Tiefe Liebe macht verletzlich. Darum ist sie auch so selten - wer möchte schon verletzt werden?
Mittwoch, 28. November 2007
Einer Freundin zum Trost
Heute Abend wollte ich eigentlich ein Restaurant in Neukölln testen gehen und das mit einem Erkundungsgang in einen mir bislang unbekannten Kiez verbinden. Beides fiel aus. Ich saß stattdessen bei einer guten Bekannten am Küchentisch am Ufer und tröstete sie bei ihrem Liebeskummer. Dabei fiel mir dieser Satz wieder ein, Résumé eigener Erfahrung:
Samstag, 17. November 2007
Kinderarmut
Vorhin durfte ich im tiefsten Neukölln ein Päckchen abholen. In der Warteschlange hatte ich Zeit, und habe mir die Leute um mich herum angesehen. Es ist kühl in Berlin, und mir fällt ein Kind auf, das wie für den Frühherbst gekleidet ist. Ein Junge, maximal acht Jahre, steht direkt hinter mir. Er hält ein etwa fünfjähriges Schwesterchen an der Hand, während die Mutter weiter hinten mit einem Säugling zu Gange ist.
Der Blick des Jungen ist leer, hart, scheinbar desillusioniert. Routiniert ruckelt er den Arm der kleinen Schwester, als diese zu übermütig wird, und bringt sie so zur Raison. Jetzt stiert auch das Mädchen vor sich hin. Die Kinder sind übergewichtig und nicht nur zu leicht, sondern auch mit Stücken gekleidet, die zu bunt sind, zu wenig zusammenpassen, auch so sieht neue Armut aus. Mir fällt ein, was ich gerade in der Süddeutschen Zeitung gelesen habe. Seit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl der Kinder, die Sozialhilfe beziehen, verdoppelt. Jedes sechste Kind unter sieben Jahren bekommt in Deutschland diese Hilfe, weil die Eltern zu wenig oder gar nichts verdienen. 1967, kurz vor Studentenrevolte und Straßenschlachten, nach denen tausendjähriger Muff unter den Talaren gelüftet wurde, war es nur jedes 75. Kind.
Wie das zusammenhängt? Inhaltlich nicht. Was die Zeitung nicht brachte, ist die Entwicklung in diesem vierzigjährigen Zeitraum. In der gleichen Kurve wären abzubilden: Arbeitslosenkurve, Managergehälter, Spitzenvermögen, Entwicklung von Wohneigentum, Bildungsquote.
Die Mutter überlässt den Kindern allein die Warteposition und geht zum Tabakladen. Zurück kommt sie mit Zigaretten und einem ausgefüllten Lottoschein in der Hand. Ach ja, ich hatte die Erträge der Lottogesellschaften vergessen.
Der Blick des Jungen ist leer, hart, scheinbar desillusioniert. Routiniert ruckelt er den Arm der kleinen Schwester, als diese zu übermütig wird, und bringt sie so zur Raison. Jetzt stiert auch das Mädchen vor sich hin. Die Kinder sind übergewichtig und nicht nur zu leicht, sondern auch mit Stücken gekleidet, die zu bunt sind, zu wenig zusammenpassen, auch so sieht neue Armut aus. Mir fällt ein, was ich gerade in der Süddeutschen Zeitung gelesen habe. Seit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl der Kinder, die Sozialhilfe beziehen, verdoppelt. Jedes sechste Kind unter sieben Jahren bekommt in Deutschland diese Hilfe, weil die Eltern zu wenig oder gar nichts verdienen. 1967, kurz vor Studentenrevolte und Straßenschlachten, nach denen tausendjähriger Muff unter den Talaren gelüftet wurde, war es nur jedes 75. Kind.
Wie das zusammenhängt? Inhaltlich nicht. Was die Zeitung nicht brachte, ist die Entwicklung in diesem vierzigjährigen Zeitraum. In der gleichen Kurve wären abzubilden: Arbeitslosenkurve, Managergehälter, Spitzenvermögen, Entwicklung von Wohneigentum, Bildungsquote.
Die Mutter überlässt den Kindern allein die Warteposition und geht zum Tabakladen. Zurück kommt sie mit Zigaretten und einem ausgefüllten Lottoschein in der Hand. Ach ja, ich hatte die Erträge der Lottogesellschaften vergessen.
Donnerstag, 15. November 2007
Arbeit
Unsere Gesellschaft steht Kopf. Wir nennen etwas rot, das grün ist - und das Grüne nennen wir blau. Menschen, die heute etwa zwischen 37 und 43 Jahren alt sind, haben in der Schule die Kurzgeschichte von Peter Bichsel gelesen, in der ein alter Mann aus Langeweile und Einsamkeit anfängt, die Dinge des Alltags umzubenennen. Und anstatt etwas Sinnvolles zu machen, zum Beispiel eine Fremdsprache zu lernen, sagt der Mann in "Ein Tisch ist ein Tisch" zum Schrank plötzlich "Zeitung", und wenn er friert, nennt er das "schauen".
Am Ende der großen Wortverwirrung sitzt der Mann im Zimmer, die Menschen können ihn nicht mehr verstehen, und spricht nur noch mit sich selbst.
In der Bichselschen Sprachverwirrung steckt unsere Gesellschaft mittendrin. Ich fand eben folgenden Satz und musste ihn dreimal lesen:
Wir müssen endlich unsere Sprachverwirrung beim Namen nennen und uns neue Definitionen für die Worte überlegen. Solche, die Angebot, Nachfrage, Technik, Aufgaben, Sinnhaftigkeit der Arbeit, Vorbereitung der Zukunft und Nachhaltigkeit berücksichtigen. Warum soll Zocken an der Börse mit (nichtexistentem) Buchgeld Arbeit sein, wenn es ein Broker macht, das Erziehen und Lehren an der Schule und die Betreuung in Lern-Freizeit von Kindern und Jugendlichen aber keine, so dass sie immer öfter Ein-Euro-Jobbern als "Mehraufwand" übertragen wird? (Siehe nächster Eintrag.)
Ein Tisch ist ein Tisch!
Am Ende der großen Wortverwirrung sitzt der Mann im Zimmer, die Menschen können ihn nicht mehr verstehen, und spricht nur noch mit sich selbst.
In der Bichselschen Sprachverwirrung steckt unsere Gesellschaft mittendrin. Ich fand eben folgenden Satz und musste ihn dreimal lesen:
"Die Angestellten des Büros von Tandem-Regionalpartnerschaften arbeiten, weil seit 1. Juli arbeitslos, derzeit ehrenamtlich."Sind sie also weiterhin im Büro und arbeiten? Es ist also Arbeit da? Wird also die Telefonrechnung des Büros bezahlt? Und neuer Toner für den Drucker bestellt? Warum die Arbeit dann nicht beim Namen nennen? Arbeit ist schon lange nicht mehr schmutzig. Warum heißt das Ganze plötzlich Ehrenamt? Weil in Deutschland sich alle zu fein sind, um übers Geld zu sprechen. Die Arbeit sind sie nicht losgeworden, nur die Bezahlung, den "ehrlichen Lohn" für ihren Einsatz, der sich seit dem 30. Juni in nichts, aber auch in rein gar nichts verändert hat.
Wir müssen endlich unsere Sprachverwirrung beim Namen nennen und uns neue Definitionen für die Worte überlegen. Solche, die Angebot, Nachfrage, Technik, Aufgaben, Sinnhaftigkeit der Arbeit, Vorbereitung der Zukunft und Nachhaltigkeit berücksichtigen. Warum soll Zocken an der Börse mit (nichtexistentem) Buchgeld Arbeit sein, wenn es ein Broker macht, das Erziehen und Lehren an der Schule und die Betreuung in Lern-Freizeit von Kindern und Jugendlichen aber keine, so dass sie immer öfter Ein-Euro-Jobbern als "Mehraufwand" übertragen wird? (Siehe nächster Eintrag.)
Ein Tisch ist ein Tisch!
Montag, 12. November 2007
Unser Koch lernt was hinzu
In grauer Vorzeit war ganz Ostgermanien von den Römern besetzt. Nur in einem kleinen Dorf, in Kreuzberg, blühte der Widerstand ...
