachten. Was die Frage, mit welcher Wange es losgeht, wichtiger werden lässt. Feste Regeln dafür gibt es nicht, das entscheidet meist der dominante Part der Begegnung. Die meisten fangen auf der linken Seite an und machen dafür die Vorherrschaft der Rechtshänder in unseren Kulturen verantwortlich. Auch wichtig: Nicht jeder küsst jeden. Man muss einander schon einmal vorgestellt worden und sympathisch sein - oder aber man ist verwandt. Frauen küssen sich öfter untereinander als Männer. Den Chef/die Chefin küsst man nicht, es sei denn, die Firma ist klein oder das Geschäftsfeld besonders hip. Im Ausland führt « la bise » interkulturell ungeübte Franzosen unter Umständen auf rutschiges diplomatisches Parkett. Man stelle sich einen Politiker oder Ökonom vor, der es wagen würde, the Queen zu küssen oder sonst irgendwie zu berühren - oder Mister President oder den Parteivorsitzenden von China! Absolutely shocking!
Witzig dagegen die Variante, die aus einer Irritation entsteht: In Deutschland lebende Franzosen oder französisch sozialisierte Deutsche zögern manchmal zwischen Pfötchengeben und der « bise ». Dann wird eben doppelgegrüßt: Die Hände schütteln sich, während der Kopf:
Cous-cous!,
Caroline

P.S.: Geschriebene Küsse sind Gespensterküsse. Franz Kafka

Montag, 16. Oktober 2006

Kleine Gäste zum Tee die Zweite

Gegen Mittag komme ich von der Post, ein Paket abholen, das angeblich Freitag Vormittag nicht zugestellt werden konnte - obwohl ich da war, aber das ist eine andere Geschichte.

Auf der Straße, direkt am Hauseingang, lungert wieder eine kleine Nachbarin rum, Sevim, aus dem Nachbarhaus, und ihre Freundin. Sie gehen in die fünfte Klasse. "Heute sind zwei Stunden ausgefallen, und ich hab den Schlüssel vergessen. Meine Mutter kommt erst kurz nach zwei." Die Mädchen sehen trotz des sonnigen Wetters durchgefroren aus. Sie hatten sich zum Schulaufgaben machen auf den Gehweg gehockt.

Und schon hab ich wieder zwei Besuchskinder. Wir essen Marmeladenbrote, dazu gibt es Minz-Lakritztee. Dann machen die beiden am Esstisch im Wohnzimmer Hausaufgaben. Zwischendurch sehen sie sich Wohn-, Arbeitszimmer und Flur an. Im Flur bestaunen sie meine Bücherregale, es sind etliche Meter.

Sevim: "Können sich hier alle Bücher ausleihen?"
Ich verstehe nicht ganz: "Wie meinst Du das?"
Sevim: "Na, Du hast doch eben gesagt, dass es eine Bücherei ist!"
Ich denke nach, versuche, im Geiste zurückzuspulen, was ich gesagt habe. Aber klar, ich habe von "der Bibliothek" als der Gesamtheit meiner Bücher gesprochen. Ich erkläre mich. Sevim nickt.

Etwas später fragt sie: "Hast Du die alle gelesen?"
- "Nein", muss ich ehrlicherweise gestehen. "Aber ich weiß, was drinsteht."
- "Wie geht denn das?"
Und nach einer kurzen Nachdenkpause: "Kannst Du hellsehen?"


P.S.: Jede Woche fallen an deutschen Schulen eine Million Unterrichtsstunden aus. Quelle: ZDF

Sonntag, 15. Oktober 2006

(Paris) Die Bannmeile brennt

Vor bald einem Jahr begannen in Paris die Revolten in den Vorstädten: Jeden Tag brachten die Nachrichten Bilder von brennenden Autos und Supermärkten, Berichte über Straßenschlachten und Tote. Die "Banlieue" (wörtlich übersetzt: "Bannmeile") wird wohnblocksweise fast ausnahmslos von Migranten bewohnt. Und ihre arbeitslosen, unterbezahlten, schlecht oder oft gar nicht ausgebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen forderten den Staat zu einer Art Bürgerkrieg heraus.

Vor sechs Jahren habe ich für Arte in Mantes-la-Jolie gedreht, einem jener Vororte, in dem es vor 12 Monaten heiß herging. 2000 hatten wir dort drei junge Muslima portraitiert, die damals gerade ihr Abitur gemacht haben. Sie wollten studieren, und zwar gesellschaftlich relevante Fächer wie Wirtschaft und Jura.

Frühsommer 2005 schrieb ich Arte. Wir wollten mit der Kamera nachsehen gehen, was aus den jungen Damen und ihren Hoffnungen auf die Zukunft geworden ist. Mitte Oktober 2005 dann die Antwort: " ... leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir an Ihrem Angebot nicht interesiert sind. Für Arte sind die Pariser Vororte in der nächsten Zeit kein Programmschwerpunkt. Zum Thema "Migration" haben wir außerdem schon einige Filme für 2006 programmiert."

Wenige Tage später, am 27. Oktober 2005, brachen in den französischen Vorstädten die heftigsten Jugendkrawalle seit Jahrzehnten aus. Drei Wochen lang schauten die Medien auf die franösische Banilieue. Und heute?

Zwei türkische Freunde aus "Westberlin"

Sonntag am Hafen. Im Westen, eine kleine Spazierroute von der Stadtschreiberwohnung entfernt, liegt der Urbanhafen. Hier wurden einst Lastenkähne gelöscht, die Waren und Baumaterial nach Berlin reinbrachten. Jeder zweite Stein, aus dem Berlin erbaut wurde, kam über dem Wasserweg in die Stadt.

Heute sind dort, wo einst das Hafenbecken war, eine Wiese, ein Weg und ein Restaurantschiff mit Terrasse. Hier sitze ich am frühen Sonntagabend mit Zahra, einer deutsch-türkischen Psychologin aus Wedding. Sie erzählt mir von ihrer Kindheit in Westberlin. Im Schatten der Mauer schien auch für sie vieles einfacher. Wichtigster Unterschied zum heutigen Aufwachsen in den sogenannten Problemkiezen sei sicher gewesen, so Zahra, dass es in den siebziger Jahren schlicht noch nicht so viele Kinder von Migranten gab.

"Und die Stimmung war allgemein optimistisch", sagt Zahra. "Etliche aus meiner Grundschulklasse sind mit mir zusammen aufs Gymnasium gekommen, das war nichts besonderes. Auch in den 80ern noch nicht, das war Ergebnis der Bildungsoffensive und der Chancengleichheit der Siebziger. Irgendwie schien immer klar, dass es der nachwachsenenden Generation besser gehen würde, als der vorhergehenden. Diese positive wirtschaftliche Erwartungshaltung teilten alle."

"Die Schulwahl habe ich nicht als kompliziert erlebt. Und so gingen eben jene, die später mal die Bäckerei der Eltern übernehmen sollten, in die Hauptschule, andere kamen auf die Realschule, die Lehrstelle und der Job im Anschluss waren kein Problem. Wir anderen lernten weiter in der Schule, wir hatten die Wahl. Und ich hatte im Gymnasium auch türkische Mitschülerinnen, die mit Kopftuch zum Unterricht kamen. Das war vor dem 11. September kein Politikum. Es war kein Statement, sondern nur Tradition der Familie, und natürlich haben sie es zum Sport, bei dem wir ja unter Mädchen waren, abgelegt, das war nie ein Problem."

"Soweit ich das sehe, demotiviert heute die Jugendlichen vor allem die Perspektivlosigkeit, die sie sehen und über die fast alle Medien berichten. Sie haben das Gefühl, dass die Anstrengungen nicht lohnen, wenn am Ende doch eine Hartz IV-Situation steht, denn was sie bei ihren Eltern sehen, prägt natürlich auch sie..."

"Ich bin sicher nicht repräsentativ, aber auch keine Ausnahme. Mein Vater kam zum Studium aus der Türkei nach Berlin. Und von uns vier Geschwistern haben drei studiert. Was mich derzeit am meisten nervt, ist, dass die Medien seit 2001 vor allem auf das Problematische bei islamischen Menschen focussieren, die journalistische Sprache ist ganz offensichtlich viel drastischer geworden."

Und ich erzähle ihr von meinem "alten Journalistenkollegen" Yasin, der gar nicht so alt war, als wir uns vor über 10 Jahren bei einem ARD-Sender kennengelernt haben, auch er stammte aus Westberlin. Der studierte Historiker war einige Jahre jünger als ich. Und er war verdammt gut und ebenso charmant, dieser Sohn eines Deutschlehrers und Gewerkschaftlers aus Istanbul. Ich habe ihn im Sender immer wieder ins Gespräch gebracht, ihm Tips gegeben, ihn ermutigt. Wenn die Auftragslage mau war, hat Yasin nachts in Bars die kompliziertesten Drinks gemixt. Seine Bewegungen waren so elegant wie die eines Balletttänzers, sein sportlicher Körper zog die Blicke auf sich. Den Rest machte er mit seinem Lächeln, alle schienen ein wenig in ihn verliebt, Männlein wie Weiblein. Yasin kam seltener in den Sender. Ich beriet ihn noch ein wenig, als er ein Drehbuch schrieb. Dann schlug die Welle des Erfolgs über ihm zu.

Heute managed er mit großem Erfolg mehrere Berliner Restaurants: ein Verlust für unsere Medien. Aber er entsprach offenbar mehr den Vorurteilen, die man einem jungen deutsch-türkischen Gastwirt gegenüber hat als dem Image des multikulturellen Journalisten.

Als wir nach Neukölln gezogen sind, sagte Yasin übrigens entsetzt: "Was, ihr zieht zu den Kanaken?" Er lebt in Tempelhof, der Schule seines Sohnes wegen, den er zusammen mit seiner deutschen Freundin aufzieht.

Berlin ist zur Hälfte aus Steinen erbaut, die aus der Ferne herbeigeschafft worden sind. Und die heutige Stadt bauen auch jeden Tag Menschen weiter, deren Vorfahren aus der Ferne kamen.

Samstag, 14. Oktober 2006

Herbstanfang

Mittwoch fuhr ich im Auto von Süddeutschland nach Berlin. Hinter Halle hing der Nebel in der Landschaft wie ein riesiges Tuch über die enorm großen Acker der einstigen LPGs gespannt. Wir dachten zunächst an die alten Tage, an Leuna und Buna, das Chemiedreieck, in dem es manchmal Schwefel regnete. Aber es war nichts als harmloses Wasser, nichts als harmlose Wolken, durch die wir fuhren. Alles war grau und kalt. Wir waren froh, als wir wieder draußen waren. Am Abend ließ uns das Berliner Licht fast noch an Spätsommer glauben.

Das Grau war Freitag hinterhergekommen, dabei war die Luft noch mild. Seit heute ist auch die Kälte da. Selbst in der Mittagsstunde stehen beim Ausatmen kurz kleine Wölkchen vor dem Mund.

Aber der Herbst hatte schon am Hiroshimatag begonnen: Jedes Jahr um den 6. August fliegen die Mauersegler in den Süden. Im August wird der Sommer still. Die Vögel hören auf zu balzen und widmen sich dem Nachwuchs.

Nur heute, da ist es noch einmal laut. In der Trauerweide an der Ohlauer Brücke, dort, wo noch vor wenigen Tagen der Eiswagen von Carsten gestanden hat, sitzen Vögel im Baum. Viele Vögel. Der Baum ist plötzlich dunkel von ihrem Gefieder. Und sie machen Rabatz, großen Rabatz. Er klingt fröhlich, der Vogelbaum, wie eine Art Klassentreffen. Und gleich geht es auch hier ab in den Süden.

