Sonntag, 14. Dezember 2008

Lichterfest

Ende Oktober hat ein Nachbar die Lichterkette um die Mini-Koniferen im Blumenkasten geschlungen. Ab Mitte November, wenn ich im Buchladen ein Buch erwerbe, höre ich die Frage: "Dürfen wir es Ihnen als Geschenk einpacken?" Derlei wird ab Ende Dezember sonst nie gefragt ... Am 2. Dezember bereits, ich weiß es noch genau, es ist ein Dienstag, wünscht mir eine Verkäuferin beim Überreichen von erworbenen Alltagsdingen "Schöne Feiertage!" Eine nicht bestellte Telefonverkäuferin sagt dann am 10.: "Dann wünsche ich ihnen noch eine schöne Weihnachtszeit!"

Mal unter uns, wir haben jetzt allenfalls Vorweihnachtszeit und Weihnachten beginnt in gerade mal 10 Tagen. Mich nervt die allgemeine Weihnachtshysterie jedes Jahr mehr.

Kerzen liebe ich, Licht in der dunklen Jahreszeit auch. Außerdem beschenke ich sehr gern meine Lieben und lass' mich auch gern beschenken, aber dieses Gemütlichkeits-Kitschseelenfutter als kollektiver Konsumanreiz empfinde ich als Zumutung.

Liegt es am allenthalben beschworenen "Krisenjahr 2009"? Nochmal die rasche Mark machen, bevor die Lichter ausgehen? Das Wort "Lichterfest" hatte ich mir immer anders erklärt.

P.S.: Was ich einmal las, dann aber nie wieder, Stichhaltigkeit ist also zu überprüfen: Eine elektrische Weihnachtslämpchenschnur an Balkon oder Ladengeschäft solle allein im Monat Dezember so viel wie ein Kühlschrank das Jahr über verbrauchen.

Mittwoch, 10. Dezember 2008

Jimmy Woo

Seit mehr als anderthalb Jahren gibt es das vietnamesische Restaurant in der Friedelstraße schon, und mehr als die rasche Tom Kha-Suppe hatte ich dort noch nicht probiert. Bis gestern. Wir kommen am frühen Abend, es ist noch fast leer, und auch, als langsam immer mehr Leute kommen, wirkt der Raum nicht überladen. Die Ausstattung ist mit den Bordmitteln entstanden und sympathisch - und hat einige Gimmicks aufzuwarten wie den von innen erleuchteten Bilderkasten, der fast die ganze Längswand einnimmt.

Das Essen kommt rasch und überzeugt beide Testesser. Die Tofu-Spieße der Tom Kha-Suppe sehen zwar sehr nach Geflügel aus, aber sind schön kross. Die Frühlingsrollen sind drei an der Zahl, dazu drei Saucen, die Rollen sehen eher wie "Wraps" aus, munden meinem Gegenüber aber. Don, der lange in Manhatten lebte, meint denn auch, das kleine Restaurant könne sich ebensogut dort befinden. Dann essen wir leckerste Ente und gebackene Ananasscheiben mit parfumierter Honigsauce. Wir werden wiederkommen.
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Jimmy Woo, Friedelstraße 24, 12047 Berlin, keine Bank- oder Kreditkarten

Dienstag, 9. Dezember 2008

Ohne Preisaufschlag

Heute Morgen ist die Stimme freundlich und bestimmt. Und damit ist sie anders als sonst.

Die Stimme kam automatisch mit dem rosa T ins Haus. Sie nennt sich Box, ist aber unsichtbar. Sie muss eine Art guter Hausgeist sein, denn zu ihren ganz eigenen Zeiten ruft sie mich einfach so an. Ich bin vor einem halben Tag nach Hause gekommen, und nun lässt sie mich wissen, wer für mich angerufen hat. Den Zeitpunkt dazu entscheidet sie nach Gutdünken, unvermittelt. Es kann also passieren, dass sie mich nicht mag, dann erfahre ich erst beim nächsten Besuch von Haus und Geist, wer mich in den letzten Tagen oder Wochen zu erreichen versucht hatte.

Die Stimme zog bei mir ein zusammen mit der komischen Magentafirma, und ihre Befehle waren klar, eindeutig und manchmal streng. Ihre Art, mich zu tadeln, ging schon nahe, wenn sie zum Beispiel sagte: "Sie haben eine falsche Kennnummmer eingegeben. Geben Sie ihren PIN jetzt ein und drücken Sie auf die Rautetaste!"

Die Stimme ist weiblich, irgendwie nicht nett und mindestens sechs Jahre alt, denn sie stört mich am Sonntag morgen nie vor neun, das können Kinder nicht, die noch zu klein sind für die Schule.

Und nun gibt es eine neue Stimme. Sie ist gleichermaßen freundlicher und bestimmter. Dass sie neu ist, höre ich sofort, und Bestätigung erfahre ich, als ein völlig neuer Satz zu hören ist: "Den Gesprächspartner erreichen Sie mit der Sieben ohne Preisaufschlag!"

Ja, wie? Hab ich da jedes Mal einen Preisaufschlag bezahlt? Ich dachte, ich zahle schon für die Geisteranrufe? Liebe Magentafirma, ich fürchte, mir reicht's und der Hausgeist wird bald ausziehen müssen. Zumal ich endlich wieder beim Nachhause Zahlen sehen will: Fakten, die mir freudig entgegenblinken, eindeutig tiefrot: "3". Das bedeutet ohne strenge Säuselstimme: "Sie hatten drei Anrufer!" Die kann ich auch nachts abhören und schon seit eh' und je ohne Aufpreis zurückrufen.

Das könnte ich Ihnen auch selbst sagen, freundlich und bestimmt, Ihre Stimme hab' ich ja im Ohr.
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Ein anderes merkwürdiges Telefonereignis hier.

Sonntag, 23. November 2008

Wintermorgen am Maybachufer

Zwischen dem Herbst- und dem Wintermorgen habe ich fünf Dolmetscheinsätze und 655,2 Kilometer zurückgelegt. Ich fühle mich wie der Indianer, der am Schienenstrang der Eisenbahn hockt und darauf wartet, dass seine Seele nachgereist kommt: Die Stimme ist heiser, für den Rest des Tags halt ich die Klappe. Basta.

Mittwoch, 19. November 2008

In der Rütli-Schule

Ich wohne gern in Neukölln. Und gestern habe ich die Rütli-Schule besucht. Richtig, das ist jene Schule, die nach einem Brandbrief der Lehrer ab März 2006 als "unregierbar" in den Gazetten zitiert wurde.

Das ist lang her. Derzeit steigt der Bildungsstand Neuköllns dramatisch: Es ziehen immer mehr Studenten, Künstler und Besserverdienende her. Die Frühphase dessen, was Gentrifizierung sein kann, führt dazu, dass der Berliner Stadtteil keinen so ganz schlechten Klang mehr hat wie noch vor wenigen Jahren. Als vor kleinen Ewigkeiten meine Dolmetscherkollegin Kerstin und ich völlig unabhängig voneinander nach Neukölln zogen, war unser jeweiliges Umfeld entsetzt. Aber der Bezirk ist groß, wir wohnen in der "schicken" Ecke, da haben sich alle rasch wieder abgeregt. Aus der Presse und über Nachbarn sind wir so einigermaßen auf dem Laufenden, wie das Leben im Viertel aussieht. Dachten wir. Bis wir dieser Tage einen spannenden Dolmetschauftrag bekamen - wir dolmetschten bei der mehrtägigen Begegnung von Sozialarbeitern, Polizisten, Lehrern und Sozialarbeitern aus Clichy-sous-Bois und Neukölln. Das französische Clichy ist 15 Kilometer von Paris entfernt und zählt zu den Problemvororten - und aus Pariser Perspektive ist Neukölln Vorort.

Die Schwierigkeiten, auf die man in beiden Ortschaften trifft, ähneln sich, aber die Strukturen beider Länder, der Verwaltungen und Schuleinrichtungen nicht. Dennoch suchen nun alle gemeinsam nach den besten bereits umgesetzten Modellen, um auch jenseits des Rheins den Bildungsstand anzuheben, entwickeln in Kooperation miteinander neue Projekte.