Berlin, Lausitzer Straße, wir sind noch in Kreuzberg, aber fast schon Neukölln: hier liegt unweit des Landwehrkanals die Kantine der Regenbogenfabrik. Die denkmalgeschützte ehemalige Chemiefabrik und das normale Gründerzeitmietshaus davor waren in grauer Vorzeit besetzte Gebäude. 1992 geht die Liegenschaft in den Besitz des Landes über, und nun sind Fahrradwerkstatt, Töpferei, Schreinerei, Kino, Hostel und seit 2000 auch die Kantine dort Pächter bzw. sogar ein Berliner Eigenbetrieb. Und auch ohne Chefkoch darf der Eigenbetrieb ausbilden.
Am Ende des Hofgartens ist die Kantine samt kleinem Gastraum untergebracht. Hier kocht Julian, ein Auszubildender ohne Ausbilder, eine Berliner Spezialität, denn seine Lernfortschritte sichert die Berufsschule ab. Mittags werden hier 50 bis 60 Essen serviert, die Gäste sind Anwohner, Freiberufler aus der Nachbarschaft, Rentner, eine ältere Taxifahrerin, natürlich die Mitarbeiter des alternativen Kulturzentrums, drei Punks (Wer hat Angst vor RotGelbBlau?) und auch "Normalos". Der Jargon der achtziger Jahre hat hier überwintert. Und so hockt das bunte Publikum montags bis freitags Seit' an Seit' an drei langen Holztischen auf sechs Bänken und freuen sich über ein gutes Mittagessen aus Bioprodukten für drei bis vier Euro.
"Meet and eat", der Slogan der Verköstigung, ist wörtlich zu nehmen. Schon allein der langen Bänke wegen kommen die Esser schnell miteinander ins Gespräch, denn wer in der Mitte sitzen will, muss die Randsitzer freundlich um den Platz bitten.
An der mit einer comicartigen Großfigur bemalten Längswand sitzt heute einer der Punks (rot) und unterhält sich mit Oma Werner von nebenan, die vor kurzem hergezogen ist und mittags immer hier isst, denn: "solange ich noch selbst laufen kann, komme ich selbst." Später wird sie womöglich wie andere alte Menschen (und auch Kitakinder) aus der Kantine ihren Mittagstisch beziehen.
Die Kantine serviert immer von eins bis drei, aber die meisten kommen in der ersten Stunde. Ab halb drei wird es ruhig. Als ich zahlen will, zückt Julian, der angehende Koch, sein Handy und wiederholt, was er gerade seinem türkischen Kollegen im weißgefliesten Küchenabteil vorgeführt hat, das nur ein Tresen vom Gastraum trennt: "Sieh' mal!" Es sind Aufnahmen aus einer Berufsschulklasse. 90 Prozent der Schüler pennen oder quatschen, die andren reagieren zum Teil auch nur genervt. Der Jungkoch sagt, dass nur ein Drittel der Lehrer engagiert sei, den meisten wäre "der ganze Zirkus" egal. (Zitat: "bei einem Euro die Stunde kein Wunder!") Und so stünden nicht nur Lehrer, sondern auch etliche fachfremde MAE-Kräfte (*) vor den Schülern.
Und nachdenklich fügt Julian, der trotz seines Namens so gar nicht nach bildungsbürgerlichem Hintergrund ausschaut, kopfschüttelnd hinzu: "Wo soll sich unser Land noch hinentwickeln, wenn in den Schulen nicht mehr gelernt wird und keiner mehr Disziplin hat!" Der Punk und sein Freund, ebenfalls Punk (grün) sowie Oma Werner haben das Gespräch mit angehört und nicken einmütig.
Auf mein Rumgeflachse hin, das Filmchen solle er mal Redakteuren vom TV zuspielen, meint der Koch traurig: "Meinst Du, die nehmen uns ernst und drehen in der Schule? Aber ich könnte ja selbst mit einer echten Videokamera dort drehen, das würde niemanden groß aufregen."
Darüber regen sich jetzt hier alle auf. Was hier selten vorkommt. Am Essen gibt's nichts auszusetzen, auch ohne gute Berufsschule und ohne Ausbilder ist Julian auf dem richtigen Weg und kocht so, dass es der Zielgruppe schmeckt.
