In Deutschland leben mehr Cineasten als in Frankreich! Wetten?
Die Verwirrung hat ihren Ursprung in einem Übersetzungsfehler. Während in Frankreich nur die an der Filmherstellung künstlerisch Beteiligten Cinéasten genannt werden (mit Accent aigu), sind in Deutschland alle Filmliebhaber Cineasten (ohne Accent). Also Menschen, die Filme nicht nur konsumieren, sondern die kenntnisreich zu schätzen wissen, was auf der Leinwand geschieht. Sie lesen Filmzeitschriften und gehen auf Festivals. So findet man selbst zu Berlinalezeiten in Neukölln mehr Cineasten deutscher Herkunft als frankophone Filmschaffende in ganz Berlin.
Ein echter Cineast lebt im, durch und für das Kino. Die Generation um François Truffaut, Jean-Luc Godard und Agnès Varda lernte einander in der Cinémathèque Française kennen, zunächst waren sie nur Kritiker. Hier gab man sich auch als Tipp weiter, wer als Kameramann gut mit der neuen Technik umgehen könne. So wurde aus Raoul Coutard der "Fotograf" der Nouvelle Vague. Und aus den Filmliebhabern wurden Filmschaffende, aus Cineasten wurden Cinéastes.
Die Online-Enzyklopädie "Wikipedia" schreibt: "Cineasten tragen nicht selten einen wesentlichen Anteil dazu bei, dass aus manchen Filmen letztendlich Kultfilme werden." Das kann auch in Berlin passieren, und das liegt am ganz normalen Publikum. Denn in Cannes können interessierte Verleiher die Filme nur inmitten von Fachpublikum sehen, und das reagiert anders.
Cineasten verändern auch nachhaltig die Alltagssprache. In Frankreich vielleicht mehr als in Deutschland. Das geht schon mit dem Begriff "le septième art" los. Auf der anderen Seite des Rheins bezeichnet man als die siebente (der schönen) Künste die Filmkunst. Etliche Repliken sind Gemeingut geworden, und völlig unvermittelt können erwachsene Menschen heute ins Blödeln verfallen: "Bizarre, vous avez dit bizarre?" fragt der eine, lakonisch kommentiert vom andren: "Comme c'est bizarre!" Der Satz stammt aus der Kinderzeit des Tonfilms; Louis Jouvet sprach ihn in einem Film des vor zehn Jahren verstorbenen Marcel Carné ...
Eines haben die Liebhaber des Lichtspiels damals jedoch nicht verhindern können. In der dunklen (tausendjährigen) Epoche wurde selbst aus der Frage, wer denn das Kino erfunden habe, zum Zankapfel der damaligen "Erbfeinde". Hier standen die Berliner Gebrüder Skladanowsky mit ihrem Bioscop, das in einem Variété-Theater vor ziemlich genau 111 Jahren zum ersten Mal bewegte Filmbilder auf der Leinwand vorstellte; dort die frères Lumière mit ihrem Cinématographe und der Vorführung im luxuriösen Grand Café am Boulevard des Capucines im gleichen Jahr. Für die Nazis reimte sich das so: hüben die Arbeitersöhne, die kaum Geld hatten für Plakate, drüben die Industriellensprösslinge, die sich rund um die Uhr der Bewerbung ihrer Entwicklung widmen konnten.
Nimmt man die Ideologie weg, stimmt die Sache im Kern. Doch das Thema ist größer: Le cinéma war im fortschrittsbegeisterten Frankreich von Anfang an in Frankreich ein "salonfähiges" Medium, während sich hierzulande, wo mangels intellektuellem Zentrum vieles langsamer ging, sich die bewegten Bilder erst aus der leicht schmuddeligen Atmosphäre der Jahrmärkte und Variétés befreien mussten.
Was das jetzt mit dem Bedeutungswandel des Wortes "Cineast" zu tun hat? Vielleicht glauben in Deutschland viele, dass Filmliebe in direkter Linie aus Frankreich stammt?
Vive le Cinéma ! Atmosphère ! (Arletty)
Sonntag, 22. Oktober 2006
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