Sonntag, 24. September 2006

Köpfchen, Stritzel, Reibasch


Im "Dreiländereck" zwischen Neukölln, Kreuzberg und Treptow liegt die Arena am Hafen der Spree "festgezurrt" - mit Blick auf Mitte. Die Arena ist kein Schiff, sondern eine Reihe ehemaliger Industriehallen und einer der hippsten Veranstaltungsorte Berlins. Hier gibt's neben Theater, einem schwimmenden Swimmingpool (genannt 'Badeschiff') und einem Restaurantschiff den Hallentrödel, den Markt in der Halle.

Hier ist Flohmarkt noch lausig gut. Alles etwas angeranzt an den fast 60 Ständen auf 2000 Quadratmeter, dafür meist konkurrenzlos billig. Hier kann man Farbe kaufen, die noch frisch ist und nur halb so viel kostet wie in Baumarkt oder Malerbedarf, dort Telefon- und sonstige Kabel, sie liegen 70 Prozent unter dem Fachhandelspreis; alte Möbel und Elektronik lagern neben Stoffballen und Wasserkränen: hier gibt's, was anderswo Überschuss war. Und Feilschen gehört zum guten Ton.
Bei einem Möbelfritzen wühle ich mich durch zwei Schubladen voll mit alten Schlüsseln. Beim Aufarbeiten meines Bücherschranks aus den 30er Jahren war der Schlüssel abhanden gekommen, Jule ('meine' Schreinerin) machte mir vor, wie man das Schloss rausschraubt - und hier bin ich nun und teste die Dinger und mache mich mit dem entsprechenden Vokabular vertraut (Bart, Rohr, Gesenk - und das freistehende Ende vor dem Bart heißt Köpfchen, ich brauch' einen mit Köpfchen). Und ich übe mich in Geduld.Der 63. passt so einigermaßen. Den Rest wird morgen der Schlüsseldienst richten - hoffe ich. Dann habe ich noch ein kleines Schmuckkästchen aus Holz dabei, auch schlüssellos: hier ist es schon der Dritte, das ergibt eine erträgliche Quote, und der Gesamtpreis ("geben Sie, was sie möchten!") liegt bei drei Euro fürs Mitsuchen und die gute Beratung.
Kurz vor dem Gehen entdecke ich noch etwas in der letzten Ecke. Ein dunkel lasiertes Tongfäß von etwa 30 cm Durchmesser mit interessantem Muster innen, als wären es Rillen - meine neue Obstschale für die Küche.Beim Bezahlen erklärt mir die Verkäuferin, was ich da erwerbe: eine Reibesatte oder auch Reibasch genannt. Die "Oeconomische Encyclopädie" (1773 - 1858) von J. G. Krünitz schreibt dazu: "Reibesatte, Reibasch, in den Küchen, ein Asch, d. i. tiefes unten spitzig zulaufendes rundes Gefäß, etwas darin mit einer hölzernen Reibekeule klar zu reiben."

Die Rillen meines Flohmarktfundes sind also welche. Den Reibasch, den man wohl Reib-asch ausspricht, hat die alte Dame noch vor wenigen Jahren benutzt, die am Stand neben der Verkäuferin sitzt. Letztere räumt ihren Platz, einen Campingstuhl, als ich mein schwarzes Notizbuch und den Füller rauskrame ("Schon ungewöhnlich", sagt die Verkäuferin, "dass junge Leute heute den Alten zuhören!") (Danke fürs Jungeleut ;-)

Die alte Dame im geblümten Kleide, sie ist sicher schon Uroma, stellt sich als Anni Schwartz vor, mit "Tee-Zett bitte!" Und ich bekomme gleich folgendes Rezept diktiert:

Mohnstrietzel oder Mohnpielen
500 Gramm Mohn wird mehrmals gewaschen, danach mit kochendem Wasser gebrüht und, wenn dasselbe abgegossen ist, in das warme Ofenrohr gestellt. Hierauf wird der Mohn in der Reibesatte mit etwas Milch fein zerrieben, wobei sich mehrere Leute damit abwechseln müssen. Das Reiben dauert 1/2 bis 3/4 Stunde und muss manuell durchgeführt werden. Dadurch erhält der Mohn eine milchige Konsistenz. Vor maschinelle Reiben warnt Oma Anni, das wäre ja eher ein Quetschen, dadurch würde der Mohn am Ende bitter schmecken. 8 Knüppel ("so hießen diese Brötchen damals, die waren feiner als Semmeln, weil da mehr Milch drin war") oder "es geht auch dieses lange Brot aus Frankreich" werden mit heißer Milch übergossen. Das geweichte Brot vermengt man mit dem Mohn und gibt 1/2 Pfund sauber gewaschene Sultaninen und 1/2 Pfund gemahlener Mandeln hinzu. Nach Geschmack süßen, dann 2 Tage kühl stellen und durchziehen lassen. Mit Zucker und Zimt wie Pudding servieren.

Das Gericht sei original berlinisch, sagt Oma Anni. Im Internet werde ich später erfahren, dass die Schlesier das Gericht für sich verbuchen (und dazu weißen Mohn und weniger Mandeln und weniger Korinthen verwenden, das war einst teuer). Eine andere Variante, die sich noch spannender liest, beschreibt Hefeteig und Mohnteig aufeinandergeschichtet (ergänzt durch moderne Zutaten wie Zitrone, Zitronat und Rum), was dann, zur Rolle geformt, ausgebacken wird. Und um die Verwirrung komplett zu machen, steht irgendwo: "Böhmischer Mohnstriezel" als Weihnachtsgebäck, nur im Oderbruch scheint es als Sylvesterspeise verbürgt.

Wieder einmal ein Beweis dafür: Berlin war und ist eine Stadt der Zugewanderten.

Die heutige Story hat mich acht Euro gekostet für den Reibasch (was kein großer Reibach für die Damen vom Flohmarkt war) sowie die Verpflichtung, Anni Schwartz ("mit TZ") zum neuen Jahr etwas Mohnstri(e)tzel vorbeizubringen. Wenn's mehr nicht ist!

Hallentrödel in der Arena, Eichenstraße 4 (seit 1997, derzeit angeblich wieder vom Bezirksamt mit Schließung bedroht); danach zum Kaffee auf das Restaurantschiff "Hoppetosse"

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Caro,

das liest sich toll, Du hast aber auch einen Sinn für solche Dinge und Begebenheiten! Ich an Deiner Stelle würde nochmal drangehen und die Sache mit der Schüssel einer Zeitung anbieten, die lieben solche Texte für die Wochenendbeilage!

Weiter so!
Gruß, Eva

P.S.: Und Danke nochmal für die Einladung, es war super.

Anonym hat gesagt…

Liebe Caro,

ick bin een echter Berliner - auch wenn mein Jargon nicht ganz waschecht ist. Der wurde uns ja in der Grundschule richtig ausgetrieben.
Aber schließlich sind meine Eltern auch Migranten - sie hatten kein Interesse daran, daß ich das Berlinische von Grund auf beherrsche.
Als ich letztens in einer Buchhandlung ein Berliner Kochbuch in die Hände bekam, stellte ich mir genau die Frage: wo haben die Berliner das denn her?

Ich koche für meine Gäste dann doch lieber bayrisch oder türkisch. Vieleicht geht das dann in ein Berliner Kochbuch in 150 Jahren ein - wer weiß!?

Sevgilerimle!

Sertkale (alias Castellduro)

Anonym hat gesagt…

Hallo Habe erst heute diesen Beitrag gelesen ,da ich mir heute meine alte Reibesatte vorgenommen habe.
Sie ist ein altes Erbstück meiner Großmutter die 1912 geboren wurde.
Ich habe noch gesehen ,wie sie Mohnpillen zu Silvester machte . Ich habe mich nie getraut die Satte zubenutzen , da sie ja kaputt gehen könnte.
Eine gute Freundin sagte mir aber ,, warum nicht ?,, du bist doch die einzige die noch weiß was es ist.,, Sie hat recht deshalb werde ich sie jetzt öfters benutzen und Rezepte aus meinem sehr altem Kochbuch [ von 1900] darin backen.