Wenig später ruft M. an. Er ist aus Rom zurück und erzählt von 25 Grad. "Kein Wunder, dass die Römer nicht an so kalten Gefilden wie den unseren interessiert waren." Es wird Zeit, dass wir uns mal wieder treffen, damit er mir eine Arie vorsingen kann. Und wo hatte ich nochmal die Tageslichtlampe aus Skandinavien verstaut?

Freitag, 13. Oktober 2006

Neue Berliner Ökonomie (Theorie)

Wie leben wir heute, wie wollen wir morgen leben? Ich komme viel rum und weiß: Alltag und Lebensgefühl sind an den verschiedenen Orten Europas zum Teil extrem unterschiedlich. Entsprechend ausdifferenziert auch die Wünsche: die einen wollen (endlich/wieder/für immer) mehr bekommen, die anderen nichts (oder nicht mehr) verlieren.

Das Land verbindet augenscheinlich eins: Angst vor der Zukunft. Da verwendet ein Ökonom in einem Zeitungskommentar den Begriff "Gefahrentarife" und summiert auf, welche Festkosten sich bei eventueller Entlassung durch (bald inkrafttretende) Gesetze ergeben. Wenn bei Einstellung neuer Kräfte die einzige Sorge zu sein scheint, wie man sie 'kostenneutral' wieder los wird, wenn also im Moment des Aufbruchs das mögliche Scheitern als Bild alles andere überstrahlt, stimmt was nicht im Staate Dänemark. (Was mir immer dann besonders auffällt, wenn ich im Ausland nur gutes Feed-back zu Deutschland bekomme, das weiterhin das Image eines starken Exportlands hat - was der mit gutem Wetter, guter Laune und gutem Fußball verbrachte Sommermonat weiterhin verbessert hat.)

Im Lande selbst wird viel gejammert. Berliner Eltern klagen über die Schulen und sehen dort schon Ein-Euro-Kräfte zur nachmittäglichen Beaufsichtigung einrücken (Furcht? Realität?), wo doch die Nachmittagsunterricht neue Lehrangebote und bessere Bildungschancen bringen sollte. Aber wenn der Staat qualifizierte Kräfte nicht angemessen zu honorieren vermag ... (siehe: "Frauen auf dem Spielplatz").

In Tübingen war letzte Woche das Hauptgespräch in der Schlange beim Biobäcker, dass "der Daimler" sein Kultursponsering abgeschafft hat und auch Fabrikarbeiter entlassen wird. In Stuttgart hörte ich in der Straßenbahn, wie eine Tochter ihren Eltern von einem neuen Arbeitsvertrag erzählte. Mir schien, die Altvorderen hörten gar nicht richtig zu: "Hauptsache, Du hast dann bald was Festes!", sagten diese. Und sie fingen an über den Osten zu hetzen, der uns alle so viel gekostet hätte, dass jetzt alles bergab ginge. "Die DDR hat uns mit der Krise angesteckt!"

So klar, so offen, habe ich das in "Westdeutschland" (wie eigentlich nur noch 'alte Westberliner' sagen) noch nicht gehört.

Zurück nach Neukölln. Hier ist die Krise schon weiter, berufserfahrene und studierte Köpfe denken über die Folgen nach. Wir sind im "Kieztreff" in der Nachbarschaft. Ein Ladengeschäft wurde mit einfachen Mitteln zu einem kleinen Restaurant umgebaut, das jetzt ein Verein (1) dank EU-Förderung betreibt. Hier wird werktäglich zum Selbstkostenpreis ein ausgewogenes Mittagessen angeboten, hier essen neben Rentnern und Arbeitslosen viele Studenten, Maler, Ein-Euro-Jobber, Betreiber kleiner Geschäfte, Handwerker, Übersetzer, freie Journalisten. Etliche von ihnen sind Teil der "Neuen Berliner Ökonomie", der Klein- und Kleinstbetriebe, der Parallelwirtschaft ohne Geld, des "Dritten Sektors" von Stiftungen, Sozialwerken und Vereinen.

