Freitag, 13. Oktober 2006

Neue Berliner Ökonomie (Theorie)

Wie leben wir heute, wie wollen wir morgen leben? Ich komme viel rum und weiß: Alltag und Lebensgefühl sind an den verschiedenen Orten Europas zum Teil extrem unterschiedlich. Entsprechend ausdifferenziert auch die Wünsche: die einen wollen (endlich/wieder/für immer) mehr bekommen, die anderen nichts (oder nicht mehr) verlieren.

Das Land verbindet augenscheinlich eins: Angst vor der Zukunft. Da verwendet ein Ökonom in einem Zeitungskommentar den Begriff "Gefahrentarife" und summiert auf, welche Festkosten sich bei eventueller Entlassung durch (bald inkrafttretende) Gesetze ergeben. Wenn bei Einstellung neuer Kräfte die einzige Sorge zu sein scheint, wie man sie 'kostenneutral' wieder los wird, wenn also im Moment des Aufbruchs das mögliche Scheitern als Bild alles andere überstrahlt, stimmt was nicht im Staate Dänemark. (Was mir immer dann besonders auffällt, wenn ich im Ausland nur gutes Feed-back zu Deutschland bekomme, das weiterhin das Image eines starken Exportlands hat - was der mit gutem Wetter, guter Laune und gutem Fußball verbrachte Sommermonat weiterhin verbessert hat.)

Im Lande selbst wird viel gejammert. Berliner Eltern klagen über die Schulen und sehen dort schon Ein-Euro-Kräfte zur nachmittäglichen Beaufsichtigung einrücken (Furcht? Realität?), wo doch die Nachmittagsunterricht neue Lehrangebote und bessere Bildungschancen bringen sollte. Aber wenn der Staat qualifizierte Kräfte nicht angemessen zu honorieren vermag ... (siehe: "Frauen auf dem Spielplatz").

In Tübingen war letzte Woche das Hauptgespräch in der Schlange beim Biobäcker, dass "der Daimler" sein Kultursponsering abgeschafft hat und auch Fabrikarbeiter entlassen wird. In Stuttgart hörte ich in der Straßenbahn, wie eine Tochter ihren Eltern von einem neuen Arbeitsvertrag erzählte. Mir schien, die Altvorderen hörten gar nicht richtig zu: "Hauptsache, Du hast dann bald was Festes!", sagten diese. Und sie fingen an über den Osten zu hetzen, der uns alle so viel gekostet hätte, dass jetzt alles bergab ginge. "Die DDR hat uns mit der Krise angesteckt!"

So klar, so offen, habe ich das in "Westdeutschland" (wie eigentlich nur noch 'alte Westberliner' sagen) noch nicht gehört.

Zurück nach Neukölln. Hier ist die Krise schon weiter, berufserfahrene und studierte Köpfe denken über die Folgen nach. Wir sind im "Kieztreff" in der Nachbarschaft. Ein Ladengeschäft wurde mit einfachen Mitteln zu einem kleinen Restaurant umgebaut, das jetzt ein Verein (1) dank EU-Förderung betreibt. Hier wird werktäglich zum Selbstkostenpreis ein ausgewogenes Mittagessen angeboten, hier essen neben Rentnern und Arbeitslosen viele Studenten, Maler, Ein-Euro-Jobber, Betreiber kleiner Geschäfte, Handwerker, Übersetzer, freie Journalisten. Etliche von ihnen sind Teil der "Neuen Berliner Ökonomie", der Klein- und Kleinstbetriebe, der Parallelwirtschaft ohne Geld, des "Dritten Sektors" von Stiftungen, Sozialwerken und Vereinen.

Die Stimmung in der "Kantine", wie viele den Ort nennen, ist offen und freundlich, man kommt schnell über den Tisch hinweg ins Gespräch. Hier einige Stichpunkte eines etwas anderen 'deutschen Stammtischgesprächs'.
Da sagt Andy (2) , Architekt und (nach eigener Pleite) jetzt Ich-AGler im Handwerksbereich: "Das ganze Problem ist der Zinseszins. Dadurch wachsen die Schulden auch ohne weitere Verschuldung weiter. Wir werden bald auch in der westlichen Welt ein Zinsmoratorium brauchen, wie es für manche Dritteweltländer schon gilt. Oder gleich einen Schuldenerlass, denn immer größere Kreise der Bevölkerung stecken in der Zinsfalle, aus der sie nicht mehr rauskommen. Und das Geld fließt in großen Mengen immer schneller an die Spitze." (In den nächsten Tagen wird Andy mir das detailliert vorrechnen, ich freu' mich drauf.)

