Donnerstag, 28. Dezember 2006

Der Fühlgutfaktor

"I feel good" sagt James Brown in den Archivaufnahmen - und der Journalist des ZDF heute-Journals gibt die Worte des "Godfather of Soul" wieder mit "Ich fühle mich gut". Dem Jazzmusiker war anlässlich seines Todes am 24.12.2006 ein kurzes Portrait in den Nachrichten gewidmet, und ohne, dass es der Redaktionsleitung aufgefallen wäre, wurde an Heiligabend falsches Deutsch zur Hauptsendezeit ausgestrahlt.

Die wörtliche Übertragung des Zitats fällt unter den Begriff "Synchrondeutsch" - früher hätte man wohl ohne zu zögern gesagt: "Es geht mir gut". Aber die immer schneller übersetzten und synchronisierten Programme nordamerikanischer Provenienz, dazu die Einflüsse von Werbe- und Gruppensprachen und nicht zuletzt die Verbreitung des Englischen als lingua franca der Wirtschaft haben unser Sprachgefühl verändert.

I feel good - auch die ARD bringt diesen Ausdruck, wenn sie Kanzlerin Merkel am Tage ihrer Wahl auf der eigenen Webseite so wiedergibt: "Lächelnd, aber unaufgeregt wie gewohnt, nahm sie Wahlergebnis und Glückwünsche entgegen. "Ich fühle mich gut", war das, was sie nach ihrem Triumph zu sagen hatte."

Angelas Ausspruch “war in 2005" - oder ließ sie ihn "im Jahr 2005" vom Stapel? Oder einfach nur: "Das war 2005" - inzwischen ist die gute Gefühlslage möglicherweise nicht mehr so eindeutig. Sind wir uns da sicher? “Nicht wirklich!” ... (not really). Oder: "Das erinnere ich nicht!" (I don't remember that).

Autoren von Filmsynchronisationen müssen sich kurz fassen, wenn die englische Vorlage kurz ist. Sie sind gehalten, am besten sogar lippensynchrone Übertragungen zu finden. So hören wir "in Deutsch" immer häufiger Ausdrücke, die "in english" durchaus korrekt sind - und auf Deutsch für viele immer seltener falsch klingen.

Paradoxerweise gelangt Synchrondeutsch sogar in die geschriebene Sprache. Immer häufiger fallen seit einigen Jahren in der deutschen Sprache Bindestriche weg, die im anglophonen Raum wenig gebräuchlich sind. Das ist genauso Ausdruck derselben Verunsicherung wie die inflationäre Zunahme falscher Apostrophs (wie sie auf Englisch durchaus richtig sind), "Moni's Schnellimbiss" beispielsweise.

Nett ist auch die "Baguette- and Croissanteria", eine Mischung von vier Sprachmustern (das implizite "Baguetteria" wäre der deutsche Beitrag), gesehen in der Berliner Kochstraße. Aber das ist ein anderes Thema.

Der Inhaber des Geschäfts ist übrigens türkischer Herkunft - und das Ladenschild sein persönlicher Beitrag zur internationalen Völkerverständigung unweit des "Checkpoint Charly" der ehemaligen Mauer.

Hoher Fühlgutfaktor also :-)

Dienstag, 19. Dezember 2006

Pause bei Neukölln-Themen: Recherche woanders

Infolge eines Artikelauftrages war ich auf einer anderen Baustelle unterwegs. Hier das Ergebnis.

Digital Love
Partnersuche im Internet


Protokoll: Caroline E.

Wenn du geliebt werden willst, liebe!
Seneca

"Und? Haste jemanden über deine Paarungsplattform gefunden?" Aus dem Telefonhörer blubbert's, Jamal liegt wie oft in der Badewanne, wenn er mich anruft. Eigentlich will er mir sagen, dass im Radio was über das akademische Prekariat läuft, aber der Beitrag ist zuende, als ich abhebe. Und da Jamal mein engster Freund ist, weiß er natürlich, was mich sonst so bewegt. Der abwesende liebste Mensch im Leben ist unser beider Dauerthema. Ich zögere.

"Oder hast du jemanden an der Käsetheke kennengelernt?" Jamal kommt in Fahrt. "Das glaub ich nicht. Kaum hast du dich dort warmgeflirtet, stürzt das Ehegespons mit einem Kräwäh im Schlepptau aus dem Gang mit den Ceralien und fragt nach der Farbe der zu kaufenden Schuhcreme. Oder Biergarten? Diesen Sommer hab ich meinen ganzen Mut versammelt und eine angesprochen. Sie hat mich nicht mal ausreden lassen. Der erste Versuch in achtunddreißig Jahren und gleich gescheitert!"

