Mittwoch, 9. August 2006

Brückenzoll

Mitten auf der Brücke, am helllichten Tag: zwischen parkenden Autos liegt ein großes Stück knallroter Läufer auf der Straße. Darauf stehen zwei Klappstühle und ein schwarzes Korbtischchen. Richtig einladend wird das Ganze erst durch eine Glasvase mit weißen Lilien. Was ist hier los?

Um sechs Uhr abends fährt Carsten den Wagen auf die Brücke und bereitet alles vor. Auf umgedrehte Getränkekisten platziert er zwei kleine Weinpflanzen, die eben noch auf der Theke standen; aus dem schmalen Gang hinten holt er zehn Klappstühle und fünf Klapptischchen. Dann hakt er das Schutzdach fest, an dem die weiß-rote Markise baumelt: So öffnet allabendlich "La Chicha", die Eisdiele auf der Brücke.

Mit Beginn der WM hat der Dreißigjährige sein Geschäft eröffnet. Jetzt ist er von der Uferpromenade dreißig Meter weiter auf die Brückenmitte gezogen, dorthin, wo Kreuzberg aufhört und Neukölln anfängt. Und viele Passanten, die hier von der Ohlauer kommen und Richtung Friedelstraße gehen (oder andersum), unterbrechen ihren Weg. Studenten genehmigen sich eins, hier quengelt ein Kind, ein älteres Paar hat es auf Bionade und die Stühle mit "Seeblick" abgesehen: von oben aufs Wasser Richtung Potsdamer Platz, unverstellter Westblick, mit Sonnenuntergangsgarantie. Solange keine Wolken sind wie heute.

Trotz des kühlen Wetters halten viele an, entrichten ihren Brückenzoll und laben sich am selbstgemachten Gelato "aus ökologisch kontrollierten Zutaten". Elf Sorten sind im Angebot, auch Eis ohne Sahne oder ohne Milch, darunter "Joghurt-Mirabelle" und "Wahlnuss" - passend zum Wahlplakat vom Laternenmast daneben. Ein Ghettoblaster spielt dazu Chopin. Später werden Gäste den Vollmond am Osthimmel besingen und damit den Passanten ausnahmslos ein Lächeln ins Gesicht zaubern. (Wolken schieben sich vor den Erdtrabanten: "Seht ihr den Mond dort stehen? | Er ist nur halb zu sehen | und ist doch rund und schön. | So sind wohl manche Sachen, | die wir getrost belachen, | weil unsre Augen sie nicht sehn.")

Neben der Eistruhe steht ein Schild: "2- bis 3-Zimmerwohnung im Kiez gesucht, wir sind eine kleine Familie." Carstens Freundin Rebecca hatte sich gerade, als ich angekommen war, zum Filmegegucken verabschiedet. Die Familienbildung steht den beiden mehr als nur ins Gesicht geschrieben. "Ich werde ja bald Vater", sagt Carsten, der sich sein charmantes, jungenshaftes Lachen bewahrt hat, "und bin froh, jetzt nach Kreuzberg zu ziehen, wir haben was gefunden, das Schild kann weg. Ich bin Schauspieler, da gibt's natürlich immer wieder Phasen ohne Beschäftigung. Und ich habe die Ämter in Neukölln als einen ziemlichen Moloch erlebt als es darum ging, für den Eiswagen Existenzgründerhilfe zu bekommen. Mir hat sogar jemand von der Kreditanstalt für Wiederaufbau beim Schreiben des Businessplans geholfen, aber das Amt hat mir nur 170 Euro Grundförderung zugesagt, ist eben Ermessenssache. Ohne die Hilfe von Freunden und Familie stünde ich nicht hier. Die Ämter in Kreuzberg sind viel cooler, ich hab ja schon mit dem Ordnungsamt zu tun. In Kreuzberg sind die Ämter erste Welt, in Neukölln ist das wirklich dritte Welt. Da rennen eben die Massen aufs Amt und Perspektiven gibt's auch kaum."

Um neun ist vom Tag nicht mehr viel Licht übrig. Carsten nimmt Papiertüten aus einem Korb. Der Boden der Tüten ist mit Sand bedeckt, darin stehen Teelichte. Auf dem Landwehrkanal macht eine Entenfamilie mit Jungen Rabatz. Während jetzt nicht nur die Küken auf dem Wasser schlafen geschickt werden, weiß Carsten, dass er noch ein paar Stunden Arbeitszeit vor sich hat, bis er um Mitternacht oder ein Uhr morgens Stühle und Weinpflanzen wieder einpackt und die Nacht wirklich anbricht.

Und irgendwann am Nachmittag drauf wird er den roten Teppich wieder ausrollen als Platzhalter für seinen Eiswagen.

Keine Kommentare: