Der irisch-venezolanische Dokumentarfilm “Die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen” - oder auch "Chavez - Inside the Coup" - wird am 4.5.2007 in Berlin-Neukölln gezeigt.
Dieser Film ist ein in Deutschland kaum gezeigtes brillantes Stück politischen Dokumentarfilms, ein Glücksfall des Zufalls, der an der Regie beteiligt war. Der Film erhielt u.a. den Preis “Georges de Beauregard” beim Dokumentarfestival FIDMarseille.
Venezuela, 2002 - Präsident Hugo Chávez regiert seit vier Jahren und verspricht mehr Demokratie, mehr Bildung, eine Landreform und die Umverteilung der Gewinne des viertgrößten Ölexporteurs der Welt zugunsten der armen Bevölkerung. Aber er hat starke Gegner in der Wirtschaftselite und so kommt es am 11. April 2002 zum Putsch.
Chavez wird verschleppt, der Kampf um die Macht entbrennt. Durch einen Zufall ist das Filmteam um Donnacha O’Briain genau zu diesem Zeitpunkt im belagerten Präsidentenpalast und dokumentiert die dramatischen Ereignisse der folgenden Stunden und Tage.
Der vielfach ausgezeichnete Film stellt mit seiner "Heldenerzählung" auch die Frage nach der Objektivität der Kamera: "Welche Wirklichkeit bildet sie ab?"
"Chavez - Inside the Coup", R: Kim Bartley und Donnacha O'Briain Eng/Span. mU, Irland, 2003, 72 Min.
Freitag, 4. Mai 2007, 19.00 Uhr, im kunstraum t27, Thomasstraße 27, 12053 Berlin-Neukölln, www.kunstraum, Eintritt ist frei.
Montag, 30. April 2007
Sonntag, 22. April 2007
Laufen an der Uferpromenade
Sonntagmorgen auf dem Weg am Landwehrkanal. Rechts, hinter Hecken und Zäunen decken die Serviererinnen die Tische in den Cafés, hier spaziert ein Herrchen vorbei, das zu ungeduldig ist für seien Hund, dort ist einer, der sehr spät nach Hause kommt und beim Päuschen auf der Parkbank ein wenig eingenickt ist.
Ich bin wieder laufen gegangen (oder was ich laufen nenne), mit mir Frauen und Männer allen Alters. Wenn wir einander begegnen, lächeln wir uns zu wie alte Bekannte. Die Sportkleidung macht verwechselbar - aber irgendwie sehen wir alle nach kreativer oder nicht kreativer Mittelschicht aus.
Fast alle. Jetzt überholen mich drei junge Türkinnen, eine trägt ein Kopftuch. Da steht ein türkischer Vater mit Steppke, um die zehn, der gestikuliert und Kämpfchen vorspielt, während der Vater Dehnübungen macht.
Nach über einer Woche in Frankreich, wo morgens alle Alter, Hautfarben und soziale Herkünfte einander beim Joggen begegnen, fällt hier an der Kreuzberger und Neuköllner Uferpromenade auf, dass Laufen noch keine unter den Migranten und ihren Kindern weit verbreitete Tätigkeit ist.
Ich bin wieder laufen gegangen (oder was ich laufen nenne), mit mir Frauen und Männer allen Alters. Wenn wir einander begegnen, lächeln wir uns zu wie alte Bekannte. Die Sportkleidung macht verwechselbar - aber irgendwie sehen wir alle nach kreativer oder nicht kreativer Mittelschicht aus.
Fast alle. Jetzt überholen mich drei junge Türkinnen, eine trägt ein Kopftuch. Da steht ein türkischer Vater mit Steppke, um die zehn, der gestikuliert und Kämpfchen vorspielt, während der Vater Dehnübungen macht.
Nach über einer Woche in Frankreich, wo morgens alle Alter, Hautfarben und soziale Herkünfte einander beim Joggen begegnen, fällt hier an der Kreuzberger und Neuköllner Uferpromenade auf, dass Laufen noch keine unter den Migranten und ihren Kindern weit verbreitete Tätigkeit ist.
Donnerstag, 19. April 2007
Gruß aus Cannes
Donnerstag, 12. April 2007
Gut neighborhood
Berlin-Kreuzberg, Körtestraße. Links ein Ladenschild: "Italy Eis". Rechts, einige Meter weiter runter, als wär's die Antwort, wieder ein Ladenschild: "Broken English".
Mittwoch, 11. April 2007
Autoportrait
Oui, vous pouvez me poser cette question. Mes
parents se sont connus à Göttingen. Tout en étant
allemands, ils étaient déracinés dans leur pays.
Mon père est saxon, ses ancêtres, des commerçants,
vivaient aussi en France, en Italie, en Anglettere. Ma mère,
native de Thuringe, porte un prénom français (Hélène).
Leurs villes étaient derrière le mur. Mais on y allait, le
retour au village, pour voir la grand-mère. De l’autre côté.
La frontière des blocs traversait le champ de bataille.
Plus tard, ne trouvant point d’attache à ces Allemagnes,
j’ai choisi ma culture de mon propre chef. Bac en main,
je me suis exilée. J’ai opté pour Paris pour y faire ma vie.
Oui, je fais mes rêves dans les deux langues. Et
soutitrés, s’il en faut. Puis, je me réveille, car j’entends
rire dans ma chambre. Cela m’amuse beaucoup.
(11.04.06)
parents se sont connus à Göttingen. Tout en étant
allemands, ils étaient déracinés dans leur pays.
Mon père est saxon, ses ancêtres, des commerçants,
vivaient aussi en France, en Italie, en Anglettere. Ma mère,
native de Thuringe, porte un prénom français (Hélène).
Leurs villes étaient derrière le mur. Mais on y allait, le
retour au village, pour voir la grand-mère. De l’autre côté.
La frontière des blocs traversait le champ de bataille.
Plus tard, ne trouvant point d’attache à ces Allemagnes,
j’ai choisi ma culture de mon propre chef. Bac en main,
je me suis exilée. J’ai opté pour Paris pour y faire ma vie.
Oui, je fais mes rêves dans les deux langues. Et
soutitrés, s’il en faut. Puis, je me réveille, car j’entends
rire dans ma chambre. Cela m’amuse beaucoup.
(11.04.06)
Dienstag, 10. April 2007
Vor dem Frühstück ...
... beim Bäcker. Was hätten Sie denn gern? Im Berliner Brotkorb liegen merkwürdig klingende Backwaren.
Eine Kaisersemmel (wie einst, das Wort hat aber einen Bart) oder ein Pide (flaches, türkisches Weißbrot), eine Schrippe (Weißmehlprodukt) oder doch vielleicht ein Schrot- oder ein Körnerbrötchen? In Berlin gibt's auch einen Kraftprotz (dunkel! Roggenteig) oder Schusterjungs (auch Brötchen). Wie wär's mit einem halben Hausfreund, oder gleich einen ganzen (offenbar ein Kastenbrot)?
(Aus zwei Neuköllner Bäckereien zusammengetragen.)
Eine Kaisersemmel (wie einst, das Wort hat aber einen Bart) oder ein Pide (flaches, türkisches Weißbrot), eine Schrippe (Weißmehlprodukt) oder doch vielleicht ein Schrot- oder ein Körnerbrötchen? In Berlin gibt's auch einen Kraftprotz (dunkel! Roggenteig) oder Schusterjungs (auch Brötchen). Wie wär's mit einem halben Hausfreund, oder gleich einen ganzen (offenbar ein Kastenbrot)?
(Aus zwei Neuköllner Bäckereien zusammengetragen.)
Donnerstag, 5. April 2007
Früher hieß das Arbeitsamt
Zwei Häuser, zwei Eindrücke, ein Résumé.
Berlin, Neukölln, kurz hinter dem S-Bahn-Ring: Hier steht das Hochhaus der Agentur für Arbeit, der größten Deutschlands. In diesem Haus ist man für ALG I zuständig: ein Hochhaus mit repräsentativem Empfangsbereich, der junge Mann am Counter kommt wirklich warmherzig rüber, strahlt nicht das aufgesetzt Muntere aus, das in Dienstleistungsfirmen oft anzutreffen ist. Auch das Gebäude wirkt freundlich und hell, Pflanzen, Teppichböden, Fahrstuhl. Nach kurzer Wartezeit werde ich in die Box eines Großraumbüros gerufen, werden Daten aufgenommen, denn ich bin zum ersten Mal hier. Wie verbucht man so vielseitige Projektarbeit? "Sie passen gar nicht in meine Maske", sagt die nicht mehr junge, patent wirkende Mitarbeiterin und lacht dabei. Wie es mein Wunsch ist, besorgt sie mir auch sofort einen Blitz-Beratungstermin. Auf der Etage mit den Einzelbüros spreche ich mit Herrn W. Er sieht aus wie die White collars, die er hier vermittelt, etwas schütteres Haar, Brille mit feinem Metallrand, der Blick beim Sprechen nach innen gekehrt. Ich schildere ihm die Situation der sinkenden Honorare in Kulturmanagement und Journalismus, wie ich es in den letzten Jahren in Berlin erlebe, erzähle kurz von meinen Lehraufträgen und wie ich im siebenten Jahr an Uni und Kunsthochschule Praxiskenntnis und Theorie verbinde. Um aus dem Nebenjob mehr zu machen, möchte ich mich weiterbilden lassen. "Meine" Hochschulen bieten das nicht an, aber eine andre Uni zusammen mit einem Träger - vom Arbeitsamt finanziert lautet hier das Zauberwort.
