Mittwoch, 2. Juli 2014

Belagerungszustand

Seit Wochen leben wir wie im Kriegsgebiet. Ich übertreibe, aber so fühlt es sich an. Etliche Sehr-viel-Besserverdienende, die in den ver­gan­ge­nen Jahren ins Viertel gezogen sind, wundern sich: Hier ist ja nicht alles nett.

Hier ist überhaupt nicht alles nett. Wir sind an der Gren­ze zu Kreuz­berg.

Noch sind die meisten Polizeiwagen in Berlin grün, die Stadt ist zu arm, um sie auf die neue Polizeifarbe umspritzen zu lassen, und ge­nau­so grün ist regelmäßig der Weg über die Brücke nach Kreuz­berg. Meine Buslinie fährt seit Wochen unsere Nachbarschaft nicht mehr an. Asylbewerber halten eine Schule besetzt, davor stehen die Ver­tre­ter der Staats­macht und sehr oft auch verschiedene Grup­pen und Grüpp­chen von De­monstran­ten. Regelmäßig kommt es zu Platz­ver­wei­sen und Festnahmen. Die Polizei reagiert ungewohnt brutal, die Nerven der Beamten sind zum Zerreißen gespannt.

Neben den Grünen haben wir auch Herren und Damen in blauer Uni­form vor Ort sowie in schwarzer, letzere tragen Helme mit Visir. Ich schließe daraus, dass sich hier Po­li­zisten vom Land, vom Bund und über­re­gio­na­le Ein­greiftruppen Hand in Hand ar­bei­ten. Es sind immer zwischen 500 und 900 Beamte anwesend. Neulich konnte ich nicht zum Yoga, denn ich hatte nur meinen Pass, nicht aber meinen Aus­weis dabei (nur im Personalausweis steht die Meldeanschrift). Ich konnte nicht glaubhaft machen, dass ich Anrainerin bin.

Eben Schüsse, dann ein Geräusch wie von einer Explosion. Die Pas­san­ten auf der Straße wenden nicht einmal den Kopf. Es sind Schüler, Stu­den­ten, Leute mit Migrationshintergrund, Fla­schen­sam­mler, der Alki aus dem Nebenhaus und der Arbeitslose aus der nächsten Quer­stra­ße. Alle scheinen sich an die Ge­räusch­ku­lis­se ge­wöhnt zu haben. Dann minutenlanges Hupen. Dann stauen sich die Autos in der Stra­ße, offenbar sind jetzt andere Zuwege abgesperrt. Wieder Mar­tins­hör­ner, gleich mehrfach, in alle Richtungen.

Dann kommt der Hubschrauber. Der Sound der ghetto birds ist hier täglich zu hören. Und die Geschäftsinhaber der Nachbarschaft be­rich­ten davon, dass ihre Umsätze bis um 80 % zurückgegangen sind.

Wir sind ein Gebiet, das mitten in der Gentrifizierung steckt. In der Nachbarschaft, pinselsanierter, umgewandelter Sozialwohnungsbau, ver­teu­er­ten sich die Kaufpreise der Wohnungen um mehr als 400 % (*). (Et­li­ches wartet unverkauft oder als Ferienwohnung auf neue Be­woh­­ner). Die Vormieter mussten ausziehen, sogar eine Roll­stuhl­fah­re­rin wurde rausgeschmissen. In einem anderen Haus wurde gerade der Ga­le­rist aus seinen vier Wän­den geklagt. Er hat um die 650 Euro Mie­te gezahlt. Für Nach­mie­ter wird's teuer: |ca. 1700 Euro| 1.950 Eu­ro ohne NK |lautet den Nach­barn zufolge| die For­de­rung. Ein anderer Geschäftsinhaber in der Straße möchte aus freien Stücken auf­geben. Er findet seit Monaten keinen Nachmieter.

Nein, Neukölln ist nicht schick. Und den Begriff "Kreuzkölln" haben die Damen und Herren von der Immobilienverwertung erfunden, um die Preise zu treiben.

Ohlauer Straße, ruhige Wachablösung

(*) ... zwischen Erstverkauf als Gesamtgebäude und Verkauf als Ei­gen­tums­wohnungen der Luxusklasse, angeblicher Erstbezug und in Kreuzberg, so angezeigt bei den stadtbekannten Portalen. Die Be­wei­se habe ich gesichert, Herr Anwalt.
______________________________  
Foto: C.E.

Keine Kommentare: