Nein, ich fürchte, wir werden ihn nicht sehr lieben, und küssen schon gar nicht.
Seit drei Tagen sitzt er nun da, an der anderen Uferseite des Landwehrkanals, auf der Bank direkt gegenüber: der dunkelhaarige Mann mit seiner Quetschkommode. Er holt aus seinem Instrument so ziemlich alles das heraus, was die Pariser, Berliner und Londoner Straßen- und U-Bahnmusikanten auch an Bekannterem zu fiedeln, flöten oder quetschen imstande sind, also sämtliche Gassenhauer, die für kurze Zeit Aufmerksamkeit und eine wohlwollende, das Portemonnaie lockernde Stimmung bei Passanten erzeugen können.
|
Dagegen sind Balkonkatzen leise ... |
Ich sage "können", wie als wär's ein Beipackzettel eines nicht anerkannten Medikaments. Und ich schrieb "Passanten". Nein, ich bin keine Passantin, und er sitzt meinem Balkon direkt gegenüber. Die Balkontür steht den halben Sommer lang offen da. Mein "Vorbeigehen" beschränkt sich zur gemeinsamen Arbeitszeit auf kurze Gänge zum Balkon, um nach Balkonpflanzen zu sehen oder dem Wetter, oder in die Küche, Tee kochen.
Am ersten Tag erfreut mich sein Gequetsche noch, da es sich mit dem Zwitschern der Vögel, dem Plappern der Kinder und dem dümmlichen Gelaber vom Band kommender Ortsbeschreibungen der Touristenschiffe mischt. Der Sound des Sommers halt ...
Am zweiten Tag sitze ich überraschend lang in der Küche, dann ist Haushalt angesagt und Freundinnenbesuch. Am dritten Tag bin ich viel draußen, es ist Sonntag, und trotzdem auch im Arbeitszimmer, ich bin selbständig.
Und morgen? Werde ich meine Gewohnheiten ändern? Im Balkonzimmer lerne ich immer Vokabeln und studiere im Lesesessel. Außerdem spreche ich mir dort am Esstisch die übersetzten Drehbücher laut vor. Im Arbeitszimmer schreibe und lerne ich, wenn es umfangreiche Dokumente gibt, die ich mit dem Stift in der Hand lesen muss. Hier liegt die Akte für die Buchhaltung, hier sind die Bücherschränke mit der Fachliteratur. In der Küche und im Gästezimmer lese ich Korrektur.
Der dunkelhaarige Mann mit der Quetschkommode wird meine Gewohnheiten durcheinanderbringen. Denn wie sagte meine Nachbarin Katrin gestern Abend, als wir uns an den Mülltonnen trafen: "Am Ende des Sommers werden wir ihn hassen!"
So lange, Katrin, wird's nicht dauern. Aber vielleicht kommt ja jemand aus der mitleidenden Nachbarschaft auf die Idee ihm Noten beizubringen, damit er seine manchmal etwas vage nachgespielten Tubes verbessern und sein Repertoire vergrößern kann. Während ich diese Zeilen schreibe, hat er gerade einen 34-minütigen Set von "Bésame mucho" beendet.
______________________________
Foto: C.E.