_____________________________________
(*) MAE-Kräfte (von MehrAufwandsEntschädigung) ist der neue Begriff für Ein-Euro-Jobber, die ohne Arbeitsvertrag und weitab von tariflicher Vergütung arbeiten, die weder eine Urlaubsvergütung noch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten. Ach, Streikrecht gibt's natürlich auch nicht.
Foto und Link: Regenbogenfabrik
Berlin, Lausitzer Straße, wir sind noch in Kreuzberg, aber fast schon Neukölln: hier liegt unweit des Landwehrkanals die Kantine der Regenbogenfabrik. Die denkmalgeschützte ehemalige Chemiefabrik und das normale Gründerzeitmietshaus davor waren in grauer Vorzeit besetzte Gebäude. 1992 geht die Liegenschaft in den Besitz des Landes über, und nun sind Fahrradwerkstatt, Töpferei, Schreinerei, Kino, Hostel und seit 2000 auch die Kantine dort Pächter bzw. sogar ein Berliner Eigenbetrieb. Und auch ohne Chefkoch darf der Eigenbetrieb ausbilden.
Am Ende des Hofgartens ist die Kantine samt kleinem Gastraum untergebracht. Hier kocht Julian, ein Auszubildender ohne Ausbilder, eine Berliner Spezialität, denn seine Lernfortschritte sichert die Berufsschule ab. Mittags werden hier 50 bis 60 Essen serviert, die Gäste sind Anwohner, Freiberufler aus der Nachbarschaft, Rentner, eine ältere Taxifahrerin, natürlich die Mitarbeiter des alternativen Kulturzentrums, drei Punks (Wer hat Angst vor RotGelbBlau?) und auch "Normalos". Der Jargon der achtziger Jahre hat hier überwintert. Und so hockt das bunte Publikum montags bis freitags Seit' an Seit' an drei langen Holztischen auf sechs Bänken und freuen sich über ein gutes Mittagessen aus Bioprodukten für drei bis vier Euro.
"Meet and eat", der Slogan der Verköstigung, ist wörtlich zu nehmen. Schon allein der langen Bänke wegen kommen die Esser schnell miteinander ins Gespräch, denn wer in der Mitte sitzen will, muss die Randsitzer freundlich um den Platz bitten.
An der mit einer comicartigen Großfigur bemalten Längswand sitzt heute einer der Punks (rot) und unterhält sich mit Oma Werner von nebenan, die vor kurzem hergezogen ist und mittags immer hier isst, denn: "solange ich noch selbst laufen kann, komme ich selbst." Später wird sie womöglich wie andere alte Menschen (und auch Kitakinder) aus der Kantine ihren Mittagstisch beziehen.
Die Kantine serviert immer von eins bis drei, aber die meisten kommen in der ersten Stunde. Ab halb drei wird es ruhig. Als ich zahlen will, zückt Julian, der angehende Koch, sein Handy und wiederholt, was er gerade seinem türkischen Kollegen im weißgefliesten Küchenabteil vorgeführt hat, das nur ein Tresen vom Gastraum trennt: "Sieh' mal!" Es sind Aufnahmen aus einer Berufsschulklasse. 90 Prozent der Schüler pennen oder quatschen, die andren reagieren zum Teil auch nur genervt. Der Jungkoch sagt, dass nur ein Drittel der Lehrer engagiert sei, den meisten wäre "der ganze Zirkus" egal. (Zitat: "bei einem Euro die Stunde kein Wunder!") Und so stünden nicht nur Lehrer, sondern auch etliche fachfremde MAE-Kräfte (*) vor den Schülern.
Und nachdenklich fügt Julian, der trotz seines Namens so gar nicht nach bildungsbürgerlichem Hintergrund ausschaut, kopfschüttelnd hinzu: "Wo soll sich unser Land noch hinentwickeln, wenn in den Schulen nicht mehr gelernt wird und keiner mehr Disziplin hat!" Der Punk und sein Freund, ebenfalls Punk (grün) sowie Oma Werner haben das Gespräch mit angehört und nicken einmütig.
Auf mein Rumgeflachse hin, das Filmchen solle er mal Redakteuren vom TV zuspielen, meint der Koch traurig: "Meinst Du, die nehmen uns ernst und drehen in der Schule? Aber ich könnte ja selbst mit einer echten Videokamera dort drehen, das würde niemanden groß aufregen."
Darüber regen sich jetzt hier alle auf. Was hier selten vorkommt. Am Essen gibt's nichts auszusetzen, auch ohne gute Berufsschule und ohne Ausbilder ist Julian auf dem richtigen Weg und kocht so, dass es der Zielgruppe schmeckt.
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(*) MAE-Kräfte (von MehrAufwandsEntschädigung) ist der neue Begriff für Ein-Euro-Jobber, die ohne Arbeitsvertrag und weitab von tariflicher Vergütung arbeiten, die weder eine Urlaubsvergütung noch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten. Ach, Streikrecht gibt's natürlich auch nicht.
Foto und Link: Regenbogenfabrik
Donnerstag, 8. November 2007
Peuplade !
Das Netz schafft Soziopathen, die nur noch hinter der Maschine hängen, ballern und chatten - und die ihre Mitmenschen kaum noch persönlich kennen. Richtig?
Im zweiten ist's wie im echten Leben: Die Dosis macht's. Und die Substanz. Nehmen wir eine Postgraduierten-Studentin, deren beide beste Freundinnen wegen anstehenden Familienstandswechsels den Kiez verlassen haben. Denn noch immer gilt diese Gegend als nicht ideal, um Kinder großzuziehen. Nämliche Person verspürt an einem Abend am Schreibtisch Lust, Leute zu sehen. Die neue Crêperie zu testen oder in eine Bar zu gehen. Aber nicht allein.
In Paris, Stadt der Soziopathen und Mega-Egos, hätte sie sich auf peuplade eingeloggt. Einst ein soziologisches Experiment, das auf einen Stadtteil beschränkt war und Kommunikationsweisen erforschen sollte, ist nun die reale Abbildung der echten Nachbarschaft in ganz Paris. Also doch "second life"? Nein, hier geht's brav mit Listen und Landkarten weiter, nicht mit virtuellen Räumen und Animation. Die jeweiligen Nachbarn - man kann die gewünschte Entfernung in Gehminuten eintragen - tauchen als Fähnchen im Stadtplan auf, je nach Filter erfahre ich, wer ähnliche Interessen hat und die gleichen Sprachen spricht.
Der Rest sind praktische Dinge. Misia fragt nach einem günstigen Klempner im Viertel, Apache verschenkt sechs Stühle, Oba verkauft, was sich auf dem Dachboden angesammelt hat, Gabriel8 jemanden für Englisch-Konversation. Ich finde Filmfan Abbeyroad im Kulturforum, schaue, wer von den Nachbarn meines Gebäudes sich eingetragen hat, und eine andere Rubrik bringt Eltern der verschiedenen Bildungseinrichtungen zusammen.
Oder ich gebe eine Suchanzeige auf: "Suche Menschen, mit denen ich die neue Crêperie testen kann". Wenn ich nicht Vali eine Sofortnachricht schicke, die mir durch ihr besonderes Wissen in der Diskussion über die Renovierung des markanten Baudenkmals an der Ecke aufgefallen ist.
Valis peuplade-Adresse finde ich auf ihrer Seite. Hier werden übrigens anders als sonst im Netz private Daten wie das eigene Alter nicht abgefragt. Und unter "Beruf" stehen vor allem die gelernten und früher ausgeübten Berufe eingetragen, daneben notiere ich, was ich gut kann und worin ich anderen helfen könnte. Ich kann auch ein Foto einstellen, das peuplade-Team empfiehlt indes, ein Foto zu wählen, das einen berührt hat und kein Portrait. Man will ja nicht zwangsläufig von allen Nachbarn erkannt werden ...