Solange alles auf der Arbeitsebene stattfindet und keine offiziellen Statements gegenüber der Presse gegeben werden, muss hier die Dolmetscherin schweigen. Aber die Gespräche und Begegnungen in der Europäischen Akademie, in der Rütli-Schule und anderenorts waren spannend - und außergewöhnlich. Selten hatte ich als Dolmetscherin so stark das Gefühl, vom Thema betroffen zu sein, und sei es auch nur als Nachbarin, wie dieser Tage. Und selten habe ich mit Kerstin so viel mitgelitten wie am 18., als Aleksander Dzembritzki, Leiter der Rütli-Schule, voller Elan und Mitteilungsdrang sämtliche Schnellsprechrekorde brach, so dass Kerstin immer lauter wurde, worauf er sich sicherlich wie ein Getriebener vorgekommen sein muss, was ihn noch schneller werden ließ ... Das ist die Besonderheit der mobilen Dolmetschanlage: Wir Dolmetscherinnen stecken nicht im Kabuff, sondern sind mittendrin.
Auch die anderen Tage waren Viel- und Schnellsprechtage. Am Ende war ich heiser, was ich gerne für 24 Stunden als kleinen Schaden mitnehme, sollte es mir gelungen sein, meinen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dass Neukölln nicht mehr auf noch mehr Zuzug gebildeter Kreise warten muss, sondern möglichst rasch aus eigenen Kräften die Bildungsquote im Kiez deutlich verbessert. Ja, ich weiß, Bildung braucht Zeit, man wird ja noch träumen dürfen. Aber kein Traum ist, dass hier offenbar ein neuer Ansatz verfolgt wird, der sich schon mittelfristig auswirken könnte. Wir hoffen, alle Beteiligten nächstes Jahr in Clichy-sous-Bois wiederzusehen.

Sonntag, 16. November 2008

Herbstmorgen am Maybachufer

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zum Vergrößern Bild anklicken

Mittwoch, 5. November 2008

Obamania

Im zweiten Untergeschoss von Berlin-Neukölln stehen zwei junge Türkinnen, so um die 17 Lenze, eine davon trägt Kopftuch am Kiosk der U-Bahn-Haltestelle Herrmannplatz. Sie sehen aufs BZ-Titelblatt, in dem der über den Tod der Großmutter trauernde künftige US-Präsident abgebildet ist. "Ooooch, wie süüüüüüß! Obama mit Trääänen! Du, den kauf' ich uns jetzt!"

Popstar B.O. Vielleicht hilft's ja, die eine oder andere für Politik zu interessieren.

Freitag, 24. Oktober 2008

Werte

Geld wird weniger wert werden, damit die Schulden in den USA schwinden. Böser Satz, aber so fühlt es sich an. Dann müsste im Gegenzug Arbeit mehr wert werden. Qualifizierte Arbeit.

Ich habe mir ein Fernglas für die Dolmetscherkabine gekauft, manchmal sehen wir ohne Hilfsmittel aus großer Enfernung nicht, was vorne 'gespielt' wird.

Das Fernglas kostetet bei Conrad-Elektronik genau 9,99 Euro, made in China. Das mitgelieferte Plastiketui stank erbärmlich. Also rushte ich noch schnell zu Karstadt und fand ein Schlüsseletui mit Volumen: Ist das Fernglas zusammengeklappt, passt es perfekt rein. Kostenpunkt für das hervorragend verarbeitete Lederteil: stolze 22,50 Euro. Das Etui lag inmitten von Ware der Firma Picard, einem trotz des französischen Namens bekannten deutschen Unternehmen.

Wenn ich Kleidung kaufe, vermeide ich Saisonpulis für 18,90 Euro aus China, wo wir in Europa so wenig über die Umstände der Herstellung wissen, wie die Arbeiter entlohnt werden, was für Umweltfolgen die Produktion hat usw. Ich kaufe lieber zu den Schlussverkäufen, so kann ich mir auch teure Ware leisten, die dann mehr als eine Saison hält.

Beim Fernglas machte ich eine Ausnahme, das Gerät brauche ich nur selten, die Leistung reicht mir, und da ich dem Gegenstand keinen großen Wert zumesse - obwohl es den als optisches Instrument durchaus hat - legte ich ohne zu zögern Geld für den Dumpingpreis auf den Tisch.




















Zuhause dann die Überraschung: als ich Schlüsselring mit Kette aus dem Inneren des Etuis rausschnitt, fiel mein Blick auf ein ganz unten, diskret angebrachtes Schildchen: "Made in China". Nichts deutscher Hersteller und hoher Preis für heimische Arbeit! Der Herstellerhinweis (längst in der großen Tonne) hatte auch eine andere Herkunft suggeriert. Also haben hier die Zwischenhändler dran verdient, und nicht zu knapp.

Beim Klamottenkauf mit einer Freundin letzten August kamen wir auf den Gedanken, dass es sicher bald ein Geschäft gibt: "Not made in China". Isabelle und ich wären dort gern Kundinnen.

Die Amis können nur propagandistisch die Einhaltung von Menschenrechten fordern. In Taten haben sie ihren eigenen Markt von Waren- und Geldimporten abhängig gemacht. Inflation ist deren einziger Ausweg.

Montag, 13. Oktober 2008

Kunden arbeiten mit

Etliche Stunden verbringe ich schon am Rechner und suche Flüge. Ich mussdarf nach Sète, halb Arbeit, halb Erholung, könnte über Paris zurückreisen oder noch an der Küste bummeln. So viele schöne Alternativen! Aber mir schwirrt bald der Kopf und ich habe viele Browserfenster geöffnet, um zu vergleichen: Es gibt fünf verschiedene Anreisewege mindestens, dazu sieben Fluggesellschaften oder Suchseiten, dann noch die Bahn, eine Buslinie, und ach, welches Zugtempo hätten's denn gern, davon hängt auch die Umtauschbarkeit des Tickets im Falle von Verspätungen ab. Und überhaupt: wie lange brauche ich für den Transfer vom Flughafen zum Bahnhof? Wie ist das in Lyon, wie in Nizza? Da kenn' ich immer nur die Zielfahrt nach Cannes ...
Ich wühle mich durch Newsgroups, zum Glück kann ich die Sprache meines Reiselandes.

Im Vergleich zu früher geht hier mein freier Abend drauf. Denn Bürozeit ist Bürozeit, der Wettkampf heftig, ich muss schnell auf Anfragen reagieren. Einst saß man eine Stunde tagsüber im Reisebüro an der Ecke rum und bekam zur Not danach einen Anruf, ging dann nochmal vorbei zum Ticket abholen.

Heute streikt das System nach drei Stunden: eine geforderte Super-Ausgabe-Sicherheitskennziffer finde ich nirgendwo auf dem Plastikgeld, und nachts um elf ist auch bei der Bank keiner mehr erreichbar.

Von wegen Effizienz. Zum Glück muss ich nächste Woche nicht auch noch selbst ins Cockpit und Flugzeug lenken.
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Foto: Arbeitsplatz Nr. 3 im Sommerlicht - beim Drehbuchübersetzen oder -schreiben sehe ich am Abend wenigstens ein Ergebnis!

Sonntag, 12. Oktober 2008

Sonntagmorgen: Spamfrei

Ein Sonntag um acht in der früh: Im Briefkasten nicht ein Spam, wo sonst 15-20 Müllmails zu entsorgen wären. Die Spammer scheinen einen nine to five-Job zu haben - und anders als viele andere Arbeitnehmer ein arbeitsfreies Wochenende.

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Berlin französisch

Berlin wird wieder französischer. Wir haben es mit der zweiten großen Zuwanderungswelle seit dem Widerruf des Edikt von Nantes zu tun. Beweise gefällig? Voilà ! (Bilder zum Vergrößern anklicken. Diese Serie wird fortgesetzt.)

Sonntag, 5. Oktober 2008

Fotoindiz

... während im Frühstückscafé alle Indizien für Herbst sprechen ...

Freitag, 3. Oktober 2008

Jahreszeitlos in Nordneukölln

Seit Tagen wird das Licht heller und heller, so schön, dass man allein vom Hingucken besoffen werden könnte. Ebenfalls seit Tagen balzen die Blaumeisen, und sähen nicht die Erlen auch noch so aus, als wollten sie bald blühen, würde ich mir diese Einleitung verkneifen, deren Echo mal wieder lautet: Jahreszeiten- und Wetterchaos. Während auf Schwarzwald- und Gebirgshöhen der Winter da ist, reisen Kindergarteneltern in den bunten Herbst, und kinderlose freelancer planen ihren Restsommerurlaub. Am 11.8. um 18.52 Uhr ging die Regenzeit in Berlin los, gefühlter Höhepunkt: das letzte Augustwochenende. Isabelle aus Paris hatte sich hinter vielen Büchern auf meinem Sofa verschanzt und ward verschwunden, bis sie nach Stunden einmal kurz aufsah, sich die vorbeiziehenden Regenvorhänge besah und seufzte: 11 novembre ! (An diesem tradtionellen Lese- und Zuhausebleibtag gedenken die Franzosen des Endes von WW I - und wissen oft gar nichts von 11 Uhr 11.)

Die Zeit strukturieren daher auf Schönste die beiden großen Berliner Stadtmagazine mit Ausgehtipps und Kritiken. "Neukölln rockt" stand da vor einiger Zeit sogar auf dem Titelblatt - und beschrieb einmal mehr den Wandel Nordneuköllns zum inzwischen-nicht-mehr-Geheimtipp. Doch scheint der Kiez schwer zu finden zu sein. Letztens wurden von der einen Zeitschrift fünf Gastrokritiker in die Gegend ausgesandt, um die kulinarischen Höhepunkte "Kreuzköllns" ausfindig zu machen, im aktuellen Heft schwarz auf weiß der Beweis, dass die überwiegende Mehrheit gar nicht bis Neukölln durchgedrungen ist, den Kiez also gar nicht verorten konnte. Oder haben sie die Aufgabenstellung nicht richtig gelesen? Es handelt sich bei den Kritikern allesamt um Kollegen anderer Zeitungen, vermutlich festangestellte Kollegen, deren Ergüsse man nicht moniert - oder aber es sind Kurzbesuche von Gästen in Textform, und wer wird schon am Geschenk rumkritteln?

Ansonsten ist der Kiez als wie zuvor, ein wenig zu laut in seinem Auftreten, überraschend, gebastelt, heterogen, was Alter, Herkunft und soziale Schicht angeht und stellenweise sogar schön.

Was indes auffällt: Es ist hier immer häufiger Französisch zu hören. Durch die deutsch-französische Grundschule, die seit einigen Jahren aufgebaut wird, ziehen Menschen der Frankophonie gerne in den Bereich zwischen Maybachufer und Sonnenallee, denn für den weiterführenden Unterricht ist auch die deutsch-französische Europaschule im Rollbergkiez nicht weit. Es sind weniger die schon lange in Berlin wohnenden Franzosen, die ihre angestammten Vierteln mit den entsprechenden Schulen nicht verlassen, denn Menschen aus französischsprachigen Ländern und junge Franzosen, für die der alte Westen nicht selten zu teuer ist. So wird Neukölln bunter, und das ist wunderbar so.
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Foto: Links Neukölln, rechts Kreuzberg. Kreuzkölln ist also eigentlich nur hier, auf der Brücke. Und die Natur macht wieder Frankreich-Werbung ;-)

Samstag, 27. September 2008

Berlin-Marathon

Nein, ich laufe nicht, also muss ich mir auch nicht die Frage stellen lassen, ob ich für Aids-Kinder in Afrika laufe oder für Schülerinnen auf dem chinesischen Land - beides ist unterstützenswert, aber ich kenne andere Mittel als Asphalttreten.

Seit heute am frühen Nachmittag ist am Neuköllner Rand zu Kreuzberg die Hölle los. Über den Kottbusser Damm führt nämlich die Strecke, und da ist bereits am Tag vor dem eigentlichen Ereignis alles abgesperrt, die Kinder und Skater seien auf dem Parcours schon mal unterwegs und morgen früh die Rollifahrer, wusste die Bedienung vom Café Eckbert, bei denen ich mittags bei einem Espresso die Zeitungen zu lesen versuche.

Zur Folge hat das, dass die umgehenden Straßen dicht sind. Blechkisten, soweit das Auge reicht. In den meisten sitzt nur der berühmte eine Passagier. Überwiegend Männer sind es bei meiner Stichprobe, die ca. einen Kilometer umfasst (erst ging ich, dann rollte an mir doch einiges im Schritttempo). Viele haben das Fenster auf und unterziehen ihre bumm-bumm-Boxen einem Belastungstest.

Die Straße stinkt, die Luft zerreißt neben den miteinander konkurrierenden Rhythmen auch doch das Schrapp-schrapp-schrapp der Hubschrauber, die wie die ghetto birds in LA über uns kreisen; dazu noch viel Tatü-tata in Rot-Weiss.

Zwei Stunden dauert die Belagerung insgesamt; ich flüchte rasch in die Stadtschreiberwohnung und verrammele mich dort.

Und verstehe nicht, warum so viele Leute, die ja aus der Zeitung vom Marathon erfahren haben, an einem schönen Samstagnachmittag (Schäfchenwolken!) ins Auto steigen. Und warum müssen sie auch noch hupen - das vierte Geräusch, das mit der Zeit auch immer ungehaltener wird. Als würde Hupen etwas ändern.

Oder können die vielleicht alle gar nicht lesen? Und morgen das Ganze dann nochmal! Und das soll gesund sein?

Freitag, 26. September 2008

Infekt im Zeitfenster

"Dann nutzt du ja das Zeitfenster ideal", sagt der Produktionsleiter der Firma B., "dann werd' mal wieder schnell gesund!". Noch so ein komisches Wort, das wir aus dem Amerikanischen haben: das Zeitfenster. Wo ist bitte die Zeit eine Wand, in der Fenster wären? Durchs Fenster seh ich eigentlich hinaus, hier aber soll ich im Zeitfenster etwas MACHEN. Wäre eine Zeittür nicht viel praktikabler? Oder ich nehm' gleich den Zeittunnel ...

Soit! Egal, weiter!

Mein Körper hat auf die kurze Phase zwischen zwei Jobs Anspruch erhoben und sich einen grippalen Infekt zugelegt. Daher bin ich jetzt halskratzbürstig, weil ich keine Lust hab auf Eisfüße, Triefnase und tagsüber Bett. Jetzt sitze ich wie für die Polarexpedition eingepackt auf dem Sofa und sammle die besten Hausmittelchen gegen den Sch...

Ordentlich Pfeffer in heißem Whiskey, sagte Raymund (heiß? Whiskey?), das sei eine Rosskur, aber helfe. Hab nix Hochprozentiges hier, da versuch' ich's lieber mal mit den Alfalfa-Sprossen, die er bei mir um die Ecke herstellt.

Der heiße Zwiebelsud mit Honig war wofür nochmal? Gegen Husten. Hab ich gemacht. Und auch Lindenblütentee getrunken (Danke, Britta), Umcka getröpfelt (zum Apotheker: "Ich sag' den Anfang, Sie sagen das Ende: Umcka..."). Außerdem: Badewanne (nachts halb drei, et oui, Isabelle, anders als in Paris sind viele Berliner Wohnungen groß, haben Bad- und Küchentrakt und ich kann nachts das Wasser laufen lassen), dicke Socken (die berühmten Links-Rechts-Socken, doppelwandig), Wärmflaschen, Hühnersuppe (als Vegi).

Meine beste Empfehlung gegen das, was wir umgangssprachlich 'ne Erkältung nennen, ist dies: Hörbucher. Da meine Arbeitssprache Französisch ist, höre ich hier - klick - bei litteratureaudio.com. Da finde ich viele Klassiker wieder, Literatur, Politik, Geschichte, vor allem sind Franzosen vertreten, aber auch ein wenig Weltliteratur. Es ist ein Verein, der Sehgeschädigten Zugang zur Literatur erleichtern will, der diese Dateien aufnimmt und kostenlos zur Verfügung stellt. (Mit fast - 10 Dioptrien zähl ich mich ein wenig darunter, im Bett lesen geht oft nicht, der Bügel klemmt, das Licht spiegelt in der Brille ...)

Je mehr ich höre und wiederhöre, desto begeisterter bin ich. DAS hilft gegen Erkältung! Wer kennt ähnliches auf Deutsch und Englisch? Und noch Hausmittelchen gegen Erkältung? Da verschwinde ich doch ganz gerne mal ein Weilchen, nehme mir Zeit zum Gesundwerden und bin dann mal kurz "weg vom Fenster" ... wo? Im Tunnel ...

Sonntag, 21. September 2008

Arbeitszeit

Wieder mal das leidige Thema Arbeitszeit. Ich übersetze ein Drehbuch aus dem Französischen, kam nach einer Probeseite auf ca. 60 Stunden Arbeitszeit. Netto. Nun geht es in diesem Alzheimer-Thriller über ein Thema, das ich nicht kenne, es spielt in einer Gegend, die mir fremd ist, also lese ich mich ein wenig ein. Dann formatiere ich die Datei um, die anfangs hakt. Dann koche ich Tee, dabei fällt mir auf, dass ich die Spüle mal wieder gründlich scheuern muss, morgen kommen Handwerker ...