"Und Bars? Discos?" Ich versuche einen Ortswechsel. "Sophie, bei Deiner Allergie gegen Lärm und Tabak, vergisses!"

Mehr Personnality, bitte!

Jamal kennt mich gut. "Na, und? Was ist mit nun mit Matchhearts.de?" Seit zehn Wochen bin ich "ausgezeichneter Kunde", was bedeutet, das diese Firma jeden Monat den Gegenwert eines Restaurantbesuchs überwiesen bekommt. Dafür habe ich dort meine Seite mit Foto, auf der ich mich mit Beruf, Wohnort und Hobbies präsentieren kann. Nach zwölf Monaten Trauer über einen Mann, der mit seinen Ängsten und Verletzungen nicht klarkam, hatte ich befunden, es sei Zeit für Neues.

Die Währung in der Partnerbörse heißt Matchingpoints. Ohne eine hohe MP-Zahl läuft nichts. Deshalb steht am Anfang auch der Personnality-Test - auch wenn mir beim Wort 'Personnality' nur Zickenalarm in Hollywood einfällt. Der Test besteht aus vielen Fragen und Bildern, die anzukreuzen sind: Was ist für sie im Leben wichtig/unwichtig, welches ist ihre liebste Jahreszeit-Wohnsituation-Musikrichtung. Zwischendurch kommen Fragen zur künftigen Vereinbarkeit der Charaktere, die sich in Variation wiederholen: Plausibilitätsprüfungen, die das Schummeln erschweren sollen.

Ach, Jamal, nichts tut sich, die Kerle, die mich interessieren, antworten nicht und die Fotos von denen, die mich anmailen, naja.
"Jetzt hör endlich auf, immer nur aufs Äußere zu schauen!", schimpft Jamal. "Hättest du mir geschrieben bei meiner Gangstervisage, einem kleinen, dicklichen Mann mit hochrutschendem Haaransatz?" Hätt ich nicht. Er ist einer meiner engsten Freunde - und eben nicht mein Rosenkavalier. Insofern hinkt die Frage.

HP aus KWH und andere Visagen

Über die Partnerbörse "lerne" ich Klaus "kennen" (95 PM), den Oberarzt, der bald Kinder möchte, die Villa im Grunewald ist schon da. Nach drei, vier Mails schickt er mit sein Bildnis, das lässt mich eher an unseren Metzger denken. Oder Holger, der reisefreudige Lehrer mit seinem papierdünnen Mund, da helfen auch keine 94 Matchingpoints weiter.
Dann ist da aber auch Dennis (93 MP), Absolvent meiner Uni und sowas von gutaussehend! Er mag Nô und Kunst und Natur. Nach einigen Mails schläft der Kontakt ein. Eine andere scheint nicht dran Schuld zu sein, denn Dennis loggt sich regelmäßig ein, das Datum des letzten Besuchs ist auf seinem Profil vermerkt. Nur leider eben nicht mehr bei mir.
Nicht zu vergessen H-P (93 MP), Hans-Peter mit vollem Namen und mit Passbild vom Fotografen aus KWH - konjugiere: Königswusterhausen. Scheitel adrett, Kopf adrett, Kopfhaltung kokett, Lächeln nett - dafür auf dem zweiten Bild ein fettes Honigkuchengrinsen vor Plastiklattenzaun mit rustikalem Türgriff, der Unterarm dortselbst cool abgelegt. Ein ungelebtes Kindergesicht blickt mir entgegen, dem helfen auch Sonnenbrille und Tolle à la James Dean nicht auf. Der vierzigjährige Steuerberater wohnt noch bei Muttern, wie er schreibt, gerade wurde der Ausbau des Erdgeschosses fertig: "Jetzt fehlst nur noch Du!"

Nein, Jamal, Bildung schützt vor Geschmacklosigkeit nicht. Die meisten Mitglieder von Matchhearts sind studiert, "hier treffen sich Akademiker" lautet der Slogan der Börse. Das stimmt nicht, hier treffen sich vor allem Anwälte, Ingenieure und Kommunalbeamte. Historiker, Filmkritiker und Künstler sind rar.