Denn das, was sonst typisch ist für virtual world - ich chatte mit jemandem meist anonym irgendwo auf dem Globus - gilt hier nicht. Ich muss auch hier nicht sofort sagen, wer ich bin, dennoch ist erklärtes Ziel, nach dem virtuellen Infoaustausch einige Nachbarn wirklich zu treffen.Nur ich durchbreche die Regel. September habe ich mich bei peuplade in meinem Pariser Lieblingsviertel eingetragen und gleich klargestellt, dass es mein 'alter Kiez' ist, dass ich jetzt in Berlin wohne. In einem Umkreis von 130 Metern treffe ich auf 30 Nachbarinnen und Nachbarn, nach drei Tagen habe ich als Neuling über deutsche Filme diskutiert, bin über den besten Bäcker im Kiez informiert und habe sogar die Grenzen des virtuellen Raums überwunden. Für Anne habe ein Buch im Antiquariat in Berlin um die Ecke abgeholt und am Tag drauf mit nach Paris genommen: Die Studentin hatte es im Netz gefunden und schnell gebraucht, so wurde aus der Netznachbarschaft gleich ein typischer Nachbarschaftsdienst.
Und dann sitze ich Mitte Oktober im "Café de la mairie" Anne, der Germanistin, gegenüber. Die dunkelblonde Endzwanzigerin träfe in Paris nur Ihresgleichen im der Presseagentur, ihrem Geldjob, an der Uni oder bei Kongressen, sagt sie, dann gebe es noch die Freunde aus Studium und Schule, ansonsten sei es in der Hauptstadt schwierig, jemanden kennenzulernen. Na klar, setzt sie lachend hinzu, hat sie jetzt mit mir im Netz jemanden gefunden, der in ihr Schema passt, wir hätten uns auch auf einer Konferenz kennen lernen können. Die anderen echten und virtuellen Nachbarn seien da schon bunter. Mit einer peuplade-Bekannten aus Ghana gehe sie jetzt zum Tanzkurs, die hat sie beim "Apéros de quartier" kennengelernt, dem reellen kleinen "Stammtisch" von peuplade in der Nachbarschaft. "Sie ist Verkäuferin, ein Herz von einem Menschen, ohne das Netz hätte ich sie nie kennengelernt", sagt Anne und winkt dem Kellner, von dem sie erst seit kurzem weiß, dass er eine Straße weiter lebt.
Beim nächsten Parisbesuch wohne ich vielleicht in "meinem" Kiez. Cat4 vermietet gelegentlich ein Zimmer, oder aber ich tausche nächsten Sommer die Wohnung mit Robinsonne, die findet Berlin nämlich auch prima.
Im zweiten ist's wie im echten Leben: Die Dosis macht's. Und die Substanz. Nehmen wir eine Postgraduierten-Studentin, deren beide beste Freundinnen wegen anstehenden Familienstandswechsels den Kiez verlassen haben. Denn noch immer gilt diese Gegend als nicht ideal, um Kinder großzuziehen. Nämliche Person verspürt an einem Abend am Schreibtisch Lust, Leute zu sehen. Die neue Crêperie zu testen oder in eine Bar zu gehen. Aber nicht allein.
In Paris, Stadt der Soziopathen und Mega-Egos, hätte sie sich auf peuplade eingeloggt. Einst ein soziologisches Experiment, das auf einen Stadtteil beschränkt war und Kommunikationsweisen erforschen sollte, ist nun die reale Abbildung der echten Nachbarschaft in ganz Paris. Also doch "second life"? Nein, hier geht's brav mit Listen und Landkarten weiter, nicht mit virtuellen Räumen und Animation. Die jeweiligen Nachbarn - man kann die gewünschte Entfernung in Gehminuten eintragen - tauchen als Fähnchen im Stadtplan auf, je nach Filter erfahre ich, wer ähnliche Interessen hat und die gleichen Sprachen spricht.
Der Rest sind praktische Dinge. Misia fragt nach einem günstigen Klempner im Viertel, Apache verschenkt sechs Stühle, Oba verkauft, was sich auf dem Dachboden angesammelt hat, Gabriel8 jemanden für Englisch-Konversation. Ich finde Filmfan Abbeyroad im Kulturforum, schaue, wer von den Nachbarn meines Gebäudes sich eingetragen hat, und eine andere Rubrik bringt Eltern der verschiedenen Bildungseinrichtungen zusammen.
Oder ich gebe eine Suchanzeige auf: "Suche Menschen, mit denen ich die neue Crêperie testen kann". Wenn ich nicht Vali eine Sofortnachricht schicke, die mir durch ihr besonderes Wissen in der Diskussion über die Renovierung des markanten Baudenkmals an der Ecke aufgefallen ist.
