Montag, 12. November 2007

Unser Koch lernt was hinzu

In grauer Vorzeit war ganz Ostgermanien von den Römern besetzt. Nur in einem kleinen Dorf, in Kreuzberg, blühte der Widerstand ...

Berlin, Lausitzer Straße, wir sind noch in Kreuzberg, aber fast schon Neukölln: hier liegt unweit des Landwehrkanals die Kantine der Regenbogenfabrik. Die denkmalgeschützte ehemalige Chemiefabrik und das normale Gründerzeitmietshaus davor waren in grauer Vorzeit besetzte Gebäude. 1992 geht die Liegenschaft in den Besitz des Landes über, und nun sind Fahrradwerkstatt, Töpferei, Schreinerei, Kino, Hostel und seit 2000 auch die Kantine dort Pächter bzw. sogar ein Berliner Eigenbetrieb. Und auch ohne Chefkoch darf der Eigenbetrieb ausbilden.

Am Ende des Hofgartens ist die Kantine samt kleinem Gastraum untergebracht. Hier kocht Julian, ein Auszubildender ohne Ausbilder, eine Berliner Spezialität, denn seine Lernfortschritte sichert die Berufsschule ab. Mittags werden hier 50 bis 60 Essen serviert, die Gäste sind Anwohner, Freiberufler aus der Nachbarschaft, Rentner, eine ältere Taxifahrerin, natürlich die Mitarbeiter des alternativen Kulturzentrums, drei Punks (Wer hat Angst vor RotGelbBlau?) und auch "Normalos". Der Jargon der achtziger Jahre hat hier überwintert. Und so hockt das bunte Publikum montags bis freitags Seit' an Seit' an drei langen Holztischen auf sechs Bänken und freuen sich über ein gutes Mittagessen aus Bioprodukten für drei bis vier Euro.

"Meet and eat", der Slogan der Verköstigung, ist wörtlich zu nehmen. Schon allein der langen Bänke wegen kommen die Esser schnell miteinander ins Gespräch, denn wer in der Mitte sitzen will, muss die Randsitzer freundlich um den Platz bitten.

An der mit einer comicartigen Großfigur bemalten Längswand sitzt heute einer der Punks (rot) und unterhält sich mit Oma Werner von nebenan, die vor kurzem hergezogen ist und mittags immer hier isst, denn: "solange ich noch selbst laufen kann, komme ich selbst." Später wird sie womöglich wie andere alte Menschen (und auch Kitakinder) aus der Kantine ihren Mittagstisch beziehen.

Die Kantine serviert immer von eins bis drei, aber die meisten kommen in der ersten Stunde. Ab halb drei wird es ruhig. Als ich zahlen will, zückt Julian, der angehende Koch, sein Handy und wiederholt, was er gerade seinem türkischen Kollegen im weißgefliesten Küchenabteil vorgeführt hat, das nur ein Tresen vom Gastraum trennt: "Sieh' mal!" Es sind Aufnahmen aus einer Berufsschulklasse. 90 Prozent der Schüler pennen oder quatschen, die andren reagieren zum Teil auch nur genervt. Der Jungkoch sagt, dass nur ein Drittel der Lehrer engagiert sei, den meisten wäre "der ganze Zirkus" egal. (Zitat: "bei einem Euro die Stunde kein Wunder!") Und so stünden nicht nur Lehrer, sondern auch etliche fachfremde MAE-Kräfte (*) vor den Schülern.

Und nachdenklich fügt Julian, der trotz seines Namens so gar nicht nach bildungsbürgerlichem Hintergrund ausschaut, kopfschüttelnd hinzu: "Wo soll sich unser Land noch hinentwickeln, wenn in den Schulen nicht mehr gelernt wird und keiner mehr Disziplin hat!" Der Punk und sein Freund, ebenfalls Punk (grün) sowie Oma Werner haben das Gespräch mit angehört und nicken einmütig.

Auf mein Rumgeflachse hin, das Filmchen solle er mal Redakteuren vom TV zuspielen, meint der Koch traurig: "Meinst Du, die nehmen uns ernst und drehen in der Schule? Aber ich könnte ja selbst mit einer echten Videokamera dort drehen, das würde niemanden groß aufregen."

Darüber regen sich jetzt hier alle auf. Was hier selten vorkommt. Am Essen gibt's nichts auszusetzen, auch ohne gute Berufsschule und ohne Ausbilder ist Julian auf dem richtigen Weg und kocht so, dass es der Zielgruppe schmeckt.
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(*) MAE-Kräfte (von MehrAufwandsEntschädigung) ist der neue Begriff für Ein-Euro-Jobber, die ohne Arbeitsvertrag und weitab von tariflicher Vergütung arbeiten, die weder eine Urlaubsvergütung noch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten. Ach, Streikrecht gibt's natürlich auch nicht.

Foto und Link: Regenbogenfabrik

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