Thomas arbeitet in einem Kiez- und Internetcafé, das auch ein Ergebnis des Quartiersmanagements ist: "Wir beobachten hier, wie eine geldlose Parallelwirtschaft entsteht. Die Leute wissen sich zu helfen, viele sind gut ausgebildet, der Naturalientausch blüht auch in Sachen Dienstleistungen. Manche nennen das Schwarzarbeit, aber wenn kein Geld da ist, dafür Zeit und Können, müsste das eigentlich Selbsthilfe heißen. Und es gibt auch immer mehr kostenlose Angebote. Zum Beispiel unser Internetcafé. Rechner sind genug gekauft worden, die Flat ist nicht teuer, die Miete gering. Das Know-how haben wir selbst. Also werden hier Infos getauscht, Mails gecheckt, Pläne gemacht. Wir etablieren uns im Schatten der großen Geldwelt mit kleinen Summen. Gesamtwirtschaftlich gesprochen: Hier fallen immer mehr Leute als Konsumenten aus. Das geht für uns als Zwischenlösung, in Berlin kann man noch recht gut und ohne sozial isoliert zu sein mit wenig Geld auskommen. Die große Frage ist aber: Was will die Industrie machen ohne Käufer?" Auch Thomas werde ich bald mal länger sprechen.

Werner promoviert im Kiez. Er komme fast täglich in die Kantine, sagt, er, denn er wohnt im Nebenhaus. Als Ökonom, der an mehreren Hochschulen studiert hat, weiß er: "An deutschen Unis lehren fast nur noch Liberalisierungsbefürworter. Der Name Keynes kommt nur noch selten vor." Das Gleiche gelte auch für die deutschen Eliten in Wirtschaft und Politik, wie er gerade bei Albrecht Müller lesen würde (3). Und er erklärt einer Großmutter und Leonie, ihrer Enkelin im Teenageralter, am Beispiel zweier Geschäfte und der Schule im Kiez, was Keynesianismus bedeutet. Dazu liefert die sechzehnjährige Leonie Beispiele, zum Beispiel den Zustand der Schule, an der, seit ihre Tante sie besucht hat (vor 15 Jahren), nur noch das Wichtigste repariert worden ist.

Paula kommt hinzu. Sie studiert eigentlich in Florenz Politikwissenschaft, nachdem sie ein deutsch-französisches Diplom abgelegt hat. Jetzt schreibt sie in Neukölln das Exposé zu ihrer Doktorarbeit über die Veränderung der Arbeitswelt. Und sie referiert ihre neueste Lektüre, ein Buch des in London lehrenden Soziologen Richard Sennett. Laut liberaler Wirtschaftstheorie kurbele die Verringerung von Verwaltung, Gesetzen und der Staatsausgaben die Wirtschaft an. Gleichzeitig könne mehr Qualifikation zu mehr Arbeit führen und damit zu mehr Konsum. Das Schlagwort, mit dem uns das Ganze verkauft werde, sagt, Paula, heiße "Freiheit". Sie war, als die Mauer fiel, ein Teenager und ist in Ostberlin aufgewachsen. "Ich werde immer hellhörig, wenn jemand das Wort "Freiheit" verwendet, ich erinnere mich zu gut an die Mauer, an das Misstrauen, den Nachbarn gegenüber, an die Kontrolle in der Schule. Aber was soll in der jetzigen Situation "mehr Freiheit" bringen? Frei ist man oder man ist es nicht."

"Wie soll ich bitte zu guter Bildung kommen?", fragt Leonie, "wenn die Schule teilweise nicht mehr benutzbar ist und ich demnächst für die Uni Studiengebühren zahlen muss? In Deutschland macht man alles nur halb. Die führen Gebühren ein, aber keine Stipendienprogramme." Und, später, nach einigem Nachdenken: "Wie soll das überhaupt zusammenpassen, Verringerung der Staatsausgaben und bessere Bildung?"