Valis peuplade-Adresse finde ich auf ihrer Seite. Hier werden übrigens anders als sonst im Netz private Daten wie das eigene Alter nicht abgefragt. Und unter "Beruf" stehen vor allem die gelernten und früher ausgeübten Berufe eingetragen, daneben notiere ich, was ich gut kann und worin ich anderen helfen könnte. Ich kann auch ein Foto einstellen, das peuplade-Team empfiehlt indes, ein Foto zu wählen, das einen berührt hat und kein Portrait. Man will ja nicht zwangsläufig von allen Nachbarn erkannt werden ...
Denn das, was sonst typisch ist für virtual world - ich chatte mit jemandem meist anonym irgendwo auf dem Globus - gilt hier nicht. Ich muss auch hier nicht sofort sagen, wer ich bin, dennoch ist erklärtes Ziel, nach dem virtuellen Infoaustausch einige Nachbarn wirklich zu treffen.Nur ich durchbreche die Regel. September habe ich mich bei peuplade in meinem Pariser Lieblingsviertel eingetragen und gleich klargestellt, dass es mein 'alter Kiez' ist, dass ich jetzt in Berlin wohne. In einem Umkreis von 130 Metern treffe ich auf 30 Nachbarinnen und Nachbarn, nach drei Tagen habe ich als Neuling über deutsche Filme diskutiert, bin über den besten Bäcker im Kiez informiert und habe sogar die Grenzen des virtuellen Raums überwunden. Für Anne habe ein Buch im Antiquariat in Berlin um die Ecke abgeholt und am Tag drauf mit nach Paris genommen: Die Studentin hatte es im Netz gefunden und schnell gebraucht, so wurde aus der Netznachbarschaft gleich ein typischer Nachbarschaftsdienst.
Und dann sitze ich Mitte Oktober im "Café de la mairie" Anne, der Germanistin, gegenüber. Die dunkelblonde Endzwanzigerin träfe in Paris nur Ihresgleichen im der Presseagentur, ihrem Geldjob, an der Uni oder bei Kongressen, sagt sie, dann gebe es noch die Freunde aus Studium und Schule, ansonsten sei es in der Hauptstadt schwierig, jemanden kennenzulernen. Na klar, setzt sie lachend hinzu, hat sie jetzt mit mir im Netz jemanden gefunden, der in ihr Schema passt, wir hätten uns auch auf einer Konferenz kennen lernen können. Die anderen echten und virtuellen Nachbarn seien da schon bunter. Mit einer peuplade-Bekannten aus Ghana gehe sie jetzt zum Tanzkurs, die hat sie beim "Apéros de quartier" kennengelernt, dem reellen kleinen "Stammtisch" von peuplade in der Nachbarschaft. "Sie ist Verkäuferin, ein Herz von einem Menschen, ohne das Netz hätte ich sie nie kennengelernt", sagt Anne und winkt dem Kellner, von dem sie erst seit kurzem weiß, dass er eine Straße weiter lebt.
Beim nächsten Parisbesuch wohne ich vielleicht in "meinem" Kiez. Cat4 vermietet gelegentlich ein Zimmer, oder aber ich tausche nächsten Sommer die Wohnung mit Robinsonne, die findet Berlin nämlich auch prima.
Montag, 5. November 2007
(Oulipo) Internationale Geschäftsinschriften in NK
Eine literarische Gruppe aus Frankreich heißt Oulipo, dieses Akronym steht seit 1960 für kommt von "Ouvroir de Littérature Potentielle" (Werkstatt für potentielle Literatur). Hierbei geht es darum, nach gesetzten Regeln Texte zu verfassen. Diese haben häufig eine mathematische Grundlage und arbeiten mit Verschiebungen oder Auslassungen von Buchstaben, mit zufälligen Nachbarschaften also und mit abwesenden Dritten. Hier ein Kurztext mit eigener, auf der Straße gefundener Regel:
Manchmal stehen in Neukölln Ladenschilder, die überraschen.
