Sonntag, 8. Juni 2008

Steifer Mittelfinger

Nach Wochen, die ich in Archiven und auf Festivals verbracht habe, bin ich wieder in Neukölln gelandet. Sortiere mein Büro - und ziehe mir jene Art von Kriegsverletzung zu, die Papiermenschen manchmal ereilt: Ich schneide mich an einer Papierkante. Ganz normales, handelübliches Druckerpapier und sauscharf - dummerweise geht es direkt ins Nagelbett. Und dort spüre ich nach zwei Tagen meinen Puls. Der Finger ist plötzlich einskommafünf Mal so dick wie sonst, drinnen drückt was Weißes.

Also auf zum Arzt. "Meiner" ist nicht greifbar, stattdessen findet das Netz drei Mediküsse in der Nähe, die subito zu sprechen wären, einer hat einen russischen, der zweite einen italienischen und der dritte einen türkischen Namen.

Ich knoble und lande beim türkischen Arzt. Als ich ankomme, sitzen die drei Helferinnen (zwei ohne, eine mit Kopftuch) im Wartezimmer und plaudern. Am Empfangstresen steht ein jüngerer, dunkelblonder Mann im Holzfällerhemd, unter dem Tisch liegt ein dunkelhaariger älterer Mann in Stoffhose und Hemd, vermutlich der Hausmeister.

Keiner nimmt Notiz von mir. Ich warte. Der Finger puckert. Nein, nicht die Körpersprache verrät mir hier die Machtverhältnisse, erst, als nach einiger Zeit das Telefon klingelt, und der Mann von unter dem Tisch her sich den Hörer angelt und sich als Dr. Soundso meldet, begreife ich, wer hier höchstpersönlich die Verbindungen des Rechners checkt. Die Damen bleiben ungerührt sitzen bzw. erklären einer anderen Wartenden Probleme ihrer Haut, Zyklen der Hauterneuerung und wo ihre akuten Beschwerden herkommen.

Als der Doc aus der Tauchstation auftaucht und den Holzfällerhemdmann, er ist offenbar der Techiker, weitermachen lässt, begrüßt er die zweite Wartende, sie war nach mir gekommen, wie eine Tochter. "Ich hab schon gehört, ihr habt alles Wesentliche gesagt, ihr könnt's auch ohne mich!", schäkert er in Richtung seiner Sprechstundenhilfen und nickt mir kurz zu.

Wenig später betrachtet er mein Malheur. Der Finger darf erstmal in einer gelben Lösung baden, nach einer halben Stunde, in der er immer wieder kurz vorbeikommt um zu sehen, ob's mir gut geht, ruft er seine Helferinnen zu sich: "So, dann woll'n wir mal!"

Ehe eine der Helferinnen auch nur irgendein steriles chirurgisches Besteck hätte reichen können, ist die Sache schon gelaufen, das Wasser hat den Finger erweicht, der Eiter kommt fast vom Zusehen raus. Der Arzt drückt noch ein wenig auf der Nagelhaut rum, ich grummele deutliche Missbilligungslaute, am Finger enden halt leider besonders viele Nerven. "Es gibt Diktatoren, die reißen in der Folter ihren Gegnern die Nägel raus!," kommentiert dies mein Mediziner und provoziert damit weitere Laute meinerseits.

Jetzt wird der Finger verbunden - ich darf mir die Farbe des Mullschlauches aussuchen, der mir gleich über den Finger gezogen wird. "Da Sie ja mit Frankreich zu tun haben, darf ich das wohl sagen, weil die Franzosen haben's ja erfunden: Das geht jetzt wie mit 'nem Kondom, nur, dass es kurz wehtut!" Ich merke schon, der Herr Doktor entspannt die Situation durch Humor, und die Praxishelferinnen kichern, alle drei, die mit und die ohne Kopftuch.

Darauf ich (voller Schmerzen): "Herr Doktor, ich hoffe aber, der Finger bleibt jetzt nicht so steif!" und halte ihm meinen erhobenen Mittelfinger entgegen. Worauf wir alle lachen, am lautesten aber der kleine, dunkelhaarige Mann, den ich anfangs für den Hausmeister gehalten habe.

1 Kommentar:

Th. hat gesagt…

Lustig, so ein permanenter Fuck you!-Finger. Wie bist Du den Menschen in Deiner Umwelt begegnet? Oder Hand in der Schlaufe versteckt?

Gruß, Th.