Und als ich mittendrin bin, spüre ich, Stunden später, wie sich meine Muskeln von der Schreibtischarbeit verkürzen, Millimeter für Millimeter, da kann' ich fast zusehen dabei. Einige Stunden später sind die Füße eiskalt, ich bade, mitten am Tag. Das tut meinem Gedankenfluss und dem Text gut. Ebenso, dass ich in den Pausen immer in der Küche bin oder im Wohnzimmer oder im hinteren Zimmer am Stehpult, und mal laut, mal leise lese. Ich höre meine Stimme, sie klingt rauer als sonst, sie bleibt oft still dieser Tage, wo tief in mir drin die vielen Stimmen und Sprachen des Drehbuchs erklingen. Wichtig: Ich lese auf Deutsch, telefoniere zwischendurch - auf Deutsch, gehe ins Café, nur, um die Bedienung zu besuchen (eine Studentin von mir). Ich stelle meinen Kopf wieder ein, justiere meine Sprache neu.

Alles das muss ich zur Arbeitszeit hinzurechnen. Den Kostenvoranschlag für die Reise mit einer diplomatischen Delegation zwischendurch, die kleinen Gänge (Druckertinte ist alle) und die größeren Pausen, die der Erhaltung oder gar Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit dienen. Als Freiberuflerin erlebe ich oft: Sie sind nicht drin im Budget. Also versuche ich mich so gut es geht zu programmieren: Ich sitze am Schreibtisch, dem Cockpit, Blick geradeaus und in Routinemomenten schalte ich schon mal auf Autopilot. Ich lese ja am Ende als meine eigene Erstkorrektorin alles mehrfach durch ...

Fasten seat belt, es geht (wieder) los ...

Sonntag, 14. September 2008

Ereignis

Die Stadtschreiberin von Neukölln kommt gerade sehr wenig raus, sie schreibt. Daher sind es auch wenig Dinge aus Neukölln, über die hier derzeit berichtet wird.

Heute gab es ein Ereignis. Es klingelte. Niemand war angemeldet, es ist Sonntag, also kein übliches "Pohost-ich-komme-mit-Werbung-die-Müllabfuhr!"-Klingeln, auf das ich oft schon gar nicht mehr reagiere. Es klingelte wieder.

Endlich ging ich hin. In der Gegensprechanlage ergab sich folgender Dialog:

Ich: Hallo?
Er: Sie haben geklingelt!
Ich: Nein, Sie haben geklingelt!
Er: Ich bin oben in meiner Wohnung, da kann ich nicht bei ihnen geklingelt haben!
Sie: Ich auch, äh ... nicht!
Er: Aber sie haben doch gerade bei mir geklingelt!
Ich: Nein. Ich bin auch oben in meiner Wohnung. Ich glaube, wir hören uns über die Gegensprechanlage.
Er: Und was jetzt?
Ich: Wir hängen wieder ein.
Er: Das machen wir! Schönen Sonntag noch!
Ich: Dann war das Ganze wenigstens für etwas gut: Schönen Sonntag wünsch' ich Ihnen auch!
Er: (Klick.)
Ich: (Klick.)

Und ich dachte immer, die Gegensprechanlage blockierte alle anderen Parteien, wenn eine Verbindung zwischen unten und einer der Wohnungen hergestellt ist!
Welchen Nachbarn ich da an der Strippe hatte, weiß ich nicht. Aber es war ein netter Gruß, der mich aus der Arbeit riss. Ob das Schellemännchen das geahnt hat?

Sonst ist nichts passiert. Wirklich nichts.

Freitag, 29. August 2008

1. Neuköllner Puppentheaterfestival

Ein aktueller Tip: Von heute bis zum 31. August 2008 findet das 1. Puppentheaterfestival am Böhmischen Platz statt. Puppenspieler und Puppentheater aus Neukölln, Berlin, der Türkei, Syrien, Frankreich und Bosnien spielen für Kinder auf einer Bühne auf dem Böhmischen Platz. Abends gibt es für Erwachsene Vorstellungen im Puppentheater mit dem Namen K&K-VolkArt, das direkt gegenüber liegt.

"Was ist Heimat?" "Was ist fremd?" "Fremd in der Heimat oder heimisch in der Fremde?" In einem Stadtteil, der durch vielfältige kulturelle Hintergründe beeinflusst, von Armut, geringen Bildungschancen und Gewalt gezeichnet, aber auch von herzlichen Menschen und dem sozialen Miteinander geprägt ist, veranstaltet K&K VolkArt ein Festival, das auf Fragen kultureller Identitäten Antworten sucht – oder auch erst die richtigen Fragen finden möchte.

Für mehr Infos und das Programm bitte hier klicken.

Donnerstag, 28. August 2008

Historische Bauelemente

Was unser Nachbar "Herr Hartmut" ist, so hat dieser einen Kläffer. Einen immer schmutzigweißen Köter undefinierbarer Rasse, der jedes Türklingeln eilfertig anbellt. Dazu hat Herr Hartmut auch noch Fräulein Tochter, das bald schulreif ist - zwei Gründe, weswegen unser Bewohner im Erdgeschoss peinlich genau darauf achtet, dass die Hauseingangstür oft und lange offensteht.

Bis neulich, es war ein Julimittag zwischen drei und halb vier, ein harmloser Mittwoch noch dazu, ohne jeglichen Markt oder wochenendlichen Touristentrubel, böse Menschen durch diese stets einladend offene Tür das Haus betraten und von sehr vielen Wohnungstüren Türblätter und -knäufe abmontierten bzw. stellenweise sogar abrissen, an einem sonnenhellen, ruhigen Tag wie gesagt, vermutlich in irgendeinen Arbeitsoverall gekleidet, auf dass der Arbeitseinsatz auch schön offiziell aussehe. Die Nachbarn hier passen eigentlich immer auf, wenn hier neue Menschen ein- und ausgehen, so sehr, dass es mir manchmal zu viel ist. Hier aber ging alles so rasch vonstatten, dass von den Hausbewohnern niemand etwas mitbekam. Nicht mal Herrn Hartmuts Köter hatte angeschlagen.

Nur das Ergebnis war nicht zu übersehen. Als ich halb vier gehen und die Tür hinter mir zuziehen wollte, griff ich ins Leere. Da war anstelle des runden Knaufs nur noch ein hässliches Nichts.

Am Sonntag besuchte ich einen der Berliner Flohmärkte und sah haufenweise Türklinken, Knäufe, Schrankschilde, Türbeschläge akkurat präsentiert und was an derlei in manchen schicken Immobilien an Mobilem so vorhanden ist. Und ich erwarb, zum horrenden Preis von 10 Euro, nachstehend abgebildeten Griff.

Und ich stellte mir vor, wie diese Knäufe, Verschlüsse und Türblätter, zunächst nach Form und Stil wohlsortiert, von den Häusern auf die Märkte und dann wieder zurück in die Häuser wandern, von wo aus sie wieder ihre Reise antreten. Dabei müssen sie natürlich immer mehr durcheinander geraten, denn die Ware ist nicht sortiert und die Anzahl der gestohlenen und nachgekauften Messingdinge ist nie gleich ...

Wir Mieter der anderen Geschosse haben jetzt versucht, mit Herrn Hartmut von ganz unten ein ernstes Wörtchen zu reden. Das war wahrlich nicht einfach. Aber immer öfter klappt es und die Eingangstür wird nur kurz geöffnet für Hund und das gnädige Fräulein. So wisset, Ihr potentiellen Diebe, dass unser Haus inzwischen eine Alarmanlage hat. Und überhaupt: Die meisten historischen Türbeschläge sind gestohlen, bei uns ist fast nichts mehr zu holen! Wegbleiben!

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Andere Geschichten von und mit Herrn Hartmut (der natürlich anders heißt): hier und hier bitte klicken.

Samstag, 23. August 2008

Gentrifizierung ...

Hier beim Foto aus dem Reuterkiez fehlen am rechten Bildrand nur Komma und Fragezeichen. Und es fehlt die Antwort, bien sûr !

Samstag, 9. August 2008

Digitales

Fotografiert wird heute immer mehr digital. Die Masse der geknipsten Fotos steigt ... Die Menge bringt ihre Entwertung mit sich - das Wort "knipsen" ist beredt. Auf der anderen Seite bringt die Masse dann auch immer wieder Starbilder zutage. Die Menge der verarbeiteten Filmrollen war früher das Geheimnis der Fotografen, heute verschwindet viel "Belichtetes" rasch auch wieder im digitalen Nirwana.

Partygespräche: Einer berichtet von einer Reise mit Freunden. Es war letzten Winter, sie waren auf einer Hütte, mehrere digitale Apparate im Gepäck, "und alle Fotos sahen scheiße aus".

Bilderdurchsicht von der Party: Die Fotos sind gnadenlos. Schweiß, Hautunreinheiten, Anflüge von Grimmigkeit. Auch die Therapie Ich-knipse-viel-und-lass'-Dich-das-Ding-vergessen hilft bei manchen nicht.

Aber der Gedanke, wie es wäre, wenn ein digitaler Apparat nur schöne Bilder produzierte, die Menschen verschönerte. Ein solches Patent schüfe Milliardäre.

Montag, 4. August 2008

Blick aufs Wasser

Sonntag, 3. August 2008

It's tea time

Eine Absage der etwas anderen ABM vom Arbeitsamt

Jede Woche mindestens zwei: unaufgeforderte Bewerbungen. Seit Jahren schreiben und entwickeln wir Filme, haben auch ein paar produziert, derzeit steht aber das Entwickeln und Forschen im Vordergrund. Aber wer einmal in den Adressbüchern steht, braucht eine Musterabsage wie diese hier:


Sehr geehrter Herr Sonundso,

Sie bewarben sich unaufgefordert bei unserer Filmproduktionsgesellschaft. Wir sind eine auf Dokumentarfilm spezialisierte Firma, wie Sie nach ein wenig Recherche leicht hätten bemerken können. Bei der Herstellung von Dokumentarfilm wird nur sehr selten ein Außenrequisiteur (wahlweise: Schauspieler, Produktionsfahrer, Kostümbildner) benötigt. Weitere Recherche hätte Sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir derzeit unsere Energien auf Stoffentwicklung konzentrieren und in letzter Zeit keinerlei öffentliche Fördergelder erhalten haben, ohne die in Deutschland kaum noch Filme hergestellt werden können, was auch für Fernsehproduktionen einer gewissen Größenodrnung gilt.

Ich weiß nicht, ob es mangelnde Phantasie, Branchenkenntnis oder aber der Druck des Arbeitsamtes ist, aber Ihre Bewerbung kommt mir so vor, als würde sich hier ein Werkzeugschlosser in einer Schreinerei bewerben. Sollte das Arbeitsamt Sie zu einer Mindestzahl an Bewerbungen je Monat nötigen (und damit zu Mehrausgaben, von denen ich gar nicht weiß, wer diese trägt), so dürfen Sie gerne diese Mail hier Ihrem Arbeitsamtsmitarbeiter vorlegen. Die Anzahl der in Berlin tätigen Produktionsfirmen ist recht groß, von ihnen ist eine gewisse Anzahl auch im Spielfilm aktiv, die regelmäßig Aktiven dürfte deutschlandweit die Zahl von 80-100 nicht überschreiten. Insofern ist ein Zuschütten der kleinen Firmen mit Bewerbungen nicht nur volkwirtschaftlicher Unsinn, sondern auch höchst kontraproduktiv. Heute bindet es am Sonntagnachmittag zum Beispiel meine Energie, die ich für die Aufrechterhaltung meiner Arbeitskraft dringend brauche!

Ihre Unterlagen bewahren wir bis einschließlich 8.8.08 hier auf, danach werden Sie entsorgt.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und auch Glück!
Mit freundlichen Grüßen,
- Unterschrift -


Zweiter Akt, Antwortschreiben auf Ihre Antwort vom 06.08.2008


Sehr geehrter Herr D.,

weil Sie uns darauf ansprechen: Die Produktion über die Ackerstraße wurde 2002 gedreht, 2003 bis 2005 auf Festivals gezeigt und hat dort Preise gewonnen. Sich 2008 mit Verweis “auf ihr aktuelles Projekt Ackerstraße” zu beweben kommt nicht gut.

Mein Tipp: Lesen Sie die Fachpresse! Dann wissen Sie, wer was vorbereitet. In den Produktionsnachrichten stehen sogar die Fördersummen, dann können Sie erahnen, da Sie ja Filmwirtschaftler sind, ob es zu Reenactment kommen könnte oder nicht.

Weiterer Tipp: Lernen Sie, was die formale Gestaltung eines Briefes ausmacht. In Mails gelten ausschließlich in Großbuchstaben gehaltene Worte als Schreien, die meisten von uns lesen fast nur noch Mails, übertragen zurück auf den geschriebenen Brief. Außerdem Formalien: Hinter Satzzeichen erfolgt ein Punkt, vor und nach Gedankenstrichen auch, was, wie das Wort verrät, nicht bei Bindestrichen gilt. Verzeihen Sie mir diese Korinthenkackerei, aber da Filmmitarbeiter bei sehr kleinen Produktionen mehrere Aufgaben übertragen bekommen, es also durchaus denkbar ist, dass jemand, der den Set gestaltet und fotografiert auch in der Aufnahmeleitung mitarbeitet, also mit Behörden korrespondieren muss für Drehgenehmigungen etc., schließen Sie sich durch Unkenntnis in diesem Bereich selbst aus.

Das war mein letztes Wort. Wir drehen derzeit nicht, stecken in Projektentwicklung – sicher noch für einige Zeit.
Mit freundlichen Grüßen,

- Unterschrift -

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Ich glaube, der Herr bekam vom Arbeitsamt Kurse in Englisch, Computer und Marketing bezahlt, das ging aus der Bewerbung hervor. Briefeschreiben und Bewerbungstraining wären hier angebracht gewesen. Es handelt sich um einen ausgebildeten, studierten Herrn in den Fünfzigern.

Freitag, 1. August 2008

Digital Love (II)

oder: Wie Technik unser Liebesleben verändert

Berlin, Winter 2007: Rita und Bernd sind ein Paar. Oder sind Rita und Bernd kein Paar? Manchmal weiß Rita das nicht so genau, denn Bernd kann ganz schön kurz angebunden sein, impulsiv und aufbrausend. "Vertrauen braucht Zeit!", denkt Rita, und schenkt ihrer Beziehung welche, denn die Liebe ist gar groß.

Bereits in den Wochen des Honigmonds erzählt Rita neben vielen anderen Dingen auch von früheren Lieben und Flirts. Ihr geht es darum, den Weg deutlich werden zu lassen, den sie gegangen ist, Fragen zu stellen, die dabei zutage traten, Themen aufzuwerfen, zu denen sie gerne Bernds Meinung wüsste. Bernd reagiert mit Skepsis und Misstrauen, einer emotionalen Gemengelage, die ihn auf jeden Nebensatz lauschen lässt, in dem Rita Männer vorkommen lässt.

Rita merkt recht bald, dass bei Bernd in solchen Momenten Wut hochkocht, sie versucht daher so gut sie kann, derlei Anlass zu vermeiden. Aber manchmal genügt eine Kleinigkeit, ein Buch mit Widmung aus früheren Zeiten, eine Urlaubspostkarte, die Bernd zum Ausrasten bringt. Rita versteht nicht, denn natürlich hatten beide ihre jeweiligen Vorleben, Bernd hat mehr "Verflossene" als sie. Und so kommt es alle paar Wochen zum Streit und es fallen Worte wie "Geh!" und "Wir sind getrennt!"

Dann geht Rita und sitzt wenig später am Computer, stellt sich Fragen. Dabei stimmt sie milde, dass Bernd alle Orte, die sie gemeinsam besucht und mit ihrer eigenen Geschichte belebt haben, als virtueller Reiseführer auf einer Internetseite einträgt. Dabei stimmt sie wütend, dass sie jetzt Mails von sogenannten "sozialen Netzwerken" erhält, in denen beide Mitglieder sind. "Bernd hat sein Profil geupdatet" steht da in hässlichem Neudeutsch, und dann sieht Rita, was ihr ebenso hässlich vorkommt: Wo gestern noch "in fester Partnerschaft" stand, steht heute "suche Freundschaft oder Liebe". Sie beschließt, künftig über Privates keine Angaben mehr im Netz zu machen, so hält sie es schon mit religiösen und politischen Ansichten. Bei der anderen Newsgroup, die sie aufruft, findet sie Bernd gar nicht mehr in der Liste ihrer "Freunde". Sie sucht weiter und sieht Frau B., mit der sie sich vor einem Jahr in einer Arbeitsangelegenheit so heftig zerstritten hat, dass es zum totalen Bruch kam, was selten ist in Ritas Leben. Sie sucht nun ihrerseits nach der Löschtaste, findet sie und bekommt die Bestätigung: "You deleted a friend", "sie haben einen Freund ausgelöscht!" Das Makabere an der Sache macht sie so betroffen, dass sie einen Moment lang überlegt, sich selbst überall auszutragen, zu löschen, bei XING, facebook, myspace und wie die Netzwerke alle heißen. Sie lässt es sein, denn oft kommen hier beruflich relevante Informationen rein.