"Grieschiche Küsche" hat mich letztens derart irritiert, dass ich vor Schreck das Rad gebremst hab, abgestiegen bin und nochmal lesen musste. Das kulinarische Wochenmotto kann auch von einem Koch aus Sachsen auf die Tafel geschrieben worden sein.
Daneben gibt es Kaffee aus einem bislang mir unbekannten Anbaugebiet. "Kaffee TOGO" steht im Fenster des benachbarten Ladens. Ich dachte, in Togo es ist zu heiß und zu feucht für Kaffeeanbau?
Nach einigem Nachdenken finde ich die Lösung, es geht um Länder, Regionen, die Verbindung und das Abwesende. Hier also soll ich, nach dem Mittagessen beim falschen Griechen, einen Kaffee zum Mitnehmen kaufen, den "Türkentrank", der bei Johann Sebastian Bach schon vorkam und den ich immer mit leichtem sächsischem Akzent gesungen im Ohr hatte, weil ja die Sachsen als "Goffeesachsen" bereits seit 1694 öffentlichen Kaffeeausschank praktizieren.
Was denn auch die Verbindung wäre zwischen der ersten und der zweiten Ladeninschrift ...
Manchmal stehen in Neukölln Ladenschilder, die überraschen.
"Grieschiche Küsche" hat mich letztens derart irritiert, dass ich vor Schreck das Rad gebremst hab, abgestiegen bin und nochmal lesen musste. Das kulinarische Wochenmotto kann auch von einem Koch aus Sachsen auf die Tafel geschrieben worden sein.
Daneben gibt es Kaffee aus einem bislang mir unbekannten Anbaugebiet. "Kaffee TOGO" steht im Fenster des benachbarten Ladens. Ich dachte, in Togo es ist zu heiß und zu feucht für Kaffeeanbau?
Nach einigem Nachdenken finde ich die Lösung, es geht um Länder, Regionen, die Verbindung und das Abwesende. Hier also soll ich, nach dem Mittagessen beim falschen Griechen, einen Kaffee zum Mitnehmen kaufen, den "Türkentrank", der bei Johann Sebastian Bach schon vorkam und den ich immer mit leichtem sächsischem Akzent gesungen im Ohr hatte, weil ja die Sachsen als "Goffeesachsen" bereits seit 1694 öffentlichen Kaffeeausschank praktizieren.
Was denn auch die Verbindung wäre zwischen der ersten und der zweiten Ladeninschrift ...
Sonntag, 4. November 2007
Nordneukölln im Tagesspiegel
Heute steht ein Kurzportrait unseres Kiezes in der Zeitung, unter "Berlin baut um" schreibt Ralf Schönball:
Nordneukölln blüht auf. Kneipen und Galerien öffnen in der Friedel- und der Braunschweiger Straße, und das „Freie Neukölln“ in der Pannierstraße wird von Mittzwanzigern überrannt. Dabei galt bisher: Wer es sich leisten kann, zieht da weg, sogar besserverdienende Migranten. Jene, die übrig blieben, prägten das Bild. Wegen der Fortzüge sanken die Mieten, und das war eine Voraussetzung für den Umschwung: „Am Anfang ziehen oft Studenten in solche Quartiere, weil sie sich teure Lagen nicht leisten können, aber nahedran sein wollen“, sagt Politikwissenschaftler Volker Eick. Nordneukölln grenzt an die beliebten Quartiere von Kreuzberg und Friedrichshain. Und Kiezmanager schaffen Freiräume: Sie überzeugen Hauseigentümer, den Zugezogenen leere Gewerbeflächen für wenig Geld zu überlassen. Diese öffnen Kneipen, Cafés, Galerien. Auf die Kneipen folgen Boutiquen, Design- und Feinkostläden. Dann steigen Preise und Umsätze, aber auch die Mieten der Läden. Bald wird es schick, im Kiez zu leben, aber nicht jeder kann es sich leisten – so wie in Prenzlauer Berg heute. In Neukölln beginnt gerade erst diese Entwicklung, die rund um die historische Stadtmitte herum wie der Zeiger auf einer Uhr verläuft: vom Norden (Prenzlauer Berg) über den Osten (Friedrichshain) nach Süden (Neukölln).Der ganze Artikel hier.
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