TEXT: So sieht in Paris das typische Stadthaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts aus.
BILD: Echtfoto, das über eine Kontrastverstärkung immer mehr zur Schwarz-weiß-Zeichnung mutiert, gerät in Veränderung ...
TEXT: Konzipiert vom Baron Georges-Eugène Hausmann, der auch das Musterbuch für die einheitlichen Fassaden der französischen Hauptstadt zeichnete.
BILD: Musterbuch-Alternativen, noch immer schwarz-weiß, werden von Hand mit buntem Ärmel gezeichnet, dann sieht man immer mehr vom Mann bis zum Portrait. Das den Kopf hebt und auf der Straße die Fassade hochschaut.
TEXT: Der Balkon der Beletage wird bei besonders schönen Exemplaren von Karyatiden getragen. Wesen, die nur dazu da sind, das Leben, den Alltag aufrechtzuerhalten.
Das Pendant zum männlichen Karyatid ist die "bonne à tout faire", das Mädchen für alles. Auch sie hat in der Architektur Hausmanns ihre Spur hinterlassen, jedoch ganz oben unter der Dachjuché: Die Chambre de bonne.
BILD/TON: Karyatide hält einen Balkon in die Höh. Auf den ein Dienstmädchen tritt zum Ausschütteln des Staubtuchs. Sie trägt ein weißes Schürzchen. Kamerafahrt die Fassade hoch. Reinfahrt durch Gaubenfenster.
TEXT: Die Mädchenkammer ist klein und spartanisch möbliert. Ein Ort zum Schlafen und zum Verstauen der Kleidung, oft gibt es hier nur eine penderie, eine Kleiderstange, und eine einfache Waschgelegenheit.
BILD/TON: Bett, Tisch und Stuhl. Ablagen. Penderie hinter Vorhang. Kleine Kommode mit Wasserkrug und -schüssel. Koffer hinter der Tür oder oben auf einem Brett.
Und einen Ort, um den Koffer zu verstauen.
Denn das Mädchen kam meist vom Lande, stand als "gute Seele" der Herrin des Hauses (maîtresse de maison) bei und kam nur hoch, um zu schlafen.
BILD/TON: Die Mamsell im ländlichen Kostüm und wie die Stadt sie gemach, gemach verschickifiziert. Am Ende auf der Treppe ... die endlos ist. Hier beginnt der historische Exkurs.
TEXT: Nachdem die Bediensteten eine Zeitlang in einer Kammer neben der Küche geschlafen hatten, verbannte sie der Baron unters Dach, damit die Familie unter sich sein kann.
Unterm Dach ist noch nah genug, um diese Vertreter der einfachen Klassen zu kontrollieren. Denn in eigenen Vierteln hätte man sich ja zusammenrotten und Revolution machen können. Davor hatte der Baron Angst. Deswegen ist er auch weniger für die Chambre de bonne als für die Boulevards berühmt: breite Straßen, die er auf den Fundamenten der einstigen Mauern, der Bollwerke, anlegen ließ.
BILD/TON: Die Armen aus dem Viertel rotten sich zusammen, werfen Steine, bauen Barrikaden, verschanzen sich in kleinen Gässchen hinter Wegbiegungen, kommen durch Nebensträßchen von hinten und umkreisen das Militär. Die Zeichnung wird immer kontrastreicher bis hin zur schwarz-weiß-Darstellung. Die bunte Hand von Hausmann reißt das Papier mit einem Ruck durch, reißt eine Straße ins Gassengeflecht, pflastert sie links und rechts mit Haussmann-Häusern.
Das Ganze vor dem akustischen Hintergrund der Bonne, die die Treppe hochsteigt, wovon optisch auch etwas im Bild übrigbleibt. Dann wird sie wichtiger, ihre Tür mit draufschablonierter Ziffer, geht auf, dahinter Wasserkrug, Schürze, die auf die Kommode gelegt wird.
TEXT: Auch heute noch gibt es solche Kammern. Und auch heute kommen deren Bewohner von weit her.