"Wir sind eine Versicherung", sagt Herr W., "und als Selbständige haben sie keine Ansprüche erworben". Er vermutet dann richtig, dass bei fünf Monaten Fortbildung, vier Tage in der Woche, meine Umsätze sinken werden, und ergänzt: "Sie könnten vielleicht ergänzendes ALG II beantragen - selbst, wenn Sie nur fünf Euro bekommen, haben sie damit einen Rechtsanspruch auf Fortbildung." Er sagt, ich solle mich nicht von der Papierlawine einschüchtern lassen, die auf mich zukäme, und sicher seien da der Ansturm und das Publikum etwas anders als hier, aber das wäre im Grunde alles gar nicht so schlimm.
Am nächsten Morgen stehe ich viertel vor acht vor dem niedrigen Gebäude des ALG II, das neben dem Hochhaus steht. Hier warten viele Dutzend Menschen schon seit sieben Uhr, es ist kalt, ich bin froh, dass ich die Felljacke trage und die Wollhose von Kokaï. Schlag acht dürfen wir rein. Sehr müde und zäh fließt die Masse ins Innere. Das Gebäude versprüht den Charme der etwas angeöllten Aula einer hessischen Gesamtschule aus den 70er Jahren ohne das Bunte, ohne den Pop art-Charakter. Ein Aufsteller - "Für ihre Information" - bietet drei Infoblätter auf vier Regalflächen an. Sonst nur Verbotsschilder und Ziffern. Jetzt bin ich auch hier angekommen, in der Schlange des größten Arbeitsamtes der Republik, an einem Ort, an den ich sonst als Journalistin allenfalls für ein paar Minuten zum Drehen gekommen wäre.
Am Ende des Raums zwei Säulen, dazwischen eine Reihe Schalter wie bei der Post. Den Hauptteil des Raums füllt der Wartebereich, eine geschlängelte Wartegasse, mit roten Trennbändern wie am Flughafen aufgeteilt. Es gibt keine Stühle, die Frau vor mir geht an Krücken. Ich zähle ein Segment Warteschlange und die Serpentinen aus, multipliziere ... es sind knapp 200 Leute hier heute morgen. Der Wachschutz schließt die Türen hinter uns, es kommt zu ein paar flotten Bemerkungen unter den Herren in blauer Uniform, wegen der Kälte wurden vielleicht ein paar mehr reingelassen als sonst, einem passt das nicht. "Wie viele sind noch draußen?", der eine. Der andre: "Rund zwanzig Stück!" Dann wieder Stille. Außer Husten: alle fünf Sekunden hustet einer, zum Teil ganz schrecklich. Ich werde nachher Obst essen.
Unter den Wartenden sind alle Alter vertreten, die meisten zwischen 40 und 50. Den Menschen sieht man die Armut an. Viel fahle, großporige Haut, einige Säuferknollen, schlechtsitzende Frisuren, viel pragmatisch Kurzrasiertes. Zwei gar nicht so alte Frauen tragen kitschige Brillen mit großen Gläsern wie aus den 70ern, viele Münder, die wie ein Strich im Gesicht stehen, unter Augen, die nicht fragen, kaum beobachten, eine Mischung aus Scham und Dumpfheit. Merwürdig kombinierte Kleidung, es häufen sich hier dunkelgraue Blousons, dazu blaue Jeans und Turnschuhe. Turnschuhe scheinen überhaupt DAS Kleidungsstück der weniger Gebildeten zu sein, sie symbolisieren Flexibilität und Fitness, wo Stillstand und Schlaffheit vorherrschen. Manche jüngere Frauen heben sich davon ab, sie tragen Taschen aus Kunstleder oder gedeckten Stoffen mit goldenen Schnallen, enge Hosen, Parkas mit Fellimitat. Bei den Lippenstiften dominieren die Rosatöne, bei der künstlichen Haarfarbe sämtliche Variationen von Blond.
Immer noch schweigen alle. Manch einer blättert nochmal nervös in seinen Unterlagen. Viele halten Formulare in der Hand, sonst nichts, keine Tasche, hier liest einer ein Boulevardblatt, dort jemand ein Buch, ein aufgeschossener junger Mann in seinen späten Zwanzigern, sieht nach Student aus. Mein Blick sucht weiter nach Druckerzeugnissen: nichts. Und nach Leuten, die sich durch Blick und Kleidung von den anderen absetzen: wenige, vielleicht drei im ganzen Saal, mich eingerechnet.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie revolutionär es doch war, die Demokratie einzuführen, und dass jeder hier das gleiche Stimmrecht hat. Die Gesellschaft war mutig, die Demokratie zuzulassen, und wir sind nicht mutig genug, uns auf die Menschen einzulassen, ihnen mehr in die Hand zu geben als alle Jubeljahre einen Stimmzettel, nicht mutig genug, sie zu bilden, zu formen, herauszufordern, zu wecken.
Es sind sogar zwei Kinder im Raum. Sie haben schon den gleichen müden Gesichtsausdruck wie ihre Eltern, sie bewegen sich nicht wie Kinder, sie fragen nicht wie Kinder, sie spielen nicht. Doch, eins, das jetzt reinkommt. Ein Hosenmatz, vielleicht drei, er will spielen, rennen, alles ansehen. Die Mutter ist unfähig, sich mit ihm zu beschäftigen. Sie schreit, rüttelt ihn am Arm, schüchtert ihn ein, droht im Schläge an, langt ihm eine, droht weiter. Das Publikum tut so, als bekäme es nichts mit. Ich erwäge einzugreifen und ringe nach Worten, da beruhigt sich der Kleine. Lernt, was an diesem Ort die erste Lektion zu sein scheint: Zeit zu vernichten.
Zeit, eine Ressource, die hier im Überfluss vorhanden ist, also ist sie auch nichts wert. Wie schnell ist der Gedanke da, dass auch die Menschen nicht viel wert sein können, ein gefährlicher Gedanke, der in diesem Raum längst seine materielle Entsprechung gefunden hat.
Als wir nach zwanzig Minuten ein Sechstel der Serpentine zurückgelegt haben, fällt der Dame vor mir, der mit dem Krückstock, ein Papier aus der Hand. Ich hebe es auf, endlich kommt ein kleines Gespräch in Gang. Sie ist zum dritten Mal hier, immer fehlt etwas. Information scheint hier ein rares Gut. Auch ich weiß ja nicht, ob ich überhaupt richtig bin, der Wachschutz am Eingang hatte beim Aufschluss des Saales nur lakonisch auf die Schalter verwiesen. Ich frage weiter. Da mischt sich einer ein, sagt, im dritten Stock sei ein Büro, da ginge es auch viel schneller. Als ich gehe, wünscht mir die alte Dame Glück, ein anderer viel Erfolg, ein dritter frohe Ostern. So viel Mitteilsamkeit plötzlich.
Über eine Steintreppe, die wie eine Hintertreppe aussieht, komme ich in den improvisierten Raum mit Wartezone und acht Tischen, die aneinandergeschoben sind - vier in der Breite, zwei in der Tiefe - als wolle man Abstand zum Publikum haben. Hier beugen sich die Besucher runter, wenn sie mit den Bearbeitern sprechen. Nach weiteren 20 Minuten bin ich im Besitz von Formularen. "Ausfüllen müssen Sie die zu Hause", sagt der Mann vom Amt, der so verhuscht aussieht wie seine Kundschaft. Er sieht meinen Blick, als ich mich über den kleinen Stapel wundere. "Viele Fragen, da haben Sie gut zu tun! Und dann kommen Sie nächste Woche wieder."
Und ich hatte mir eingebildet, heute alles fertig zu kriegen ... Beim Rausgehen ärgere ich mich. Vierzig Minuten warten für einen Stapel Formulare - hätte mir die Herr W. aus dem Einser-Amt nicht gestern gleich mitgeben können? Und warum gibt's in Haus zwei keinen, der einen am Empfang freundlich berät? Weil die Kundschaft Zeit hat.
Die Agentur für Arbeit, so wie ich sie erlebe, ist eine böse Zweiklassengesellschaft, und das Haus für ALG II eine Stelle zur Vernichtung von Zeit.
P.S.: Über Ostern gärte es in mir. Mich ärgert die Sache inzwischen grundsätzlich: Da leiste ich seit Jahren eine hochqualifizierte Lehrtätigkeit, die der Allgemeinheit nur ein Trinkgeld wert ist, kofinanziere also die Hochschulen, die uns allen gehören, aus meiner Privatschatulle, und wenn ich dafür etwas zurück möchte - pädagogische Begleitung, Einschätzung meiner Lehre, Spiegelung - kommt nichts aus den Hochschulen selbst. Ebenso wenig Kontakte, die mir weiterhelfen würden, den Job zu verstetigen, das berühmte soziale Kapital. Also suche ich mir einen Kurs, der Abhilfe schaffen könnte, und um den zu bekommen, darf ich den Staat in meine ganze Wirtschaft gucken lassen, muss mich von ihm als bedürftig erklären lassen, sonst wird mir das, was ich dem Nachwuchs schenke, Beratung, Begleitung, Förderung, für mich selbst verwehrt. Zugleich droht man mir Rentenkürzung an, da ich mich ja nicht fleißig reproduziere. Von welchem Geld, bitteschön, soll ich der lieben Kinder fröhliche Schar sattkriegen? Unverschämt!
2. P.S.: Die Story ging gut aus. Ich war ein drittes Mal da, vom Bildungsträger vermittelt. Ich habe lediglich meine mit vollen Summen honorierten Arbeitsstunden zusammengezählt und hatte plötzlich einen Anspruch auf eine von der Agentur für Arbeit geförderte Maßnahme. - Deutschland erinnert mich jetzt hier plötzlich an Frankreich: Es ist eine Frage der Definition, die gemeinsam gefunden wird in der geteilten Absicht, den Paragrafen zu finden, der sich anwenden lässt. Ab jetzt lerne ich ein halbes Jahr mit Supervision und ergänzenden Seminaren in Didaktik, Methodik, Rhetorik. Pas mal !
Berlin, Neukölln, kurz hinter dem S-Bahn-Ring: Hier steht das Hochhaus der Agentur für Arbeit, der größten Deutschlands. In diesem Haus ist man für ALG I zuständig: ein Hochhaus mit repräsentativem Empfangsbereich, der junge Mann am Counter kommt wirklich warmherzig rüber, strahlt nicht das aufgesetzt Muntere aus, das in Dienstleistungsfirmen oft anzutreffen ist. Auch das Gebäude wirkt freundlich und hell, Pflanzen, Teppichböden, Fahrstuhl. Nach kurzer Wartezeit werde ich in die Box eines Großraumbüros gerufen, werden Daten aufgenommen, denn ich bin zum ersten Mal hier. Wie verbucht man so vielseitige Projektarbeit? "Sie passen gar nicht in meine Maske", sagt die nicht mehr junge, patent wirkende Mitarbeiterin und lacht dabei. Wie es mein Wunsch ist, besorgt sie mir auch sofort einen Blitz-Beratungstermin. Auf der Etage mit den Einzelbüros spreche ich mit Herrn W. Er sieht aus wie die White collars, die er hier vermittelt, etwas schütteres Haar, Brille mit feinem Metallrand, der Blick beim Sprechen nach innen gekehrt. Ich schildere ihm die Situation der sinkenden Honorare in Kulturmanagement und Journalismus, wie ich es in den letzten Jahren in Berlin erlebe, erzähle kurz von meinen Lehraufträgen und wie ich im siebenten Jahr an Uni und Kunsthochschule Praxiskenntnis und Theorie verbinde. Um aus dem Nebenjob mehr zu machen, möchte ich mich weiterbilden lassen. "Meine" Hochschulen bieten das nicht an, aber eine andre Uni zusammen mit einem Träger - vom Arbeitsamt finanziert lautet hier das Zauberwort.
"Wir sind eine Versicherung", sagt Herr W., "und als Selbständige haben sie keine Ansprüche erworben". Er vermutet dann richtig, dass bei fünf Monaten Fortbildung, vier Tage in der Woche, meine Umsätze sinken werden, und ergänzt: "Sie könnten vielleicht ergänzendes ALG II beantragen - selbst, wenn Sie nur fünf Euro bekommen, haben sie damit einen Rechtsanspruch auf Fortbildung." Er sagt, ich solle mich nicht von der Papierlawine einschüchtern lassen, die auf mich zukäme, und sicher seien da der Ansturm und das Publikum etwas anders als hier, aber das wäre im Grunde alles gar nicht so schlimm.
Am nächsten Morgen stehe ich viertel vor acht vor dem niedrigen Gebäude des ALG II, das neben dem Hochhaus steht. Hier warten viele Dutzend Menschen schon seit sieben Uhr, es ist kalt, ich bin froh, dass ich die Felljacke trage und die Wollhose von Kokaï. Schlag acht dürfen wir rein. Sehr müde und zäh fließt die Masse ins Innere. Das Gebäude versprüht den Charme der etwas angeöllten Aula einer hessischen Gesamtschule aus den 70er Jahren ohne das Bunte, ohne den Pop art-Charakter. Ein Aufsteller - "Für ihre Information" - bietet drei Infoblätter auf vier Regalflächen an. Sonst nur Verbotsschilder und Ziffern. Jetzt bin ich auch hier angekommen, in der Schlange des größten Arbeitsamtes der Republik, an einem Ort, an den ich sonst als Journalistin allenfalls für ein paar Minuten zum Drehen gekommen wäre.
Am Ende des Raums zwei Säulen, dazwischen eine Reihe Schalter wie bei der Post. Den Hauptteil des Raums füllt der Wartebereich, eine geschlängelte Wartegasse, mit roten Trennbändern wie am Flughafen aufgeteilt. Es gibt keine Stühle, die Frau vor mir geht an Krücken. Ich zähle ein Segment Warteschlange und die Serpentinen aus, multipliziere ... es sind knapp 200 Leute hier heute morgen. Der Wachschutz schließt die Türen hinter uns, es kommt zu ein paar flotten Bemerkungen unter den Herren in blauer Uniform, wegen der Kälte wurden vielleicht ein paar mehr reingelassen als sonst, einem passt das nicht. "Wie viele sind noch draußen?", der eine. Der andre: "Rund zwanzig Stück!" Dann wieder Stille. Außer Husten: alle fünf Sekunden hustet einer, zum Teil ganz schrecklich. Ich werde nachher Obst essen.
Unter den Wartenden sind alle Alter vertreten, die meisten zwischen 40 und 50. Den Menschen sieht man die Armut an. Viel fahle, großporige Haut, einige Säuferknollen, schlechtsitzende Frisuren, viel pragmatisch Kurzrasiertes. Zwei gar nicht so alte Frauen tragen kitschige Brillen mit großen Gläsern wie aus den 70ern, viele Münder, die wie ein Strich im Gesicht stehen, unter Augen, die nicht fragen, kaum beobachten, eine Mischung aus Scham und Dumpfheit. Merwürdig kombinierte Kleidung, es häufen sich hier dunkelgraue Blousons, dazu blaue Jeans und Turnschuhe. Turnschuhe scheinen überhaupt DAS Kleidungsstück der weniger Gebildeten zu sein, sie symbolisieren Flexibilität und Fitness, wo Stillstand und Schlaffheit vorherrschen. Manche jüngere Frauen heben sich davon ab, sie tragen Taschen aus Kunstleder oder gedeckten Stoffen mit goldenen Schnallen, enge Hosen, Parkas mit Fellimitat. Bei den Lippenstiften dominieren die Rosatöne, bei der künstlichen Haarfarbe sämtliche Variationen von Blond.
Immer noch schweigen alle. Manch einer blättert nochmal nervös in seinen Unterlagen. Viele halten Formulare in der Hand, sonst nichts, keine Tasche, hier liest einer ein Boulevardblatt, dort jemand ein Buch, ein aufgeschossener junger Mann in seinen späten Zwanzigern, sieht nach Student aus. Mein Blick sucht weiter nach Druckerzeugnissen: nichts. Und nach Leuten, die sich durch Blick und Kleidung von den anderen absetzen: wenige, vielleicht drei im ganzen Saal, mich eingerechnet.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie revolutionär es doch war, die Demokratie einzuführen, und dass jeder hier das gleiche Stimmrecht hat. Die Gesellschaft war mutig, die Demokratie zuzulassen, und wir sind nicht mutig genug, uns auf die Menschen einzulassen, ihnen mehr in die Hand zu geben als alle Jubeljahre einen Stimmzettel, nicht mutig genug, sie zu bilden, zu formen, herauszufordern, zu wecken.