Paula nickt. Dann erklärt sie Sennetts Beobachtungen, dass permanent drohende Arbeitslosigkeit, häufiger Job- und Ortswechsel und die Abwertung ihrer Vorerfahrungen die meisten Menschen unterminieren würden. Sie habe bei Praktika Unternehmen kennengelernt, in denen das "Firmenklima" hauptsächlich aus Angst bestehe. Alle hätten dauernd mehr Leistung liefern müssen, wären kaum gelobt worden. Das, so Sennett, entwurzele die Menschen. Sie fänden sich durchgängiger Biografien und nicht zuletzt ihrer Würde beraubt.

Sie selbst erinnerten die Schlagworte der Liberalökonomen, die wie Glaubenssätze immer nur leicht variiert zu allem und jedem fallen, an die Dogmen in der DDR, "das Verbot zum Weiterdenken inbegriffen." Und ihre Eltern, sie lebten noch heute im evangelischen Pfarrhaus im Brandenburgischen, dächten dasselbe.

Ihr gegenüber sitzt Hanka. Die Mittfünfzigerin hat als Sozialpädagogin jahrelang Mobbing-Opfer betreut. "Jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland hat innerlich gekündigt. Viele machen das, was man ihnen von oben aufträgt zu tun, auch wenn sie genau wissen, dass es nicht greift. Ihre Erfahrungen hat sie oft zu Spezialisten werden lassen, aber so, wie die Macht verteilt ist, klappt es nicht, dieses Wissen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Dahinter stecken Unternehmer, die selbst Angst haben, denn angstgesteuerte Manager haben auch Angst vor Kritik. Ergebnis: Die Unternehmen verkalken und erstarren. Am Ende holen sie teure Berater von außen, weil ihre Chefs das Offensichtliche nicht mehr wahrnehmen. Die Berater sind oft junge Schnösel von irgendwelchen europäischen Managementschulen, die keine Berufserfahrung mitbringen. Sie gehen nur über Zahlen und durchschauen das Geflecht aus Informationsstau und Fehlplanung nicht, wie denn auch. Sie schlagen dann vor, verlustbringende Unternehmensteile zu schließen, Entlassungen werden ankekündigt, Börsenkurse steigen. Die Manager fühlen sich bestätigt: Sie haben wieder mal alles richtig gemacht. Und bekommen am Ende noch eine Prämie."

Und wie ist das nun mit der 'Neuen Berliner Ökonomie' hier im Kiez? Mit den Ich-AGs, den kleinen Geschäften, Handwerksbetrieben, dem Tausch von Waren und Dienstleistungen? Vieles entsteht mit Anschlubfinanzierungen eines Staates, der sich hier noch nicht zurückgezogen hat. Sind die Firmen, sozialen und kulturellen Projekte überlebensfähig, wenn eines Tages Förderungen auslaufen? Oder gibt es einfach Bereiche, die immer gestützt werden müssen? Wenn ja, wie groß ist die Rentabilität der Investitionen, mit welchen Summen werden wie viele Menschen erreicht, wie groß ist der Verwaltungsanteil? Und was leisten diese Strukturen in Sachen Aus- und Weiterbildung? Lässt sich der Wert der Waren und Dienstleistungen, die hier getauscht werden, bilanzieren? Wie groß ist der ökonomische Beitrag im Verhältnis zur Investition?

Die Praxis der "Neuen Berliner Ökonomie" schaue ich mir in den nächsten Monaten genauer an, ich freue mich aufs genaue Hinsehen, die Stichworte aus dem Wirtschaftsteil unserer Zeitungen stets im Hinterkopf. Und darauf, über die Grenzen der neokapitalistischen Modelle hinauszudenken. Was bedeuten das soziale Kapital und die Netzwerkarbeit - für unsere Funktionseliten offenbar von zentraler Bedeutung - hier im Kiez? Welche menschlichen Aufgaben und Grundbedürfnisse werden hier erfüllt? Wo kommt das Engagement so vieler her, die ihr Schicksal, oft mit trotzigem Unterton, selbst in die Hand nehmen? Wo haben Schüler wie Leonie, die aus einem "bildungsfernen Haushalt" stammt, ihren Bildungsoptimismus her?

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(1) BBS e.V.: Basisgesellschaft für Bildung und Strukturentwicklung e.V.
(2)
Einige Namen sind hier geändert, andere nicht.
(3)
Bücher, die hier angesprochen werden:
Sennett, Richard: "Die Kultur des neuen Kapitalismus" und "Der flexible Mensch"
Müller, Albrecht: "Die Reformlüge" und "Machtwahn, Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet"

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