Subjektive Beobachtungen in Schumachers Heimatstadt Kerpen
Schweigend verfolgen die Gäste auf Großleinwänden das Autorennen, im Sommerlicht des italienischen Monza drehen die Fahrer ihre Runden. Lange vor der 65. Rennminute hat die Spannung nachgelassen. Der Fernsehkommentator sagt eben: "Michael Schumacher schwitzt ganz schön", da quietschen die Reifen etwas lauter. Der Wagen von Alonso, dem Vorjahresieger, bricht aus der Bahn, mit drei Schrecksekunden Verzögerung geht ein Schrei durch die american sportsbar, als wäre er aus einem Mund. Diese Reaktion auf das Ausscheiden des Gegners wird heute in der Kerpener Bar der einzige Augenblick sein, in dem bei Schumachers Fans die Gefühle hochkochen.
Wir sind im Industriegebiet von Kerpen-Sandorf, eine halbe Autostunde von Kölns Zentrum entfernt. Hier, in Schumis Heimatort, liegt laut Prospekt "das einzigartige Kart & Event-Center". Es besteht aus Leichtbauhallen, Freifläche und, zumindest heute, einem vollen Parkplatz Die dazugehörige american sportsbar ist eine Art überdimensioniertes Reiterstübchen. Sie schwebt wie festgeklebt an der Hallendecke über der 6000 m2 großen Indoor-Bahn. Alles hier, von der Außenrennstrecke (710 Meter) über das Museum bis hin zum Restaurant ist im Privatbesitz des siebenmaligen Formel 1-Weltmeisters. Nur eine Stunde später wird der Champion nach mehr als 90 Siegen in 15 Jahren seinen Ausstieg aus dem aktiven Rennsport verkünden.
Nur ein knappes Dutzend Frauen ist unter den 150 Gästen der Bar, die mit vielen typischen Objekten der amerikanischen Massenkultur plus diversen Schumacher-Devotionalien ausgestattet ist. Das jüngste der weiblichen Wesen, Anka aus den Niederlanden, wird nächste Woche sechs. Sie findet Autorennen toll, weil sie mit ihrem Papa oft mitdarf. Was sie später mal werden will? "Mama", lautet die ernüchternde Antwort. Dann fachsimpelt sie weiter mit Daddy Erich über das Rennen, als wäre sie eine erfahrene Sportjournalistin.
Wer allerdings wie ich zum ersten Mal in seinem Leben einen solchen Wettkampf verfolgt, fragt sich, was das Spannende an der Sache ist. "Stell' Dir vor, Du fährst eines der schnellsten Autos der Welt und dann auch noch im Wettkampf", sagt Maxence, Fernsehjournalist aus Montréal. "Das bedeutet Adrenalin, Technik und Taktik pur. Das hat einen besonderen thrill."
Ja, schnell sind sie schon mit ihren 300 Stundenkilometern. Ich lerne neue Vokabeln. Wenn sie zur Strafe aussitzen müssen, wie es heißt, dürfen sie nur mit 100 Stundenkilometern durch die Kurven rasen. Kurven und Brücken nennt man Schikanen, die Fahrer halten in Boxen, wo man sie neu betankt und Reifen wechselt. Schiedsrichter sind hier die Kommissare, und wie das mit dem wenig Flügel fahren ist, hat mir leider niemand erklären können.
Irgendwann, ich habe vor lauter Neuem nicht gemerkt, wann, fährt Schumacher auf Position eins. Der thrill, von dem der Journalistenkollege aus Übersee spricht, bleibt mir weiter fremd. Kann etwas Sport genannt werden, bei dem es nur auf Reaktionsgeschwindigkeit ankommt? Beim ersten Zusehen entzieht sich mir alles Taktische an der Sache. Um mich herum schauen die Fans versonnen bis selbstvergessen auf Leinwände und Monitore. Etliche tragen rote Anzüge, als säßen sie selbst in der Höllenmaschine. Die Kellner flitzen agil durch den Raum und fragen in immer kürzer werdenden Abständen nach, ob man nicht noch etwas bestellen möchte. Neben mir hat es sich Ankas Papa Erich jetzt gemütlich gemacht, ein dunkelhaariger Mann in den Vierzigern, und erklärt mir im netten, holländischen Akzent, warum Alonsos Ausscheiden heute gut für Schumacher sei. Dessen Punktrückstand verkürze sich von zwölf auf zwei Punkte, und bei den drei Rennen, die noch ausstünden, verbesserten sich Schumis Chancen auf den achten Weltmeistertitel.
"Aber ich dachte, er will aufhören?" - "Am Ende der Saison, wenn überhaupt", sagt Erich. Noch geben sich alle nach außen zuversichtlich, hoffen, dass die Gerüchte ein Fehlalarm waren, aber der Holländer klingt so, als glaube er sich selbst nicht. Schumacher führt das Rennen weiter an.
Oder ist es die Todesgefahr, die den Sport so interessant macht? Die Arena des Rennens in Monza ist soweit nicht entfernt von den Arenen in Rom, wo es dermaleinst auch auf Leben und Tod ging. In jedem Fall geht es hier um Primärreize: Die höchste Geschwindigkeit, die größte Kraft. Eine Sache für echte Männer. "Entspannte männliche Körperhaltung" bescheinigt auch gerade der Kommentator einem der Fahrer. Gibt es eigentlich auch Rennfahrerinnen?