Es sind sogar zwei Kinder im Raum. Sie haben schon den gleichen müden Gesichtsausdruck wie ihre Eltern, sie bewegen sich nicht wie Kinder, sie fragen nicht wie Kinder, sie spielen nicht. Doch, eins, das jetzt reinkommt. Ein Hosenmatz, vielleicht drei, er will spielen, rennen, alles ansehen. Die Mutter ist unfähig, sich mit ihm zu beschäftigen. Sie schreit, rüttelt ihn am Arm, schüchtert ihn ein, droht im Schläge an, langt ihm eine, droht weiter. Das Publikum tut so, als bekäme es nichts mit. Ich erwäge einzugreifen und ringe nach Worten, da beruhigt sich der Kleine. Lernt, was an diesem Ort die erste Lektion zu sein scheint: Zeit zu vernichten.
Zeit, eine Ressource, die hier im Überfluss vorhanden ist, also ist sie auch nichts wert. Wie schnell ist der Gedanke da, dass auch die Menschen nicht viel wert sein können, ein gefährlicher Gedanke, der in diesem Raum längst seine materielle Entsprechung gefunden hat.
Als wir nach zwanzig Minuten ein Sechstel der Serpentine zurückgelegt haben, fällt der Dame vor mir, der mit dem Krückstock, ein Papier aus der Hand. Ich hebe es auf, endlich kommt ein kleines Gespräch in Gang. Sie ist zum dritten Mal hier, immer fehlt etwas. Information scheint hier ein rares Gut. Auch ich weiß ja nicht, ob ich überhaupt richtig bin, der Wachschutz am Eingang hatte beim Aufschluss des Saales nur lakonisch auf die Schalter verwiesen. Ich frage weiter. Da mischt sich einer ein, sagt, im dritten Stock sei ein Büro, da ginge es auch viel schneller. Als ich gehe, wünscht mir die alte Dame Glück, ein anderer viel Erfolg, ein dritter frohe Ostern. So viel Mitteilsamkeit plötzlich.
Über eine Steintreppe, die wie eine Hintertreppe aussieht, komme ich in den improvisierten Raum mit Wartezone und acht Tischen, die aneinandergeschoben sind - vier in der Breite, zwei in der Tiefe - als wolle man Abstand zum Publikum haben. Hier beugen sich die Besucher runter, wenn sie mit den Bearbeitern sprechen. Nach weiteren 20 Minuten bin ich im Besitz von Formularen. "Ausfüllen müssen Sie die zu Hause", sagt der Mann vom Amt, der so verhuscht aussieht wie seine Kundschaft. Er sieht meinen Blick, als ich mich über den kleinen Stapel wundere. "Viele Fragen, da haben Sie gut zu tun! Und dann kommen Sie nächste Woche wieder."
Und ich hatte mir eingebildet, heute alles fertig zu kriegen ... Beim Rausgehen ärgere ich mich. Vierzig Minuten warten für einen Stapel Formulare - hätte mir die Herr W. aus dem Einser-Amt nicht gestern gleich mitgeben können? Und warum gibt's in Haus zwei keinen, der einen am Empfang freundlich berät? Weil die Kundschaft Zeit hat.
Die Agentur für Arbeit, so wie ich sie erlebe, ist eine böse Zweiklassengesellschaft, und das Haus für ALG II eine Stelle zur Vernichtung von Zeit.
P.S.: Über Ostern gärte es in mir. Mich ärgert die Sache inzwischen grundsätzlich: Da leiste ich seit Jahren eine hochqualifizierte Lehrtätigkeit, die der Allgemeinheit nur ein Trinkgeld wert ist, kofinanziere also die Hochschulen, die uns allen gehören, aus meiner Privatschatulle, und wenn ich dafür etwas zurück möchte - pädagogische Begleitung, Einschätzung meiner Lehre, Spiegelung - kommt nichts aus den Hochschulen selbst. Ebenso wenig Kontakte, die mir weiterhelfen würden, den Job zu verstetigen, das berühmte soziale Kapital. Also suche ich mir einen Kurs, der Abhilfe schaffen könnte, und um den zu bekommen, darf ich den Staat in meine ganze Wirtschaft gucken lassen, muss mich von ihm als bedürftig erklären lassen, sonst wird mir das, was ich dem Nachwuchs schenke, Beratung, Begleitung, Förderung, für mich selbst verwehrt. Zugleich droht man mir Rentenkürzung an, da ich mich ja nicht fleißig reproduziere. Von welchem Geld, bitteschön, soll ich der lieben Kinder fröhliche Schar sattkriegen? Unverschämt!