Über mehrere Monate wird die Sache zwischen Bernd und Rita zum Gefühlswalzer im Dreivierteltakt, vorwärts, rückwärts und zur Seit', das kann einem mit oder ohne neue Technologien passieren. Und während am Ende Bernd sagt, Rita sei Schuld mit ihren Männergeschichten, behauptet Rita felsenfest, dass Bernd Schuld habe mit seinem Misstrauen, seiner aufbrausenden und kompromisslosen Art. Und Bernd löscht alle Spuren im Netz, die darauf schließen lassen könnten, dass es jemals eine Verbindung mit Rita gegeben hat.

Monate später resümiert Rita gelassen: "Vertrauen ist am Anfang da, oder eben nicht". Und wenn sie in schwachen Momenten dieser großen Liebe hinterhertrauert, beobachtet sie im Netz, wie Bernd sich mit seinem Net-Spitznamen und unretuschierten Fotos auf Flirtseiten und 'einschlägigen Communities' rumtreibt. Dort, wie sie jetzt weiß, war er auch schon in ihrer gemeinsamen Zeit unterwegs - oder in den Wochen, in der sie mal wieder in zwei Wohnungen getrennt am Rechner saßen.

C'est l'amour - im Jahr 2008, zumindest eine Variante davon.

Dienstag, 29. Juli 2008

Blick vom Balkon

Montag, 28. Juli 2008

Abendhimmel

Donnerstag, 19. Juni 2008

La Bohème

Letztens in der Deutschen Oper: eine Bohème-Inszenierung, bei der das überaus kitschige Bühnenbild (aus dem Jahre 1988!) von der schönen musikalischen Durchführung ablenkte, ja sie stellenweise konterkarierte. Eine Bühne wie eine Kitschpostkarte des späten 19. Jahrhunderts: Schön anzusehender Miserabilismus, adrett verdreckte Glasscheiben eines riesengroßen Ateliers hoch oben über den Dächern der Stadt (im Libretto steht was von "Mansarde"), schmucke alte Stühle, ein Kanonenofen voller Zierrat, dekoratives Gekritzel auf Leinwänden. Niedliche Armut - das Bühnenbild des Mariinsky-Theaters St. Petersburg, 2007 zu Gast im Baden-Badener Festspielhaus sah fast genauso aus, siehe links ... Dazu vermeintlich Frierende, die stets die Tür zum Dach hin offen stehen lassen. Ich bekam allein schon vom Zusehen kalte Füße - im Juni.

Dann fröhliches Weihnachtsmarkttreiben an einer viel zu breiten Montmartre-Treppe, Blumen- und Luftballonverkäufer, Passanten, Kinder, die Reifen treiben, kapriolenschlagende Artisten, Feuerspeier und Feuerwerker. Viel hilft viel, mag sich da jemand gedacht haben, eine Attraktion ist aufmerksamkeitsheischiger als die nächste, kurz: Ein Bühnenbild wie das funkelnde, blinkende, sich bewegende und übervolle Weihnachtsschaufenster der Galeries Lafayette oder eines anderen grand magasin mit seinem unregelmäßigen Rand aus Sprühschnee und der Menschentraube davor, notabene aus Winzlingen, die sich hier die Nase an der Scheibe plattdrücken.

Dann ein Bild mit Stadtmauer, Marktweibern, Gensd'armes, einer Kneipe von außen und fröstelnden Februargestalten mit Liebeskummer, alles weiter derart pittoresk, als hätte heimlich Spitzweg Pate gestanden. Im Schlussbild wanderte das Atelier mit seinen großen Scheiben in den Keller, wurde zu einem Raum ähnlich einer Tiefgarage mit übergroßem Abluftrohr - und, als wäre das zu gewagt gewesen, standen hier wie zuvor historisierende Requisiten im Bild herum.

Warum nicht das Stück nach heute transferieren? Ein Bühnenbild wie ein Puppenhaus oder ein angedeutetes solches. Nicht bespielt: der Atelierraum, den sich ein Besserverdiener gesichert und modern möbliert hat. Teils daneben, teils darüber, in der Mansarde, über zwei Stockwerke Dienstbotenkammern, und in zwei von ihnen haust die fröhliche Belegschaft nun und bibbert neben leeren Räumchen der gleichen Art, in denen nur die Erinnerungsstücke der Beletage-Mieter verstauben. Mimi hat deshalb keinen Strom mehr, weil sie die Rechnung nicht hat zahlen können, wir sehen als Parallelhandlung am Anfang, wie die Herren der EDF ihr den Strom abdrehen. Dann holt sie sich beim Nachbarn Licht für ihre Kerze.

Die "Stickerin" Mimi malt allerhöchst dekorative Blumen, Kaufhauskunst in hoher Auflage, hyperrealistisch. Wie viel Prozent bildender Künstler leben von dem, was sie machen? Der Autor unter den Bohémiens klappt, als er noch einen Artikel fertig schreiben muss, selbstredend seinen Apple-Computer auf, denn an Technik wird nicht gespart, die Kommunikation mit der Außenwelt ist auf dem neuesten Stand, Standards werden in den Dienstbotenkammern gesetzt. Entsprechend bilden eben jene Künstler die tableaux vivants der Weihnachtsschaufensterdekoration, schlüpfen in historisierende Roben, stellen ihresgleichen dar, Maler und Bildhauer und Schriftsteller, während sie im Schaufenster des grand magasin (in dem ein Caféhausleben abgebildet ist) für Animation sorgen - und für den Fortbestand sämtlicher Paris-Klischees.

Am Ende haben sie nicht einmal ihre enge Bleibe unterm Dach retten können. Sie malen jetzt die Wanddekoration für ein Restaurant, im Hintergrund sieht man überfettete Wänster genüsslich speisen.

Warum nicht den Kunstbetrieb karikieren, anstatt dem feinen Bürgertum ein antiquiertes "Bild" künstlerischer Existenz vorzuführen, das schon damals in kürzester Zeit zum Klischee geronnen war? So, wie die Inszenierung jetzt ausschaut, habe ich den Eindruck, dass sie sich über die materielle Armut von Künstlern lustig macht. Und die ist für viele nicht erst seit 1896, dem Jahr der Uraufführung von Puccinis La Bohème, aktuell ...

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Zum 2. Bild: Nach etwas Recherche finde ich etwas, das zumindest von der Architektur her in die Richtung geht, in die ich dachte, das Bühnenbild der Metropolitan Opera New York, so, wie die Inszenierung am 5. April 2008 live vom NRD übertragen wurde.

Sonntag, 15. Juni 2008

Reisen bildet, aufräumen auch

Gerade miste ich alte Akten aus. Da entdecke ich die Rechnung eines Hotelzimmers in Paris, Sorbonne-Nähe, in dem ich vor kurzem erst wieder war. Nur, dass die alte Rechnung von 2001 stammt.

Damals zahlte ich:
370 Franc für das Zimmer (eine Person) incl. Frühstück
Der Kurs damals war um die 3,5 (so jedenfalls meine Kopfrechnungsgröße). Das bedeutet, ich habe damals umgerechnet etwa 105,71 DM gezahlt, das wären um die 50 Euro.

Letztens zahlte ich dort 71 Euro für das Zimmer und 9 Euro nochmal drauf für das Frühstück, insgesamt also 80 Euro. Kleine mathematische Ungenauigkeiten wegen meiner Pi-mal-Daumen-Umrechnerei seien dahingestellt, aber die Preiserhöhung erscheint mir doch deutlich mehr, als die Inflation vorgab.

Samstag, 14. Juni 2008

Wie wir arbeiten ...

Letztens, auf der Konferenz europäischer Betriebsräte, die zu dolmetschen war: Wir waren in Leipzig und da wurde fröhlich erzählt, dass viele Arbeitnehmer unter der Warteritis zu leiden hätten. Warteritis? Das klingt wie das, was mir meine sächsische Verwandtschaft aus der Kleinstadt immer erzählt hatte. Noch zu Zeiten der verblichenen DDR hätte man sehr oft bei der Arbeit Beschäftigtheit simulieren müssen, weil es immer Zulieferschwierigkeiten an der Tagesordnung gewesen seien. Da nun aber jeden Moment der Betriebsleiter oder jemand anderes Offizielles hätte um die Ecke biegen können, also sei es wichtig gewesen, dass man so tat, als arbeitete man.

Sonst wäre man gleich dran gewesen mit Hof fegen oder derlei. Heute, so die Betriebsräte, fegte man wieder sehr oft den Hof oder die Werkhallen, und der Kapitalismus hat sich im Osten dahingehend ausgewirkt, dass die halbe Belegschaft sich dann schon mal ums Streichen des Arbeitsplatzes kümmere - zu DDR-Zeiten eher nicht so denkbar, allein die Materialbeschaffung ...