Selbst in der Bar, die eingerichtet ist wie ein kalifornisches diner, nichts als Primärreize: Rot sind die Barhocker und die riesigen Abluftrohre, das Kunstleder der Bänke ebenso wie die historischen Getränkeautomaten von Coca Cola. Diese Farbe, die hier alles überstrahlt, ist auch die von Ferrari, Vodafone und Marlboro, als hätte der Rennfahrer Marken und Rennstall (meist) nach der Farbe ausgesucht. Und Geld scheint auch ein Primärreiz zu sein. Um knapp 2400 € würde Michael Schumacher jede Minute reicher, rechnet Erich vor. Nein, genauso hat er es nicht gesagt. Aber ich vermag in dem Kontext das Wort ‘verdienen’ nicht zu schreiben, es sei denn so: Hier verdient einer selbst im Schlaf noch Geld.
Als das letzte Viertel des Rennens beginnt, fährt Schumacher kurz in die Box. Neben mir werden Sekunden gezählt. Das Tanken dauere um die sieben bis neun Sekunden, inklusive Ein- und Ausfahrt 25 Sekunden, erklärt der Holländer. Als der Fahrer weiterrast, jubeln alle kurz: Der Deutsche hat seine Position behauptet. Verhaltener Applaus. "Jetzt kann nur noch die Defekthexe eingreifen", sagt der Fernsehkommentator lakonisch.
Ich setze mich für ein Weilchen ans Fensterband oberhalb der Indoor-Strecke, von wo aus eine Familie ihren Teenagern beim Kurvendrehen zusieht. “Wenn Michael Schumacher jetzt aufhört, wird er öfter hier sein können”, sagt der Vater zu seinem Sohn im Grundschulalter. “Den Teufel wird er tun, dann müsste er ja in Deutschland mehr Steuern zahlen”, meint darauf die Frau. “Was sind Steuern?”, will der Junge wissen. “Geld, das man von seinem Einkommen abgibt, damit Straßen gebaut und Lehrer bezahlt werden können”, erklärt der Vater. “Ach so ... “, sagt der Filius und scheint enttäuscht.
An der Wand hängen Fotos von Schumacher als Kind. Man rätselt, wie alt er jeweils darauf war. “Die Bahn hat früher seinen Eltern gehört”, berichtet der Vater. Der Jugendtrainingsleiter wird uns das im Museum wenig später anders erzählen: Die Eltern Schumacher hätten beim Verein angeheuert, der die Bahn betrieb, der Vater als Bahnenwart, die Mutter betrieb den Kiosk. Den Verein gibt’s wohl immer noch, die Bahn am neuen Ort heißt jetzt nach Michael Schumacher. Und während wir hier oben dem deutschen Ausnahmesportler beim Siegen zusehen, halten unten wieder zwei Reisebusse mit neuen Kart-Fahrern, einer kommt sogar aus Frankreich. Sie zahlen je nach Gruppengröße für eine halbe Stunde um die 30 Euro pro Person. Die (jungen) Männer überwiegen, aber hier fahren Frauen und Mädchen, sogar eine Bahn für die ganz Kleinen gibt es. Über die Zahl der gefahrenen Stunden per annum schweigt die Direktion indes vornehm.
An der Seite eines Großelternpaares besichtigen wir das Museum, das in falschem Deutsch als “die Welt der Schumacher’s” auf dem Gelände beworben wird. Hier stehen acht Formel-1-Wagen, dort in dunkleren Boxen Fahrzeuge aus seiner Kindheit und Jugend - und dazwischen hängt das Foto von Michael Schumacher als Vierjährigem bei seiner Erstlingsfahrt auf einem von Vater S. eigenhändig motorisierten Kettkar. Im Museum kommt Ralf Schumacher praktisch nicht vor. Der Bruder steht hier nur ab und zu mit auf dem Foto. Das Plural "Schumacher's" scheint unangemessen, und das Hirn sucht nach Vorlagen in der griechischen Tragödie zum Thema großem und kleinem Bruder und Erfolg. Vielleicht kommt die spannende Geschichte ja erst noch?
Kurz nachdem wir in seine Bar zurückkehren, geht Michael Schumacher in Monza als erster durchs Ziel. Aber anders als in Italien ebbt der Applaus der Fans in Kerpen-Sandorf überraschend schnell ab. Wenig später, Schumacher steht auf dem Siegertreppchen im Theaternebel (oder qualmt Alonsos Auto etwa noch immer?), beobachtet die Fernsehkamera einen der Ferrari-Manager dabei, wie er Tränen trocknet. Als sich der Champion auf Englisch und Deutsch bei Fans und Familie für die jahrelange Treue bedankt, haben zwei Drittel der Gäste Schumachers Bar schon verlassen. Die Fernsehkommentatoren kommentieren, die Kellner räumen auf, in Italien spritzt jetzt der Rennfahrer Champagner ins Publikum.
Nicht einmal eine Stunde, nachdem Michael Schumacher sein Karriereende angekündigt hat, sitzen nur noch fünf Menschen in der american sportsbar. Ein Kellner besprüht mit blauem Fensterreinigungsmittel die Tische. Maxence, der kanadische Journalistenkollege, checkt per Handy in Kanada die offizielle Aussprache Schumachers in seinem Sendegebiet: "C'est Schumach-heure ou Schmach-air?" (Schumach-Stunde oder Schumach-Luft? Letzeres.)
Und während die kleine Anka an der Hand ihres Vaters Erich fröhlich die Treppe in Richtung Erdgeschoss hinunterhopst, drehen unten auf den Kart-Bahnen die Touristen weiter ihre Runden.
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1 Kommentar:
... zu diesem thema übrigens ein beliebter schwäbischer abzählreim:
rennfahrer bieberle
schiss ins kiebele
kommt nimme naus
und du bist raus
viele grüße,
john
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