Die Stimmung in der "Kantine", wie viele den Ort nennen, ist offen und freundlich, man kommt schnell über den Tisch hinweg ins Gespräch. Hier einige Stichpunkte eines etwas anderen 'deutschen Stammtischgesprächs'.
Da sagt Andy (2) , Architekt und (nach eigener Pleite) jetzt Ich-AGler im Handwerksbereich: "Das ganze Problem ist der Zinseszins. Dadurch wachsen die Schulden auch ohne weitere Verschuldung weiter. Wir werden bald auch in der westlichen Welt ein Zinsmoratorium brauchen, wie es für manche Dritteweltländer schon gilt. Oder gleich einen Schuldenerlass, denn immer größere Kreise der Bevölkerung stecken in der Zinsfalle, aus der sie nicht mehr rauskommen. Und das Geld fließt in großen Mengen immer schneller an die Spitze." (In den nächsten Tagen wird Andy mir das detailliert vorrechnen, ich freu' mich drauf.)

Thomas arbeitet in einem Kiez- und Internetcafé, das auch ein Ergebnis des Quartiersmanagements ist: "Wir beobachten hier, wie eine geldlose Parallelwirtschaft entsteht. Die Leute wissen sich zu helfen, viele sind gut ausgebildet, der Naturalientausch blüht auch in Sachen Dienstleistungen. Manche nennen das Schwarzarbeit, aber wenn kein Geld da ist, dafür Zeit und Können, müsste das eigentlich Selbsthilfe heißen. Und es gibt auch immer mehr kostenlose Angebote. Zum Beispiel unser Internetcafé. Rechner sind genug gekauft worden, die Flat ist nicht teuer, die Miete gering. Das Know-how haben wir selbst. Also werden hier Infos getauscht, Mails gecheckt, Pläne gemacht. Wir etablieren uns im Schatten der großen Geldwelt mit kleinen Summen. Gesamtwirtschaftlich gesprochen: Hier fallen immer mehr Leute als Konsumenten aus. Das geht für uns als Zwischenlösung, in Berlin kann man noch recht gut und ohne sozial isoliert zu sein mit wenig Geld auskommen. Die große Frage ist aber: Was will die Industrie machen ohne Käufer?" Auch Thomas werde ich bald mal länger sprechen.

Werner promoviert im Kiez. Er komme fast täglich in die Kantine, sagt, er, denn er wohnt im Nebenhaus. Als Ökonom, der an mehreren Hochschulen studiert hat, weiß er: "An deutschen Unis lehren fast nur noch Liberalisierungsbefürworter. Der Name Keynes kommt nur noch selten vor." Das Gleiche gelte auch für die deutschen Eliten in Wirtschaft und Politik, wie er gerade bei Albrecht Müller lesen würde (3). Und er erklärt einer Großmutter und Leonie, ihrer Enkelin im Teenageralter, am Beispiel zweier Geschäfte und der Schule im Kiez, was Keynesianismus bedeutet. Dazu liefert die sechzehnjährige Leonie Beispiele, zum Beispiel den Zustand der Schule, an der, seit ihre Tante sie besucht hat (vor 15 Jahren), nur noch das Wichtigste repariert worden ist.

Paula kommt hinzu. Sie studiert eigentlich in Florenz Politikwissenschaft, nachdem sie ein deutsch-französisches Diplom abgelegt hat. Jetzt schreibt sie in Neukölln das Exposé zu ihrer Doktorarbeit über die Veränderung der Arbeitswelt. Und sie referiert ihre neueste Lektüre, ein Buch des in London lehrenden Soziologen Richard Sennett. Laut liberaler Wirtschaftstheorie kurbele die Verringerung von Verwaltung, Gesetzen und der Staatsausgaben die Wirtschaft an. Gleichzeitig könne mehr Qualifikation zu mehr Arbeit führen und damit zu mehr Konsum. Das Schlagwort, mit dem uns das Ganze verkauft werde, sagt, Paula, heiße "Freiheit". Sie war, als die Mauer fiel, ein Teenager und ist in Ostberlin aufgewachsen. "Ich werde immer hellhörig, wenn jemand das Wort "Freiheit" verwendet, ich erinnere mich zu gut an die Mauer, an das Misstrauen, den Nachbarn gegenüber, an die Kontrolle in der Schule. Aber was soll in der jetzigen Situation "mehr Freiheit" bringen? Frei ist man oder man ist es nicht."