Und der Grund? Just in Time, die auf die Straße verlagerte Bevorratung der Werkstätten und Fabriken. Anstatt wie früher für eine oder zwei Wochen Material zu lagern, werde oft "aus dem einzigen vorhandenen Karton in die Maschine montiert". Und natürlich löse dies auch wirtschaftliche Probleme aus, wenn Bauteile fehlten, die oft nur Centbeträge wert seien ("die Verpackung war teurer, ganz zu schweigen vom Versand"). Dann geriete ("richtig teuer") die Montagestrecke über Stunden und Tage ins Stocken. Hintergrund: Die Straßen werden immer voller, und in etlichen EU-Staaten streiken die Fernfahrer besonders gerne.

In einem Großunternehmen mit mehreren zehntausend Angestellten ging man davon aus, dass stets 10 % der Beschäftigten nichts zu tun hätten ...

Noch ein interessanter Hintergrund, diesmal zur Arbeitsplatzsituation von Zeitarbeitern. Man habe festgestellt, so einer der Betriebsräte eines Konzerns, dass Zeitarbeiter mehr Arbeitsunfälle als die Festangestellten hätten. Festangestellte seien besser ausgebildet, nähmen häufiger an Arbeitsplatzsicherheitskursen teil und wären konzentrierter bei der Arbeit, weil ihre Gedanken weniger bei der nächsten Bewerbung, dem langen Nachhauseweg oder dem Streit mit dem Vorgesetzten sind, der bei den Zeitarbeitern direkt in Arbeitslosigkeit münden könne. Und die Fehlerquoten bei den Werkstücken sei in der Regel bei Zeitarbeitern auch höher. Es sei letztendlich alles eine Frage der Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen, eine Frage gemeisamer Ziele also.

Da muss ich an Ulbricht denken, Nachrichten aus dem Fernsehen der DDR aus den frühen Siebzigern. Der Parteiratsvorsitzende besucht eine Baustelle am Alexanderplatz, lob alles uns sagt in seinem singenden Ziegenbock-Sächsisch: "So, wie wir heute arbeitn, so wärdn wir morschen läbn!"

Dienstag, 10. Juni 2008

Rätsel des Alltags

Ja, ich bin viel rumgekommen in letzter Zeit, sah viele Hotelzimmer an den unterschiedlichsten Orten, fand Fragen und Antworten und neue Fragen, aber eine blieb, eine dumme. Doch, doch, es gibt dumme Fragen, wenn nämlich der Inhalt, auf den sie sich bezieht, ein gar dummer ist.

Also, mein heutiges Alltagsrätsel ist dies: warum wird überall, von New York über Beijing, Tunis über Cannes, London, Paris und Berlin, nicht zu vergessen Mailand oder Rom, in den sogenannten "besseren Hotels" (oder jenen, die sich dafür halten), das Ende des Klopapiers (oder doch vielmehr ihr Anfang) der in Gebrauch befindlichen sowie der Reserverolle durch zwei Knicke, links und rechts, hochgradig akkurat aufeinander zulaufend wie die Spitze eines Pfeiles, gekennzeichnet? Wie kann es sein, dass ich derlei inzwischen überall auf der Welt finde, wo immer ich hinkomme? Was bedeutet das Zeichen? Wer sorgt für seine Verbreitung? Und, was noch erstaunlicher ist: mein Eintrag hier ist vermutlich der allererste Internetbeitrag über dieses Nicht-Thema. Wie ich darauf gekommen bin? Ich hab in den Hotelzimmern auch mal wieder fern gesehen. Was heutzutage schon als Kulturthema gilt und welche Fernsehansagerin sich für eine Journalistin hält, das ist schon erstaunlich.

Nein, ich habe keine Klopapierpfeilphobie, aber ich werd ja wohl mal fragen dürfen, wo derlei Stuss herkommt, jetzt, wo ich endlich wieder den Boden der rauhen Berliner Wirklichkeit betreten habe, wo alles so schön reell ist.

Montag, 9. Juni 2008

Am Sonntag gehört Papa mir!

... stand in meiner Kindheit auf Plakaten, die im öffentlichen Straßenraum aushingen. Die Gewerkschaften kämpften für das Verbot der Sonntagsarbeit.

Heute dürfte Papas oder Mamas Schreibtisch nicht zu Hause stehen, also er oder sie dürfte nicht freiberuflich arbeiten, denn für unsereinen gibt's oft kein Wochenende.

Freitag um eins klingt das Telefon. Dringender Auftrag, bitte zu Montagmorgen um neun. Und es spricht die Auftraggeberin ins Off: "Ich bin dann mal im Wochenende!"

Der Auftrag ist umfangreich. Berlin hat das Jahrhundertwochenende zu bieten. Die Stadtschreiberin schreibt.

Montag um 9.15 Uhr, ich habe zehn vor neun abgegeben, klingelt wieder das Telefon. "Ähem, ja, das ist jetzt peinlich, aber aus Versehen ist da am Freitag die falsche Datei, halt eben supereilig, und alles halbsoschlimm, weil ja nur zwei oder drei Fassungen früher. Geht bis heute Abend halb sechs? Dann aber wirklich!" (... und mit einem Unterton, als hätte ich und nicht sie die Sache verbaselt.)

Okay, des Freiberuflers Wochenende kann auch schon mal an einem Montag stattfinden, für mich gilt der Satz aller Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr, denn ab Mittwoch soll hier wieder Frühlingswetter herrschen und dann beginnt der Berliner Sommer und alle Berliner wissen, was das bedeutet.

Die Auftragsdame rief zwischendurch noch einmal wegen einer kleinen-aber-wirklich-nur-klitzekleinen Änderung an, der Abendtermin zur Abgabe des Textes wurde wiederholt als enorm wichtig hervorgehoben, "det Janze muss zum Layout, klar!?"

Ich schicke pünktlich. Als ich keine Eingangsbestätigung bekomme, ruf ich 18.00 Uhr mal durch. "Ja, Frau W. ist schon durch die Tür und hat mir nichts gesagt. Nein, ganz so eilig war's nun doch nicht, morgen Vormittag hätte doch immer noch tooootaaaal bequem gereicht, wirklich!"

Ende 1: Achtung, ostig: "Freitag nach eins macht jeder seins!", hieß es in der "früheren Ex-DDR" (um die Nachbarin zu zitieren). Freitag nach eins hätte also niemand den Telefonhörer abgenommen, von denen es ohnehin nicht mehr Exemplare als Mithörer gab, ergo auch keinen Mobilfunkterror. Oh Zeiten seliger Unschuld!

Ende 2: Achtung, kulturpessimistisch: Praktischerweise vermehren sich die Freiberufler nicht mehr so wie einst. Also ist kein Plakat zu befürchten à la: "Sonntag gehören meine free lancer-Eltern mir!"

Bevorzugtes Ende bitte ankreuzen.
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Foto: Miese Situationen bringen verschiedene Menschen auf die gleichen 'guten' Ideen. Die Festen Freien Mitarbeiter des NRD haben das Plakat umgesetzt, in ihrem Extra-Drei-Spot, in dem ein Kind erklärt, was es heißt, für den Norddeutschen Rundfunk frei zu arbeiten, denn dort ist es besonders absurd. Zum Film hier klicken.

Sonntag, 8. Juni 2008

Steifer Mittelfinger

Nach Wochen, die ich in Archiven und auf Festivals verbracht habe, bin ich wieder in Neukölln gelandet. Sortiere mein Büro - und ziehe mir jene Art von Kriegsverletzung zu, die Papiermenschen manchmal ereilt: Ich schneide mich an einer Papierkante. Ganz normales, handelübliches Druckerpapier und sauscharf - dummerweise geht es direkt ins Nagelbett. Und dort spüre ich nach zwei Tagen meinen Puls. Der Finger ist plötzlich einskommafünf Mal so dick wie sonst, drinnen drückt was Weißes.

Also auf zum Arzt. "Meiner" ist nicht greifbar, stattdessen findet das Netz drei Mediküsse in der Nähe, die subito zu sprechen wären, einer hat einen russischen, der zweite einen italienischen und der dritte einen türkischen Namen.

Ich knoble und lande beim türkischen Arzt. Als ich ankomme, sitzen die drei Helferinnen (zwei ohne, eine mit Kopftuch) im Wartezimmer und plaudern. Am Empfangstresen steht ein jüngerer, dunkelblonder Mann im Holzfällerhemd, unter dem Tisch liegt ein dunkelhaariger älterer Mann in Stoffhose und Hemd, vermutlich der Hausmeister.

