Samstag, 1. Mai 2010

Was Du ererbst von Deinen Vätern ...

... erwirb es, um es zu besitzen.
Johann Wolfgang von Goethe

In dieser Geschichte geht es um Neukölln, um Erbe und Erben, Panik, das Web2.0, die Behäbigkeit von Behörden und ein zumindest teilweise glückliches Ende. Am Anfang stehen zwei Nachfahren: C. Deniz K., ein junger Handwerker, und Caroline, eine Dolmetscherin und Autorin. Beide erben - er den Handwerksbetrieb seines Vaters, sie die geschnitzten Stühle ihrer Vorfahren. Weiter geht es aus Carolines Sicht.



Vor zwei Wochen schickte ich über Twitter eine Meldung ins digitale Labyrinth: Suche meine vier geschnitzten Ritterstühle der Tafelrunde. Beim Polsterer sind sie leider "verschwunden". Freundinnen und Freunde schickten diese Message weiter, auch über Facebook sandte ich eine Suchanzeige in die Weiten des Netzes.

Dem war vorausgegangen, dass ich meine alten, geerbten Stühle Schritt für Schritt restaurieren lassen wollte. Sie wackelten, also wanderten sie erstmal zum Schreiner. Sie hatten kaum noch oder schadhafte Polster, also ging's danach in eine Polsterei. Das war Anfang März. Bis Mitte März haben wir gebraucht, um passendes Leder zu finden, das zu einer ultramodernen Liege in meinem Zimmer passt. Dann breitete sich langsam vorösterliche Ruhe über der Stadt aus. Der Handwerker, ein sehr junger Mann, den ich wochenlang durch die Fensterscheibe seiner Werkstatt beim wunderbar kunstvollen Restaurieren alter Sessel beobachtet hatte, schien mir bestens für die Aufgabe geeignet. Ich hatte das Gefühl, dass er sich über den Auftrag zu freute, meinte indes, er hätte viel zu tun dieser Tage. Wir verabredeten uns also für 14 Tage nach Ostern ...
Als ich Mitte April wie vereinbart nach den Stühlen sehen wollte, traf mich der Schlag, als ich mich dem Geschäft näherte: Packpapier klebte von innen an den Scheiben, drinnen rissen Bauarbeiter gerade Wände ein. Die Nachmieter hatten keine Idee, wie ich "meinen" Handwerker würde erreichen können. Also ging ich zur Polizei, die mich aber nicht einmal richtig anhörte, ein Diebstahl sei das wohl nicht, sondern ein Vermögensschaden, ich müsse zu Gericht.

Für mich Nichtjuristin war das ein Schock, der über Wochen neue Nahrung finden sollte: Bis auf eine Person waren in der ganzen Stuhlsucharie seitens der Verwaltung alle gleichgültig, abweisend oder banalisierten meine Erfahrung /(Das ist doch nichts, wenn Sie wüssten, was wir hier sonst für Fälle haben!)
Für Gerichtliches brauch' ich die Anschrift meines Handwerkers, also flitze ich zum Einwohnermeldeamt. Dort die Ernüchterung: Ohne sein Geburtsdatum oder eine frühere Privatanschrift gibt es keine keine Auskunft. Datenschutz! Aber wer fragt schon den gutaussehenden Handwerker bei Auftragserteilung nach seiner Privatadresse, zumal als Frau gegenüber einem Mann? Hier schützte wohl der Datenschutz den Täter vor dem Opfer, mutmaßte ich, worauf die Dame vom Amt nur kühl konterte, dass ich vielleicht etwas überhört hätte und alles doch sicher nur ein Missverständnis sei.

Also schnell zum Ordnungsamt, dort zum Gewerbeamt, Fall schriftlich niederlegen, Antrag auf Einblick ins Gewerberegister stellen (in der Hoffnung auf mehr Daten), dann zurück zum Meldeamt. Bilanz: Viel Wartezeit habe ich auf Ämtern verbracht, bei denen es oft nur noch wenig Informationsschalter gibt, weshalb ich mir mancherorts in Stichworten die ganze Bandbreite der in derlei Bürostuben verhandelten Probleme mitanhören musste. Über zehn Stunden saß ich inmitten von Umzüglern, Leuten, denen die Papiere abhanden gekommen waren oder die ihre Gewerbepapiere verlängern mussten ...
Nun ist es ja nicht gerade so, dass ich keinen Beruf hätte und der nichtvorhandene Beruf auch ganz und gar nicht anstrengend wäre - und von irgendwas musste ich die permanent gebührenpflichtigen Auskünfte schließlich auch bezahlen! Kurz: das Maß meiner Genervtheit stieg mit jedem Tag. Parallel dazu habe ich mit Finanzamt und Handwerkskammer telefoniert und mich selbst auf die Suche gemacht. Nach einer halben Woche hatte ich die Privatanschrift meines Handwerkers, die Anzahl der Informationen, die übers social network reinkamen, überschritt bereits das erste Dutzend.