"Sophie!" brüllt Jamal durch den Hörer, als würde er gleich ertrinken. "Hör endlich mit deinen Vorurteilen auf. Du hast vergessen, was ich beruflich mache!" Ja, er hat Recht. Als Informatiker spricht er eine Sprache, die ich nicht kann, dafür reicht sein Spanisch nicht weit. Aber er hat Humor und Allgemeinbildung. "Jamal, schimpfst du nicht selbst immer auf die Informatiktrottel um dich herum, die Soziophathen, die nur noch Datenbänkisch simpeln und denen die Frauen davonlaufen? Du bist eine Ausnahmeerscheinung!"

Was suchen wir im Leben? Ein Pendant, das einen ähnlichen Umgang mit den Menschen pflegt, das einen ähnlichen Stil und ein kompatibles Nähebedürfnis hat - es muss einfach eine genügend große Schnittmenge da sein. Matchhearts spricht sogar von einer wissenschaftlichen Glücksformel: Beziehungen seien immer dann besonders glücklich, wenn beide Partner gemeinsame Wertvorstellungen, Interessen und Ziele haben. Bei mir sollte es jemand sein, der Verständnis für die unregelmäßige Arbeitszeit einer Freiberuflerin hat, denn ich arbeite als Kuratorin. Ein Mann, der seine Wünsche äußert und umsetzt, maßvoll träumt und weiß, wie kostbar Freiräume sind ... Und der bedingungslos zu mir steht, nicht von einer 10jährigen Krawallmieze terrorisiert wird und ohnmächtig die eigenen Grenzen verliert, wenn diese Erpressungsmethoden der Ex-Gattin nachahmt.

Fragen über Fragen

Laut Eigenwerbung des elektronischen Matchmakers hat sich inzwischen jedes siebente Paar im Netz gefunden. Wo bildet der Fragebogen meine Suche nach freundschaftlicher Liebe samt Ecken und Kanten ab, nach gegenseitiger Anerkennung und Respekt, Gelassenheit und Naturnähe? Über diese Punkte erfahre ich etwas unter "Selbstdarstellung". Hier dürfen Sätze ergänzt werden, die aus der Ferne an Prousts Fragebogen erinnern. Mit dem Problem, dass die meisten Männer, wenn überhaupt, nur wortkarg antworten, als stünde über den Fragen in Geheimschrift: "Scha-hatz, was denkst du gerade?"

Ergebnis: nach mehr als zwei Monaten im Netz immer noch kein Date. Vielleicht hab ich im Frust beim Psychotest falsch geantwortet? Wibke, die Freundin meines Bruders, macht ein Praktikum bei Matchhearts.de, und obwohl mein Abo noch zwei Wochen läuft, halte ich jetzt einen Gutschein über drei Monate Gratismitgliedschaft in der Hand. Ich wage es ein zweites Mal und tue so, als sei ich neu hier.

Im Vergleich zum ersten Fragebogenausfüllen bin ich viel entspannter. Mir gehen nicht laufend die Streits durch den Kopf, die mein damaliger Freund vom Zaun brach, weil er irgendwann alle gebärfähigen Weibchen in den Generalverdacht des Hausfrauentraums nahm. Nicht die Hektik des Alltags, in der wir gelebt haben, während jeder an seiner Karriere bastelte, nicht das zickig' Töchterlein, das nichts unkommentiert ließ. Den ersten Test hab ich noch in Abgrenzung zu alldem ausgefüllt; jetzt bin ich offener. Die Fragen provozieren vor meinem geistigen Auge andere Situationen, sie beziehen mein Vorleben stärker ein, auch mein Dauerflirt Jamal kommt vor sowie der große Unbekannte. Ich muss sogar ein paar Mal schmunzeln.

Dann geschieht ein Wunder - im Bereich der Matchingpoints. Was mir bisher nie gelang, hier ist es Wirklichkeit. 100 MPs verbinden mich mit einem Baden-Württemberger. Huch, was will ich denn da? Nachdem ich geprüft habe, dass dieses Schätzchen nichts für mich ist – auf die Frage nach dem Lieblingsbuch schrieb er: Lesen, was ist das? – stelle ich mein Jagdgebiet auf Ost ein und nur Ost, weder Schweiz noch Österreich oder sonstiges Ausland, obgleich ... nun, Spanien ist nicht einzeln vermerkt, also bleibe ich hart.

Die Überraschung setzt sich fort. Etliche Kandidaten bleiben übrig mit 99 und 98 Punkten, sogar in Berlin. Das hatte ich bislang nicht. Ich vergleiche die beiden Profile. In den Feldern Einfühlungsvermögen, Wachstum, Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit habe ich dieselben Ergebnisse.

Konventionell kommt an

Aber dann: Jetzt suche ich offenbar (wieder) mehr Nähe, der Indikator ist gesprungen. Und im Bereich "Autarkie und Versorgung" wies mein Profil vor zehn Wochen "eine mittelhohe Ausprägung in Richtung Autarkie" auf. Gleichzeitig attestierte mir Matchhearts damals in einem Erklärungstext, dass ich nicht so viel Geborgenheit suchen würde.
Jetzt lesen sich meine Antworten mehr wie die klassische Rollenverteilung: drei von maximal fünf Punkte in Richtung Versorgungswünsche, auch hier wieder gleichgesetzt mit dem Wunsch nach Nähe und Geborgenheit: "Sie sind sehr fürsorglich und möchten mit Ihrem Partner viel Zeit verbringen."
Ich verstehe beide Ergebnisse, das neue wie das alte. Damals musste ich mich absetzen gegenüber einem Mann, der sich mit den Jahren immer mehr zum Erbsenzähler entwickelte. Eben noch großes Herz, rechnete er am Ende einer quälend langen Scheidungszeit der Ex-Gattin jedes Glas Milch hinterher, das sie während des Kindchenausbrütens verkonsumiert hatte.

Und was hat sich geändert? Ich muss mich nicht mehr von früh bis spät als Erfolgsfrau beweisen, die ich trotz des geisteswissenschaftsfeindlichen Arbeitsmarkts bin. Und ich lege nach der Erfahrung mit dem Erbsenzähler Wert auf ein großzügiges Gegenüber, so, wie ich auch eines bin, wenn meine Auftraggeber regelmäßig zahlen. Nur leuchtet mir nicht ein, warum Matchhearts die Wünsche nach Versorgtwerden und Nähe als ein- und dasselbe einstuft. Worin widerspricht mein Nähebedürfnis meinem Autarkiestreben? In Abhängigkeit von einem Mann möchte ich auf keinen Fall geraten, das hat mir meine Mutter mit der blasslila Muttermilch der Emanzipation schon eingeflößt.

Noch ein Bereich ist anders, meine Stressverarbeitung hat sich um zwei Fünftel verbessert, ich bin damit jetzt tauglich fürs oberste Management. Mir fällt, über das neue Profil gesucht, ein Top-Geschäftsmann auf. Bestes Alter, bezeichnet sich als gutaussehend, liest das Richtige. Im Gegensatz zu mir ist er aber sehr distanziert: vier von fünf mögliche Punkten. Wie können wir mit einem derart eklatanten Missverhältnis zu 98 gemeinsamen MPs kommen? Was bei Autarkie/Versorgung als Gegensätze passend scheint, leuchtet mir hier nicht ein.

Ich suche weiter. Bei beiden Profilen steht ein Architekt oben in der Liste, mit dem ersten Profil liegen wir bei 92, mit dem zweiten bei 96 MPs. Auf der Skala "Dominanz/Unterordnung" liegt er im mittleren Bereich in Richtung Dominanz. "Dies bedeutet, dass er möglicherweise dazu neigt, sich nichts sagen zu lassen", klärt mich Matchhearts auf, dennoch könne er sich auch anpassen. Überraschend ist, dass unter "Gefühl und Kommunikation" unsere Kürvchen adrett übereinander liegen. Seit ich wieder sanfter geworden bin, scheinen wir besser zu passen.

Vergleiche ich die Partnervorschläge der beiden Personnality-Tests, bin ich irritiert. Vor allem Frauen, die viel Nähe suchen und die sich unterordnen, scheinen hier gefragt, die alten Reiz-Reaktionsschemata.

Wo bleibt Ihre Emanzipation, meine Herren? Wollt ihr immer noch in der sozialen Skala "nach unten lieben" und am besten das Weibchen dominieren? Oder bildet hier ein Fragebogen alte Rollenmuster ab?

Die nächsten Kandidaten

Jamal meldet sich mal wieder aus der Tiefe seiner Wanne. Er ist der einzige Mann, mit dem ich so über Sex so sprechen kann, dass ich was dabei lerne. Nicht, dass ich ein verruchtes Weib wäre, im Gegenteil, eher schüchtern, dafür phantasiebegabt. Und welche Frau kann sich schon mit einem Busenfreund mit Migrationshintergrund brüsten, mit dem sie über Onanie reden kann? Ich!

Mein Systemadministratorenfreund nennt sich selbst einen Spießbürger. Er hat acht Jahre Ehe mit einer Arzthelferin hinter sich, die nicht nur ihr Medizinstudium nicht fertigbekam, sondern von morgens bis abends rumgenörgelt hat, auch an ihm. Jamal ist sehr geduldig - und zog viel zu spät aus. Das war kurz nachdem sich mein Herzensmann als Schmerzensmann erwiesen hatte. Als wir nach fünf Monaten immer noch den jeweiligen Schätzchen hinterherflennen und alle um uns rum nur noch die Augen verdrehen, werden wir zur Zwei-Personen-Selbsthilfegruppe.

"Was macht der Herzensmatsch?" eröffnet Jamal sogleich das Wortgefecht. "Besser, als Du denkst!" Ich treffe mich gleich mit einem. Bernd, Anfang vierzig, Manager im Medienbereich. Sieht annehmbar aus, schreibt humorvolle Mails, das Herzchen pocht. Und ich verspreche nach erfolgter Inaugenscheinnahme einen Bericht vom Tatort.

Das Treffen verläuft gut. Bernd (98 MP) hat Esprit und Herzensbildung, hilft mir aus dem und in den Mantel, übersetzt Teile der Weinkarte. Der Abend ist kurzweilig. "Glaub ja nicht, dass du dich beim ersten Treffen verliebst, das kommt selten vor!", hatte mir Jamal noch mit auf den Weg gegeben. Und nun? Warum habe ich bei der Frage nach einem Wiedersehen gezögert? Ganz einfach: Bernd roch komisch. Vielleicht sind wir einander zu ähnlich - auf einer ganz anderen Ebene als der geistigen, nämlich der genetischen. Es heißt, dass Menschen, deren Erbinformationen sich gleichen, auch ähnlich röchen - und dass diese Nähe als unangenehm empfunden würde. Damit die Evolution voranschreitet, erleben wir Menschen, die weit von uns entfernt sind, olfaktorisch als besonders angenehm. Es war klar, auf einen Flirt an einer Bar wäre sicher kein Abendessen mit Bernd gefolgt.

Nun lässt sich das individuelle Aroma leider genausowenig als binäres Schema abbilden wie das jeweilige Beuteschema. Der Befriedigung meiner öberflächlichen Neugier dienen Fotos bei Matchhearts, die man nach einigen Mails freischaltet. Vorausgesetzt, das Objekt ist kenntlich.

Wie ein Konfirmandenfoto sieht Ulfs Bild aus (98 MP). Der Orchestermusiker ist Ende 30 und schreibt wunderbare Mails. Eine Woche lang tauschen wir uns über Musik und Kindheit aus. Er verführt mich zum Kauf seines Lieblingsbuchs. Ich verbringe einen Abend bei seinem Tee, den der Fahrradkurier bringt; dann liegt eine Konzertkarte im Briefkasten. Freitag sitze ich in der Philharmonie und weiß immer noch nicht, welches Instrument er spielt - einer von denen da unten im Graben ist ER. Dann kommt Samstag, der Tag des ersten Dates. Gegen Mittag schreibt er mir, dass er verheiratet sei - und die Ehe nach einer Krisenzeit nun doch fortgesetzt werde. Na prima, da begibt sich einer auf den Partnermarkt, flirtet an, was das Zeug hält, und beobachtet parallel, wie die werte Frau Gemahlin so reagiert.

Bruno (97 MP) zählt unter die Kategorie "Netter". Aber das war's auch schon. Wir gehen einen trinken, es ist, als würde ich einen alten Schulfreund wiedersehen. Wir quatschen den ganzen Abend, manchmal finde ich ihn eine Spur zu witzelsüchtig. (So stand unter "Bevorzugte Sportarten: Fettnapfreintreten). Als die Rechnung kommt, ist der Schnuckel pleite, egal. Zu kumpelig, kein Kerl für Tisch und Bett.

Ansgar belagert mich virtuell, irritiert mit Fröhlichkeit und täglichem Mail-Parlando zu diesem und jenem. Uns verbinden 99 Punkte, das scheint ihn ganz aus dem Häuschen zu bringen. Er liebe Berlin, sagt er, als Uni ist die TU vermerkt, er wolle bald in die Hauptstadt zurück. Jetzt wohnt der Ingenieur in der sächsisch-anhaltinischen Provinz, der Arbeit wegen. Dort hat er drei Kindelein gezeugt, sich mit dem Ehegespons zerstritten. Nach einigen Mails fragt er, ob ich mir einen Umzug nach Wohinbitteschön? vorstellen könne. Selbst Google fällt zu dem Kaff in den Bergen nicht viel ein. Dabei war von Anfang an klar, dass ich nur in Großstädten arbeiten kann. Soviel zu den (vorausgesetzten) Beschützt-und-Versorgtwerdenträumen moderner Frauen - und zur Lesefähigkeit der Männer.