Keiner nimmt Notiz von mir. Ich warte. Der Finger puckert. Nein, nicht die Körpersprache verrät mir hier die Machtverhältnisse, erst, als nach einiger Zeit das Telefon klingelt, und der Mann von unter dem Tisch her sich den Hörer angelt und sich als Dr. Soundso meldet, begreife ich, wer hier höchstpersönlich die Verbindungen des Rechners checkt. Die Damen bleiben ungerührt sitzen bzw. erklären einer anderen Wartenden Probleme ihrer Haut, Zyklen der Hauterneuerung und wo ihre akuten Beschwerden herkommen.

Als der Doc aus der Tauchstation auftaucht und den Holzfällerhemdmann, er ist offenbar der Techiker, weitermachen lässt, begrüßt er die zweite Wartende, sie war nach mir gekommen, wie eine Tochter. "Ich hab schon gehört, ihr habt alles Wesentliche gesagt, ihr könnt's auch ohne mich!", schäkert er in Richtung seiner Sprechstundenhilfen und nickt mir kurz zu.

Wenig später betrachtet er mein Malheur. Der Finger darf erstmal in einer gelben Lösung baden, nach einer halben Stunde, in der er immer wieder kurz vorbeikommt um zu sehen, ob's mir gut geht, ruft er seine Helferinnen zu sich: "So, dann woll'n wir mal!"

Ehe eine der Helferinnen auch nur irgendein steriles chirurgisches Besteck hätte reichen können, ist die Sache schon gelaufen, das Wasser hat den Finger erweicht, der Eiter kommt fast vom Zusehen raus. Der Arzt drückt noch ein wenig auf der Nagelhaut rum, ich grummele deutliche Missbilligungslaute, am Finger enden halt leider besonders viele Nerven. "Es gibt Diktatoren, die reißen in der Folter ihren Gegnern die Nägel raus!," kommentiert dies mein Mediziner und provoziert damit weitere Laute meinerseits.

Jetzt wird der Finger verbunden - ich darf mir die Farbe des Mullschlauches aussuchen, der mir gleich über den Finger gezogen wird. "Da Sie ja mit Frankreich zu tun haben, darf ich das wohl sagen, weil die Franzosen haben's ja erfunden: Das geht jetzt wie mit 'nem Kondom, nur, dass es kurz wehtut!" Ich merke schon, der Herr Doktor entspannt die Situation durch Humor, und die Praxishelferinnen kichern, alle drei, die mit und die ohne Kopftuch.

Darauf ich (voller Schmerzen): "Herr Doktor, ich hoffe aber, der Finger bleibt jetzt nicht so steif!" und halte ihm meinen erhobenen Mittelfinger entgegen. Worauf wir alle lachen, am lautesten aber der kleine, dunkelhaarige Mann, den ich anfangs für den Hausmeister gehalten habe.

Freitag, 1. Februar 2008

Morgens um acht in der Tellstraße

Morgens um acht in der Tellstraße gegenüber der Rütli-Oberschule: Zwei Frauen und drei Männer stehen in einem Geschäft, in dem man Schleifmaschinen für den Bodenabschliff vermietet werden.

Die Frauen sind beide irgendwas zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig, schmal, nervös, in braunen, langen Mänteln den Modetipps der Saison entsprechend gekleidet, die eine kurzhaarig mit randloser Brille, die andere lockig ohne Brille. Die Männer in Monteurskluft, der eine kräftig, kurzhaarig und blond in den Dreißigern, die anderen beiden, die aussehen wie der junge und der ältere Entwurf ein- und desselben Mannes, eher kantig, untersetzt, dunkel- bis grauhaarig. Vater und Sohn sprechen leise miteinander. Das eine Team holt ab, das zweite Team bringt nach erfolgter Arbeit zurück.

Beide Frauen stehen nah bei der Warenausgabe, bekommen alles erklärt, nicken, wenden sich ab und zu den Männern zu, die in wenigen Metern Abstand stehen und die Szene wach beobachten. Die Worte des Geräteverleihers über Inbetriebnahme, Nutzung, Gefahren wiederholt die Frau, die gerade dran ist, bemüht um Einfachheit des Ausdrucks; die Männer im Blaumann sehen jetzt eher gelangweilt aus, sie kennen den Text.

Der einzige Text, der hier von Frau zu Frau gesprochen wird: "Isses schön geworden?" Darauf die andere: "Ja, sehr!"

Die Männer, sie stammen alle aus Polen, wechseln nur Blicke. Während sie jetzt mit dem schweren Gerät für Schliff bzw. Parkettpolieren schon an den Autos sind, sagt der Schleifmaschinenverleiher den Frauen zum Gruß: "Viel Spaß mit ihrem neuen Boden!"

Freitag, 4. Januar 2008

Neukölln in der Zeitung

"Art comes and real estate follows" - so wird Kate Price zitiert, eine englische Künstlerin, die im Schillerkiez malt. Ich denke, an der Grenze zu Kreuzberg sind wir längst mittendrin.

Das Zitat und mehr ist zu finden in einem gestern über NK erschienenen Artikel der Süddeutschen Zeitung.

Vielleicht bleibt der Link ja ein Weilchen gültig ...

Donnerstag, 3. Januar 2008

Was Du ererbst von Deinen Vätern ...

... erwirb es, um es zu besitzen." Geheimrat G.

Auch nach Neukölln kommen die Immobilienkäufer, die freitags aus England und skandinavischen Ländern in Berlin "einfallen", um Schnäppchen zu erwerben. Auf meinem Weg zum Lebensmittelladen, drei Straßen weiter, ist ein leerstehendes Haus jetzt in die Walze der Totmodernisierung geraten: Plastikfenster, Stukkaturen vom Großmarkt, wo der Krieg gewütet hatte, der historische Rest wird aus Gründen der Einheitlichkeit vorher entsorgt; Gegensprechanlage, dafür landet der "stumme Portier" auf dem Müll, das Treppenhaus neu, das alte Geländer war bruchstückhaft und wird ebenso durch Metallelemente ersetzt wie die verrotteten Balkons, dazu kommt ein Fahrstuhl, die Wohnungen werden zu Appartments verkleinert. Das soll jetzt kein Plaidoyer für die sklavisch genaue Restaurierung aller alten Bauteile sein, aber für bewussteren Umgang mit historischer Substanz.

Telefonat mit Freundin Uli aus Kindertagen. Sie lebt heute mit Familie in Berkhamsted bei London im Endgebäude eines denkmalgeschützten semi detached house; für die Verkleidung des neues Anbaus eines Erkers haben sie historische Holzschindeln gekauft, das alte große Facetten-Metallfenster hat ein Fachbetrieb überarbeitet, es wurde an der neuen Außenwand wieder eingebaut. Außerdem bekamen sie nicht mehr als den Erdgeschoss-Anbau genehmigt, wo sie doch mit drei Kindern sehr viel fürs Überleben der englischen Nation getan hatte und die Söhne sich mit viel Zoff ein Zimmerchen teilen müssen.

Dazu ihre Urlaubsberichte aus ihrem Heimatdorf Sersheim am Rande des schwäbischen Stombergs. Es klingt, als wäre der Ort Teilnehmer am heimlichen Wettbewerb "Unser Dorf soll hässlicher werden": Die alte Zehntscheuer ist abgerissen, an der Stelle entstand ein Gemeindezentrum. Jetzt soll auch die alte Strich-Villa dem Erdboden gleichgemacht werden, Bauland ist teuer da unten - der Maler Walter Strich-Chapell, geboren 1877 und auf seine alten Tage sogar Ehrenbürger von Sersheim, hat sogar einen Wikipedia-Eintrag, und wenn er auch als Maler vielleicht nur von regionaler Berühmtheit war, so stand doch das großbürgerliche Anwesen mit seinem Jugendstilmobiliar für Wohnkultur einer verschwundenen Epoche.

Aus Ulis englischer Perspektive und meiner langjährigen französischen sind das alles Spätfolgen des tausendjährigen braunen Reichs und dem verloren gegangenen Bewusstsein für Historisches, das nicht mehr gepflegt wird. Sauber soll es sein, pflegeleicht und "schee".
Dass "Er(wer)ben" auch Pflege von Traditionen bedeutet, sorgsamen Umgang mit Altem, Fortschreiben und behutsame Modernisierung, wenn weder Raum noch Umgebung dafür da sind, etwas zeitgemäß Klares, Stilvolles neben die alten Formen zu setzen - das ist in Deutschland leider vielfach nicht angekommen.
Noch nicht.