"Wie soll ich bitte zu guter Bildung kommen?", fragt Leonie, "wenn die Schule teilweise nicht mehr benutzbar ist und ich demnächst für die Uni Studiengebühren zahlen muss? In Deutschland macht man alles nur halb. Die führen Gebühren ein, aber keine Stipendienprogramme." Und, später, nach einigem Nachdenken: "Wie soll das überhaupt zusammenpassen, Verringerung der Staatsausgaben und bessere Bildung?"

Paula nickt. Dann erklärt sie Sennetts Beobachtungen, dass permanent drohende Arbeitslosigkeit, häufiger Job- und Ortswechsel und die Abwertung ihrer Vorerfahrungen die meisten Menschen unterminieren würden. Sie habe bei Praktika Unternehmen kennengelernt, in denen das "Firmenklima" hauptsächlich aus Angst bestehe. Alle hätten dauernd mehr Leistung liefern müssen, wären kaum gelobt worden. Das, so Sennett, entwurzele die Menschen. Sie fänden sich durchgängiger Biografien und nicht zuletzt ihrer Würde beraubt.

Sie selbst erinnerten die Schlagworte der Liberalökonomen, die wie Glaubenssätze immer nur leicht variiert zu allem und jedem fallen, an die Dogmen in der DDR, "das Verbot zum Weiterdenken inbegriffen." Und ihre Eltern, sie lebten noch heute im evangelischen Pfarrhaus im Brandenburgischen, dächten dasselbe.

Ihr gegenüber sitzt Hanka. Die Mittfünfzigerin hat als Sozialpädagogin jahrelang Mobbing-Opfer betreut. "Jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland hat innerlich gekündigt. Viele machen das, was man ihnen von oben aufträgt zu tun, auch wenn sie genau wissen, dass es nicht greift. Ihre Erfahrungen hat sie oft zu Spezialisten werden lassen, aber so, wie die Macht verteilt ist, klappt es nicht, dieses Wissen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Dahinter stecken Unternehmer, die selbst Angst haben, denn angstgesteuerte Manager haben auch Angst vor Kritik. Ergebnis: Die Unternehmen verkalken und erstarren. Am Ende holen sie teure Berater von außen, weil ihre Chefs das Offensichtliche nicht mehr wahrnehmen. Die Berater sind oft junge Schnösel von irgendwelchen europäischen Managementschulen, die keine Berufserfahrung mitbringen. Sie gehen nur über Zahlen und durchschauen das Geflecht aus Informationsstau und Fehlplanung nicht, wie denn auch. Sie schlagen dann vor, verlustbringende Unternehmensteile zu schließen, Entlassungen werden ankekündigt, Börsenkurse steigen. Die Manager fühlen sich bestätigt: Sie haben wieder mal alles richtig gemacht. Und bekommen am Ende noch eine Prämie."

Und wie ist das nun mit der 'Neuen Berliner Ökonomie' hier im Kiez? Mit den Ich-AGs, den kleinen Geschäften, Handwerksbetrieben, dem Tausch von Waren und Dienstleistungen? Vieles entsteht mit Anschlubfinanzierungen eines Staates, der sich hier noch nicht zurückgezogen hat. Sind die Firmen, sozialen und kulturellen Projekte überlebensfähig, wenn eines Tages Förderungen auslaufen? Oder gibt es einfach Bereiche, die immer gestützt werden müssen? Wenn ja, wie groß ist die Rentabilität der Investitionen, mit welchen Summen werden wie viele Menschen erreicht, wie groß ist der Verwaltungsanteil? Und was leisten diese Strukturen in Sachen Aus- und Weiterbildung? Lässt sich der Wert der Waren und Dienstleistungen, die hier getauscht werden, bilanzieren? Wie groß ist der ökonomische Beitrag im Verhältnis zur Investition?

Die Praxis der "Neuen Berliner Ökonomie" schaue ich mir in den nächsten Monaten genauer an, ich freue mich aufs genaue Hinsehen, die Stichworte aus dem Wirtschaftsteil unserer Zeitungen stets im Hinterkopf. Und darauf, über die Grenzen der neokapitalistischen Modelle hinauszudenken. Was bedeuten das soziale Kapital und die Netzwerkarbeit - für unsere Funktionseliten offenbar von zentraler Bedeutung - hier im Kiez? Welche menschlichen Aufgaben und Grundbedürfnisse werden hier erfüllt? Wo kommt das Engagement so vieler her, die ihr Schicksal, oft mit trotzigem Unterton, selbst in die Hand nehmen? Wo haben Schüler wie Leonie, die aus einem "bildungsfernen Haushalt" stammt, ihren Bildungsoptimismus her?

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(1) BBS e.V.: Basisgesellschaft für Bildung und Strukturentwicklung e.V.
(2)
Einige Namen sind hier geändert, andere nicht.
(3)
Bücher, die hier angesprochen werden:
Sennett, Richard: "Die Kultur des neuen Kapitalismus" und "Der flexible Mensch"
Müller, Albrecht: "Die Reformlüge" und "Machtwahn, Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet"

Donnerstag, 12. Oktober 2006

Frauen auf dem Spielplatz

Wir sind in Neukölln auf dem Spielplatz, hier sitzen nur Frauen auf den Parkbänken. Türkische Mütter mehrerer Kindern auf der einen, auf der anderen zwei deutsche Akademikerinnen mit dem jeweils einen Vorzeigekind. Und zwei Kinderlose, die hier in der Sonne ein Pausenbrot vertilgen. Wir kommen miteinander ins Gespräch, leider nur die von der einen Bank. Thema ist das Buch der Fernsehjournalistin Eva Herman, die in der Republik derzeit den Gedanken verbreitet, die wichtigste Bestimmung des Weibes sei Produktion und Aufzucht von Nachwuchs.

Wir sind uns einig, die Emanzipation hat versagt, das ist klar, egal in welche Richtung man das interpretiert. Dass Frauen in diesem Land oft für die gleiche Arbeit schlechter als Männer bezahlt werden, ist schlichtweg grundgesetzwidrig. Und dass Frauen schon längst insgeheim als Reserve für die Arbeitswelt angesehen werden, ist auch klar.

Unter großem Hallo gebe ich eine Situation vom letzten August zum Besten. Beim Berliner Senat hatte ich mich vor zwei Jahren als angestellte Lehrerin beworben. Ich bin eine studierte und erfolgreiche Dolmetscherin und Journalistin, wie Frau Eva Hermann, leider gehöre ich zur Masse der unterbezahlten Freiberufler.
In einem Anfall von "Ich-hab-die-ewige-Akquise-und-das-Nichterkennen-von-Qualität-satt" wollte ich in den Schuldienst. Qualifiziert bin ich auch dafür.

Zwei Tage vor Sommerferienende 2006 rief vom Schulamt eine Dame an und schlug mir vor, kurzfristig in Teilzeit (immerhin: mit Jahresvertrag) einzuspringen - und zwar an mehreren Schulen, quer über Berlin verteilt. Angesichts der verschiedenen Orte und Reisezeiten wäre allein das schon ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, wie ich der Anruferin mit Hinweis auf den interaktiven Reisezeitenrechner auf der Webseite des örtlichen Nahverkehrunternehmens gut vermitteln konnte.

Sie: Ja, dann nehmen sie doch das Auto!?
Ich: Ich habe keins.
Sie: Und ihr Gatte, nutzt er denn den Wagen dienstlich?
Ich: Ich habe keinen.