Träume sind Schäume

"Wir wollen doch alle nur das eine. Endlich ankommen!", sagt Jamal und bittet um eine Pause. Ich höre, wie er unter Wasser blubbert und sich die Haare wäscht.

Ich habe in Spanien studiert. Mit der Zeit stört mich, dass ich bei Matchhearts nicht auch nach Sprachenkenntnissen suchen kann. Denn einer meiner Chefs erwägt, mit mir eine Filiale in Madrid aufzubauen, wobei wir nur monatsweise dort sein wollen. Einen Freiberufler könnte ich auch mal mitnehmen, vorausgesetzt, er spricht die Landessprache. Denn das war neben der Hektik der ein wichtiges Manko meines verflossenen Süßen: Er spricht kein Wort Spanisch. Seine Hauptsorgen galten aber meinen unregelmäßigen Einkünften. Die ansonsten entscheidungsschwache Exine, unfreiwillig Hausfrau, da buridansch zwischen Berufsalternativen verschmachtet, hatte ihm mit anwaltlicher Hilfe derart akkurat das Fell über die Ohren gezogen, dass er immer wieder sagte: "Ein zweites Scheitern kann ich mir wirtschaftlich nicht leisten!" Dann ging er; es war wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

"Wir sind anspruchsvoller als unsere Altvorderen", meldet sich Jamal zurück. "Alle reden ständig über die ideale Beziehung, das Thema ist überfrachtet. Dabei haben wir gar keine Zeit mehr für die Liebe. Früher war vieles einfacher. Jobs waren sicher, und überhaupt: die Arbeit war nicht auch noch in der Freizeit Thema Nummer eins."

Ja, Jamal, lass uns in die Zeitmaschine steigen. "Geh du voran!", sagt er, und fügt recht uncharmant hinzu: "... späte thirty something, Frauen wie du sind Kassengift in Partnerbörsen, oder? Euch ist doch der Kinderwunsch in Leuchtbuchstaben auf die Stirn geschrieben!" Ja, das Ticken des Bioweckers übertönt aus der Ferne noch den lautesten Computerlüfter. Wenn im Profil noch steht: "Keine Kinder" ist es ganz schlimm. Wohlweislich haben viele Singlebörsen die Optionen "kinderlieb" und "will später Kinder" aus dem Formular gestrichen. "Die weniger Gebildeten machen es oft besser", sagt Jamal. "Die vögeln nett, kriegen ihre Kinder und basta. Warum müssen wir Akademies denn alles so verkomplizieren?"

Je mehr wir wissen, desto mehr mögliche Probleme fallen uns eben ein. Und das Suchen wird komplizierter. IHN im Netz zu finden hab ich abgeschrieben. Bin ich ein Einzelfall? Ich frage in meiner Newsgroup nach, wir haben da eine Rubrik "Teeküche" für Privates. Anne aus Heidelberg schreibt, sie habe gute Erfahrungen mit einer Internet-Partnerbörse gemacht. "Das 'Ergebnis' meines Engagements dort hat mir grad einen Kaffee gekocht, wir sind seit zwei Jahren zusammen." Und wie lange hat's gedauert, Anne? "Es war der dritte Kontakt. Ich denke, wir haben großes Glück gehabt!"

Jetzt geh ich mich erstmal aufrüschen: Boutique, Frisör und Tralala. Dann fahr ich in den Urlaub. Mit wem? Wird nicht verraten.

(Natürlich wurde das hier handelnde dramatische Personal wie in solchen Situationen üblich verfremdet.)

Und hier noch Superman und Froschmann - schön unscharf, direkt von der Kuppelwebseite:

Mittwoch, 6. Dezember 2006

Heute!

Mittwoch, 20.Uhr, Friedelstraße 54

Stadtsoziologe Andrej Holm spricht über "Ghettochic und linke Trendsetter: Gentrification in Neukölln?"

Sonntag, 3. Dezember 2006

Pardon!

Zwei Franzosen laufen einander über den Weg. Sagt der eine: "Pardon!", sagt der andere: "Pardon!"

Was ist hier los? Zunächst müssen Sie wissen, dass wir in einem schmalen Treppenhaus sind oder an einem anderen nicht sehr geräumigen Ort. Der eine lässt den anderen vorbei und entschuldigt sich dabei für die Unbequemlichkeit, die er durch seine physische Anwesenheit unglücklicherweise dem anderen bereiten muss, dem er in die Quere gekommen ist. In Städten wie Paris, wo besonders viele Menschen auf engem Raum leben, ist das noch leichter verständlich. Hier ist jeder Moment des Alleinseins eine Ausnahme, deren Unterbrechung scheint schon mal eine Entschuldigung wert. So mutet es nur für Ausländer komisch an, dass sich alle Franzosen, auch die aus der Provinz, anstatt einander freundlich einen guten Tag zu wünschen, wie es alle gesitteten Völker dieser Erde tun, möglichst leise für ihre Gegenwart entschuldigen. Vorausgesetzt natürlich, sie kennen sich nicht.

Aber auch Franzosen entdecken in Deutschland Merkwürdiges. Zwei Deutsche laufen einander über den Weg. Sagt der eine: "Mahlzeit!", sagt der andere, "Mahlzeit!"

Was ist hier los? Zunächst müssen Sie wissen, dass der Vormittag schon fortgeschritten ist, die Uhr zeigt mindestens halb zwölf. Und wahrscheinlich ist der Tag ein Werktag, das heißt, unsere Probanden begegnen einander auf dem Flur eines Unternehmens oder auf dem Weg in Restaurant und Kantine. Die beiden Menschen sind der lebende Beweis dafür, dass in Deutschland der Tag beizeiten beginnt. Je tiefer man in Verwaltung und Fabrik hineinkommt, je tiefer wir in den Osten gelangen, desto früher beginnt der Arbeitstag. Wenn die Sonne im Zenith steht, verlangt der deutsche Magen nach kräftigem Essen. Und man wünscht sich "Gesegnete Mahlzeit!", nur dass eben das "gesegnet" mit der Zeit verloren gegangen ist.

Um nachzuspüren, wie das auf Menschen anderer Länder wirkt, genügt es, das "Mahlzeit" einfach in eine andere Sprache zu übersetzen. Stellen Sie sich mal zwei Briten vor, die einander mit ernstem Gesicht ein "Meal!" zuraunen - ist doch komisch, oder?

Montag, 27. November 2006

Die Frankfurter Küche

Gestern auf der Sonnenallee, hier hat ein teurer Küchenausstattungsladen zugemacht, ohne, dass ich es früher gemerkt hätte. Als ich jetzt hinschaue: einfach weg. Die Umgebung von Lebensmittel-, Textil- und Billighandel war wohl nicht die richtige, und Laufkundschaft gab es auch nicht. Allenfalls die Häuslesbauer aus Rudow, die mit dem Auto auf der Fahrt "in die Stadt" hier vorbeikommen.

Bauherren in Deutschland geben oft zehntausende Euro pro Küche aus. "Eine gute Küche - die Anschaffung fürs Leben", so oder so ähnlich wurden Küchen früher beworben. Dabei ist alles ganz einfach. Die praktischste Einbauchküche ist Teil der Wohnung und ihre Fronten sind weder teuer noch anspruchsvoll in der Pflege. Diese Einbau-Arbeitsküche wird dieses Jahr 80, erfunden wurde sie in Deutschland. Und das kam so:


Am Anfang war das Feuer. Im Laufe der Jahrtausende erhält es eine metallene Einfassung. Dann werden die ersten Küchenmöbel erfunden, Kästen und Schränke, ein Spülstein kommt hinzu. Für Jahrhunderte war das der Mittelpunkt der Familie: Tisch und Herd.

1926 ist Deutschland reif für die Erfindung der sogenannten Frankfurter Küche, der Mutter aller Einbauküchen. Wie für alle Erfindungen sind einige Zutaten nötig:
Vordenker, die überlegen, wie Hausarbeit einfacher geht. Vorbilder, die das Arbeitsleben neu strukturieren: Mit der Taylorisierung werden Abläufe erfasst und Fabriken entsprechend umgebaut. Vorreiter, die neue Technologien in großem Stil einführen. Vorgesetzte, die dringend Erfolge brauchen - und außerdem ein Talent: Margarete Schütte-Lihotzky. Weil sie sich selbst so nannte, nennen wir sie bei ihrem Spitznamen: Grete. Sie stammt übrigens aus Wien und ist Österreichs allererste Architektin.

Die erst 29jährige Grete plant also 1926 in Frankfurt am Main tausende von Wohnungen für den sozialen Wohnungsbau. Geld ist knapp, also soll die Kücheneinrichtung fest in der Wohnung installiert sein, praktisch und sparsam in der Herstellung. Gretes Team nimmt Maß: bei Hausfrauen, Wegen und Handgriffen - und zählt, wie oft was gebraucht wird.