BILD/TON: In der Bewegung weg von der Kommodenplatte: Hinter dem Wassserkrug hängen Postkartenmotive von Paris, die immer moderner werden, am Ende sieht man "La défense". Jemand steckt einen Blumenstrauß in den Wasserkrug ...
TEXT: Eins ist neu: in ihnen findet mehr statt als nur das nächtliche Ausruhen.
Hier wohnen Studenten, die auf Prüfungen lernen, auch mal einen Topf Pasta mit Fertigsauce kochen, das ist dann Luxuscamping. Oder die auch mal Freunde zu Besuch haben, dann wird es sehr rasch sehr eng.
BILD/TON: Erst solitäres, dann gemeinsames Lernen, Platz machen fürs Kochen, Bücher auf ein Bord in luftiger Höh', Beine einziehen, Tisch an die Wand klappen, Stuhl wegklappen, Gäste sitzen auf dem Bett, dann Essen, dann Feiern: einer spielt Gitarre.
TEXT: Und auch lauter, was die Nachbarn en détail mitbekommen, die Wände sind dünn.
BILD/TON: Puppenhaus-Draufsicht: In der Mitte jene Mini-Party, drumherum dreht einer das Radio lauter, ein anderer setzt sich Ohrenschutz wie vom Bau auf, ein Dritter macht das Licht an, er schlief wohl schon, der Vierte greift zum Besenstil.
TEXT: Oder es wohnen Arbeitsmigranten hier, Männer und Frauen mit oder ohne Aufenthaltspapieren.
BILD/TON: Mann und Frau, die sich nacheinander reinschleichen, sich vorher umschauen, drinnen leise sind.
TEXT: Andere Besucher des Stockwerks wollen auch nicht bemerkt werden. Sie wohnen eigentlich unten, zumindest einer der beiden, sie kommen aber ab und zu hoch um ...
Du "cinq à sept" heißt das amouröse Stelldichein nach der Arbeit, wofür sich die Dienstbotenetage hervorragend eignet.
BILD/TON: ... die auch reinschleichen, aber gemeinsam, sich unterwegs küssen. Dann eindeutig. Und auf einem alten Nachttischchen steht ein 50er-Jahre-Wecker, auf dem die Zeit vergeht.
TEXT: Oft wohnen in den Zimmerchen aber nur die Erinnerungen der Bewohner aus den unteren Stockwerken.
BILD/TON: Pappkarton blättert sich wie von Zauberhand selbst auf, desgleichen die Fotoalben. Über allem thront die Spinne und schaut nach dem Rechten. Zuckt zusammen: laut!
TEXT: Komfort gibt es hier oben übrigens kaum. Die Sommer sind heiß, die Winter kalt, das Klo ist für alle da und Badezimmer - Fehlanzeige.
Sommer: Sonne und das typische laute Knacken der Zinkdächer!
BILD/TON: Runterschwenk auf Fenster: Winter und Wind: Elektroheizung! Toilette turque / Steh-Klo & Point d'eau dans le couloir / Handstein im Flur.
TEXT: Ein eigenes Waschbecken gilt hier oben seit guten alten Zeiten als Luxus.
BILD/TON: Rückblende: Wasserkrug und -schüssel.
TEXT: Dennoch sind die Preise gepfeffert. Für 10 Quadratmeter werden nicht selten um die 400 Euro gefordert. Nicht genug für manchen Investor. Deshalb werden die Zimmerchen jetzt auch immer öfter umgebaut - in großzügige Dachwohnungen.
BILD/TON: Baulärm, Wände bekommen Risse, Stücke brechen raus, dahinter wird eine schicke Designerwohnung sichtbar.
TEXT: Adieu, chambre de bonne!
Sonntag, 19. November 2006
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1 Kommentar:
Bonjour,
Das ist ja ein super Kurzfilm. Den sollten Sie machen. Ich finde, das viele Leute, die Paris nur von dem Außen kennen, das wichtige oft viel besser erkennen.
Was kann ich helfen?
Bonjour de Paris, ich schreibe Sie an die Mailanschrift,
Jean
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