2. P.S.: Die Story ging gut aus. Ich war ein drittes Mal da, vom Bildungsträger vermittelt. Ich habe lediglich meine mit vollen Summen honorierten Arbeitsstunden zusammengezählt und hatte plötzlich einen Anspruch auf eine von der Agentur für Arbeit geförderte Maßnahme. - Deutschland erinnert mich jetzt hier plötzlich an Frankreich: Es ist eine Frage der Definition, die gemeinsam gefunden wird in der geteilten Absicht, den Paragrafen zu finden, der sich anwenden lässt. Ab jetzt lerne ich ein halbes Jahr mit Supervision und ergänzenden Seminaren in Didaktik, Methodik, Rhetorik. Pas mal !
Dienstag, 3. April 2007
Verständlich?
Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Christoph Fasel, Januar bis September 2006 Leiter der Henri Nannen-Journalistenschule in Hamburg, geht davon aus, dass die meisten Pressemeldungen von den Lesern nicht mehr verstanden werden.
Die Lesefähigkeit der Deutschen gehe immer weiter zurück, so Fasel. Zum Beispiel läge das Sprachverständnis bei geschriebenen Texten...
...bei siebenjährigen Kindern:
8 Worte pro Satz
...bei einem Drittel der Erwachsenen:
11 Worte pro Satz
...bei über der Hälfte der Erwachsenen:
14 Worte pro Satz
... bei allen übrigen:
18 Worte pro Satz
Die Lesefähigkeit der Deutschen gehe immer weiter zurück, so Fasel. Zum Beispiel läge das Sprachverständnis bei geschriebenen Texten...
...bei siebenjährigen Kindern:
8 Worte pro Satz
...bei einem Drittel der Erwachsenen:
11 Worte pro Satz
...bei über der Hälfte der Erwachsenen:
14 Worte pro Satz
... bei allen übrigen:
18 Worte pro Satz
Montag, 2. April 2007
Vollmondnächte
Am Firmament steht der Erdentrabant, Quatsch!, Neustart: Der Mond hat ist noch nicht mal den halben Aufstieg geschafft, er wirkt riesig, wie ihn da das Auge noch mit den Häusern und Bäumen vergleicht in seiner Größe. Wie eine unheimlich große orangegelbe Scheibe, wie herausgeschnitten aus schwarzem Molton, das über den gebauten Horizont gespannt ist, so sauber sind seine Umrisse. Dieser Mond hat keinen Hof.
Auf der Wiener Straße gibt's Spätzle, die kleine Portion für drei Euro, leckre verschrumpelte Teigwaren mit zu heiß gewordenem, verdorbenem Brustsekret eines Wiederkäuers - und Salat. Die Leute sind plötzlich alle ganz aufgedreht, freundlich, lautes Lachen, leises Flirten. Es ist warm, der erste Abend draußen in diesem Jahr, wenngleich für mich nur kurz.
Am Nebentisch erzählt ein Westberliner von Oma Wolter aus Oberschweineöde (...schöneweide), wie sie seinen Freundeskreis mit optischen Steinen und Partituren versorgte gegen Krönungs-Kaffee und Alpenmilchschokolade. Mauerzeiten, kleiner Grenzverkehr im Kurs von eins zu zehn.
Keiner, außer mir, bemerkt hier den Mond. Wer sagte mal was von umgedrehtem Pisspott (Büchner), wer sprach von Käse? Letzeres, ja. Delikates Multikulti: Käsespätzle von einem indischen Koch bereitet in der Kreuzberger Wiener Straße angesichts des Mondes, der aussieht wie ein Laib Schweizerchäs.
Auf der Wiener Straße gibt's Spätzle, die kleine Portion für drei Euro, leckre verschrumpelte Teigwaren mit zu heiß gewordenem, verdorbenem Brustsekret eines Wiederkäuers - und Salat. Die Leute sind plötzlich alle ganz aufgedreht, freundlich, lautes Lachen, leises Flirten. Es ist warm, der erste Abend draußen in diesem Jahr, wenngleich für mich nur kurz.
Am Nebentisch erzählt ein Westberliner von Oma Wolter aus Oberschweineöde (...schöneweide), wie sie seinen Freundeskreis mit optischen Steinen und Partituren versorgte gegen Krönungs-Kaffee und Alpenmilchschokolade. Mauerzeiten, kleiner Grenzverkehr im Kurs von eins zu zehn.
Keiner, außer mir, bemerkt hier den Mond. Wer sagte mal was von umgedrehtem Pisspott (Büchner), wer sprach von Käse? Letzeres, ja. Delikates Multikulti: Käsespätzle von einem indischen Koch bereitet in der Kreuzberger Wiener Straße angesichts des Mondes, der aussieht wie ein Laib Schweizerchäs.
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