Also: Der junge Mann hatte die Firma des Vaters vor zwei Jahren übernommen und tragischerweise rasch auf die Hilfe des Vaters verzichten müssen. Nun hat sich seither die wirtschaftliche Situation des Landes gravierend verändert - und trotz der von der Krise beförderten Neigung zu Cocooning, die ich in meinem Umfeld und an mir selbst beobachte, verkaufen sich schwere Stoffvorhänge mit Posamenten, Strukturtapeten und Teppichböden - das schien neben dem Polstern der einträglichere Teil des Unternehmens gewesen sein - an die nach Nord-Neukölln nachziehende Künstler- und Lebenskünstlerfauna nur schleppend. Unsereiner wohnt mit abgeschliffenen Dielen, schlichten Leinenschals fürs Fenster, gern vom skandinavischen Einrichter und Raufaser, pigmentgefärbtem Putz oder der biologisch aktiven Lehmwand.

Und so trudelten die Infos ein: Die Geschäftsaufgabe kam nicht überraschend, dennoch dauerte der Auszug eine Weile. Die Nachmieter haben anfangs noch alte, im Ladenraum verbliebene Polstermöbel an Nachbarn weiterverkauft, oft für'n Appel und'n Ei. Der junge Mann hätte alles Wertvolle eingelagert, wohl zum Weiterverkauf, mutmaßte einer, ein anderer wusste, dass er sich außerhalb des Landes aufhalte.

Meine Panik wuchs stündlich.

Nach den Behördengängen klapperte ich Läden und Trödler in der Nachbarschaft ab, auch Polstererbetriebe, verteilte Fotos der Stühle, verschickte Mails an den jungen Handwerker und an andere Läden, ging auf Flohmärkte und zu den Läden, der derlei im Zwischenhandel 'dealen'.

Dann schrieb ich mit Hilfe meines Lieblingsanwalts einen Antrag auf Einstweilige Verfügung, verlief mich bei Gericht, landete endlich bei der richtigen Stelle, wartete wieder stundenlang an Infostellen und in Gängen, beauftragte schließlich einen Gerichtsvollzieher.Inzwischen hatte meine Mutter Kinderfotos von meinen drei Geschwistern und mir herausgesucht, auf denen die Stühle zu sehen sind. Nun kam die private Ebene meiner Suche. Ich wusste inzwischen, wie ich seine Mutter erreiche, und so bekam sie Fotos mit sehr emotionalen Worten auf der Rückseite: Das Baby auf dem Bild bin ich. Und unsere vier Stühle sind leider ...
Irgendwann klingelte das Telefon, ER war dran, und bat rasch um Entschuldigung. Die Stühle seien eingelagert, wann wir die Übergabe machen könnten. Ich habe weiter nicht nachgefragt, nur gesagt, dass mein Vertrauen zerstört sei.

Gestern war es dann soweit. In einem self storage an der Karl-Marx-Straße fand ich meine Stühle, das Leder und selbst den alten, herausgebrochenen Sitz in der alten fnac-Plastiktüte wieder.
Eine Stunde später suchte ich mit dem neuen Polsterer Ziernägel aus - und, oh Wunder, das Traditionsunternehmen Houlès aus Paris führt immer noch das gleiche Modell der ersten Reparatur, die, wie wir in der Familie ungefähr noch wissen, etwa in den 1920-er Jahren stattgefunden haben muss. Jetzt können wir das möglicherweise besser datieren, vermutlich eher nach 1928, dem Gründungsjahr des Unternehmens für Posamenten, Ziernägel, Kammzwecken und derlei ... Montag rufe ich in Paris an, ob sie ihre Nägel auch noch silberfarben liefern können oder nur in Messing.Wenn die Stühle vom neuen Polsterer zurück sind, gibt's 'ne Stuhlparty! Und ich wünsche trotz allen Ärgers dem Neuköllner Polsterer C.D.K. alles Gute, dass er die Krise als Mensch gut überstehen und an ihr wachsen möge.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

what a ridiculous story
how can somebody take herself so serious
totally unbelievable

caro_berlin hat gesagt…

Every single line is true, and yes, this is an absurd story and the chairs are the only objects I inherited of this ancestor. It's sort of keeping the family's memory alive when I travelled through Berlin, chasing old chairs. And to take his own thoughts and anxieties serious, I think that's exactly what many blogs are made of. Excusez-moi, but I think you might not be very familiar to blogs, aren't you? Besides that, I would appreciate knowing your name. Sincerely yours, Caroline
(Excuse my English.)

kleine schwester @ heidelberg hat gesagt…

Betreff: Martenstein versteht uns...

Lesetipp - eine Kolumne von Hararld Martenstein aus dem ZEIT-Magazin Nr.20 (12.05.10):
"Das Buffet hat meinen Urgroßeltern gehört. Es hat eine Geschichte, die meine Geschichte ist"

Zitat: "Vor ein paar Wochen habe ich ein altes Buffet, etwa 1910, in das Sommerhaus transportiert. Es hat meinen Urgroßeltern gehört und seit meiner Studentenzeit in allen Wohnungen gestanden, in denen ich lebte. Es ist nicht hässlich. Aber ich würde mir so etwas garantiert niemals kaufen, eigentlich gefällt mir der Stil dieser Zeit nicht sonderlich. Das Buffet erinnert mich auch nicht an meine Urgroßeltern, die ich nie kennengelernt habe. Es war halt einfach nur immer da. Es hat eine Geschichte, die meine Geschichte ist. Das gefällt mir."

Grüße!
F.