Darauf wurde sie ganz still. Und sagte angesichts des Trinkgelds, das sie mir als Gehalt angeboten hatte, mit trauriger Stimme: Ja, dann ist unser Angebot ja sowieso nichts für sie, wenn sie sich selbst ernähren müssen!

Grüße in die Republik, lasst uns erstmal das Grundgesetz durchsetzen! Denn das ist wohl mehr der Grund für weniger Kids als weiblicher Egoismus: die permanente Unsicherheit - oder auch nur Verunsicherung - immer breiterer Bevölkerungsschichten!


P.S. vom 21.10., Thilo Sarrazin, SPD-Politiker aus Berlin, sagt im Info-Radio sinngemäß: "Die Lehrer in der Hauptstadt sind zu schlecht, wir liegen in der PISA-Studie auf einem hinteren Platz. Das liegt jedoch nicht am Lehrermangel, wir haben verglichen mit anderen Ländern 18 % mehr Lehrer. Also werden wir erstmal Lehrerstellen kürzen."

Wo bitte ist die Logik dieser Aussage? Es gibt nur eine einzige, sein Amt. Der Herr ist seit 2002 Senator für Finanzen.

Mittwoch, 11. Oktober 2006

Staatsmacht II oder: Wieviel Bürokratie darf's denn heute sein?

Der Staat braucht Geld. Das holt er bei seinen Steuerbürgern, und das ist gut so.

Indes, die Sache ist so kompliziert geworden ...
Nachstehend Zitate aus dem Mailverkehr mit dem Steuerberater. Die Sache hat mich einen Vormittag lang vom Arbeiten abgelenkt.

- Sie haben 2004 eine Filmanalyse für ein Buch geschrieben und als Journalistin mit 7 % Mehrwertsteuer abgerechnet. Analysen sind doch aber Gutachten, und bei Gutachten und Studien werden 16% Mehrwertsteuer veranschlagt.

- Ja, aber die Analyse ist eine journalistische Textform, und daher bin ich von den 7 Prozent ausgegangen. Der Auftraggeber hat sicher die Steuererklärung schon gemacht, ich möchte jetzt ungern, dass die Steuerdifferenz von meinem Honorar abgeht.

- Im Gesetz heißt es: "Die Übergabe eines Gutachtens oder einer Studie ist regelmäßig nicht mit der Einräumung urheberrechtlicher Nutzungsrechte verbunden, auch wenn das Werk urheberrechtlichen Schutz genießt." Also doch 16 % ?

- Da ich im Hauptberuf Journalistin bin und keine Baurechtsspezialistin oder Kriminalsachverständige, wo Gutachten an der Tagesordnung sind, bleibt die Analyse für mich weiterhin eine Textform wie der Essay, die Kritik, die Glosse, der Bericht und der Kommentar ...
Sicher, mein Text belegt etwas, er beweist aber nichts im juristischen Sinn, es sind niemandem aus meinem Text wirtschaftliche Vor- oder Nachteile erwachsen. Keiner hat einen Prozess, mancher vielleicht ein paar Einsichten gewonnen.
Ein Journalist, der die weltpolitische Lage im nahen Osten analysiert und das Wort Analyse in der Überschrift stehen hat, muss nicht deshalb auch gleich 16 Prozent zahlen und für den Kommentar zur Sache eine Spalte weiter nur sieben, oder?

- Entwarnung, UStR 2005 Abschnitt 168: journalistische Leistungen unterliegen dem ermäßigten Steuersatz, grundsätzlich.

Dazu Bea, sie arbeitet allein und von zu Hause aus als PR-Agentin: "Jeden Monat gehen allein mit der Buchhaltung zwei Tage drauf und für Streit mit dem Finanzamt noch einmal drei Tage. Macht monatlich fünf Arbeitstage, das wäre ein Viertel meiner Arbeitszeit, wenn ich nicht am Wochenende und am Abend noch arbeiten würde, was übrigens zu Lasten meines Kindes geht, ich bin alleinerziehend."