Mittwoch, 18. Oktober 2006

(aus dem Notizbuch) Küsschen!

Eigentlich ist das Ganze ziemlich komisch: Die Köpfe der Beteiligten kommen sich näher, dann weichen sie, um nicht mit den Nasenspitzen aneinanderzustoßen, ein wenig zur Seite aus und nähern sich von dort der Wange des Gegenübers, die kurz und zart touchiert wird. Nach einem (leisen!) Kuss in die Luft wird das Procedere mit der anderen Backe wiederholt. Wenn beide zu lange zögern oder die Koordinierung nicht stimmt, stoßen die Nasen aneinander. Spätestens jetzt sind ein paar Worte über das Wie und Warum des Zeremoniells « la bise » fällig.

Kuss. Schon die Urchristen sollen den Kuss als Begrüßung gekannt haben, daraus wurde dann der heilige Kuss, aber das ist eine andere Geschichte.
Klar ist, Küssen verbindet, das Gefühl kurzzeitiger körperliche Nähe auch. Dabei nehmen die Küssenden die Witterung auf. Erschnuppern den Reinlichkeitsgrad des anderen, aber auch die Qualität von Parfum oder After Shave. Und Rezeptoren in der Nase prüfen kurz, ob die Gene des Gegenübers im Fall der Fälle zum eigenen Erbgut passen würden. Die Natur will stets alles neu mischen, nur unterschiedliche DNAs werden als angenehm empfunden. Ist das nicht so, können wir "den anderen nicht riechen", im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir klären ab, ob die Luft rein. Ist mein Gegenüber entspannt oder gestresst, führt er oder sie etwas im Schilde?
Das zu wissen war für die frühen Christen überlebensnotwendig.

Küsser. Im Frankreich Ludwigs des Vierzehnten, nachdem dieser 1685 den Toleranzedikt von Nantes widerrufen hatte, galt die Anzahl der Küsse insgeheim als Erkennungszeichen der Hugenotten. (Sie küssten sich drei Mal, im Gegensatz zu den zwei Küssen der Katholiken.)
Heute entscheidet nicht die Religion, sondern die Region darüber, wie oft geküsst wird: a) in Paris, im Elsass und in Toulouse sind es zwei Küsse; b) unter Pariser Studenten und im Languedoc wird dreimal geküsst); c) im Westen Frankreichs und in etlichen Pariser Vororten oft sogar vier. Das erklärt sich wie folgt: a) In grenznahen Gegenden (terrestrische Grenze) verliert sich der Gebrauch (im Elsass ist man schon auf halbem Weg nach Hohenzollern); b) bei Pariser Studenten ist der Flirtfaktor groß, ergo braucht die Erspürung des originären Aromas mehr Zeit; c) im Westen und Südwesten gibt es viele Urlaubsregionen, also wird auch intensiver geflirtet; und in der Banlieue muss man sich seiner Gruppenzugehörigkeit stets aufs Neue versichern - und der harmlosen Absichten des Gegenübers.
1685 wanderten viele Hugenotten aus, auch nach Preußen, den Kuss haben sie einst leider nicht mitgebracht.

Küssestens. Jetzt ist « la bise » auch immer öfter in Deutschland zu beobachten. Was die Frage, mit welcher Wange es losgeht, wichtiger werden lässt. Feste Regeln dafür gibt es nicht, das entscheidet meist der dominante Part der Begegnung. Die meisten fangen auf der linken Seite an und machen dafür die Vorherrschaft der Rechtshänder in unseren Kulturen verantwortlich. Auch wichtig: Nicht jeder küsst jeden. Man muss einander schon einmal vorgestellt worden und sympathisch sein - oder aber man ist verwandt. Frauen küssen sich öfter untereinander als Männer. Den Chef/die Chefin küsst man nicht, es sei denn, die Firma ist klein oder das Geschäftsfeld besonders hip. Im Ausland führt « la bise » interkulturell ungeübte Franzosen unter Umständen auf rutschiges diplomatisches Parkett. Man stelle sich einen Politiker oder Ökonom vor, der es wagen würde, the Queen zu küssen oder sonst irgendwie zu berühren - oder Mister President oder den Parteivorsitzenden von China! Absolutely shocking!
Witzig dagegen die Variante, die aus einer Irritation entsteht: In Deutschland lebende Franzosen oder französisch sozialisierte Deutsche zögern manchmal zwischen Pfötchengeben und der « bise ». Dann wird eben doppelgegrüßt: Die Hände schütteln sich, während der Kopf:
Cous-cous!,
Caroline

P.S.: Geschriebene Küsse sind Gespensterküsse. Franz Kafka

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