Zu Hilfe kommt ihr die Einführung von Strom und Gas. Holzhacken, Feuermachen und es den ganzen Tag am Brennen zu halten ist nicht mehr nötig. Gretes Chef, Bauamtsleiter May, hat auch nichts dagegen, dass nach ihren Plänen die Küche einer wichtigen Funktion beraubt wird: dem Wohnen.

Denn trotz der Krise erhalten die unteren Schichten zum ersten Mal ein Wohnzimmer, der Esstisch wandert dorthin. Damit die Frau ihre Kinder im Blick behält, wird die Türöffnung breiter. Die Küchenmöbel, jetzt schlicht und kompakt, rücken zusammen. Sie werden so angeordnet, dass nur ein Minimum an Schritten nötig ist. Vorräte lagern in Schütten, das Licht ist immer dort, wo es gebraucht wird. Sogar ein Bügelbrett wird eingebaut. Fußleisten und eine teilweise abgesenkte Küchendecke schaffen Staub-Ecken ab, Fliesen sorgen für Hygiene. Und weil Fliegen kein Blau mögen, werden die Türen blau gestrichen.

Manche Zeitgenossen kritisieren, die Frau werde in ein Küchenlabor verbannt, wo sie in gefliestem Umfeld auf dem Gasbrenner Versuche mache. Die sind aber schnell verstummt, weil sie gemerkt haben, wie praktisch es ist, dass die Hausarbeit schneller geht, denn damals werden immer mehr Frauen erwerbstätig.

Grete baut von nun an Kindergärten und Schulhorte.

Dienstag, 21. November 2006

Der Kulturbeutel

Die deutsche Sprache sei, so heißt es, wunderbar pragmatisch und anschaulich.
Georges-Arthur Goldschmidt zitiert dazu das "Vorhängeschloss", also ein Schloss zum Vorhängen, das verstehe doch jedes Kind. Das Wort "cadenas", so heißt das Objekt in Frankreich, erklärt sich indes nicht von selbst.

Auf Deutsch gibt es mindestens einen Gegenstand, für den die Regel der Anschaulichkeit nicht gilt. Sein Name ist wunderlich. Er vereint das scheinbar Unvereinbare: KULTUR - hier denken wir an die Oper und ans Theater, an Bücher und Malerei und an besondere Gebäude von der Kirche bis zur Schule - und BEUTEL: Ein Beutel ist ein verformbares Behältnis aus Stoff zur Aufnahme von Gegenständen oder Material. Er hat eine Öffnung, durch die es gefüllt und geleert werden kann.

Der "Kulturbeutel" also. Wie passt das zusammen? Oder wie passt die Kultur in den Beutel?

Es ist eine besondere Kultur, die im Beutel verschwindet. Auf jeden Fall ist es nicht, was man auf Deutsch "Hochkultur" nennt, jene eben erwähnten Einrichtungen, die der Erbauung, Erfreuung und der moralischen Erhabenheit dienen. Das Wort "Hochkultur" legt indes nahe, dass es eine "niedere Kultur" geben würde.

Und wirklich, es gibt sie. Bücken wir uns und betrachten wir die "Frühkultur" auf dem Land, wo in "Frühbeeten" das "Frühgemüse" herangezogen wird. Heben wir den Blick und werfen wir einen Blick auf die "Unternehmenskultur", bei der eigentlich die Kultur das Unternehmen steuern soll. Jetzt steuern manche Unternehmen großherzig der Kultur einen Obolus bei in der Hoffnung, ihre Unternehmenskultur (in der Steigerung: die Unternehmens"philosophie") geriete aus dem Blickfeld der Allgemeinheit, denn leider besteht sie allzuoft darin, Arbeitskräfte "freizusetzen", was ihnen in der Regel flugs an der Börse gedankt wird. Lassen wir die Augen auf der "Küchenkultur" ausruhen mit polierten Granit-Arbeitsflächen und sündhaftteuren japanischen Sushi-Messern, das klingt immer ein wenig nach Wohnzeitschrift. Hier sehen wir gepflegte "Lebenskultur", die offenbar noch einen Schritt vor der "Lebenskunst" liegt, der "art de vivre", vielleicht aus Unsicherheit heraus, ob man letztere wirklich beherrscht.

In Deutschland, besonders aber in der ehemaligen DDR, ist auch die "Freikörperkultur" sehr beliebt. Sommerwochen am besten am Meer so zu verbringen wie Adam und Eva in freier Natur - das ist der Traum vom einfachen Leben, von der klassenlosen Gesellschaft. Hier sind wir unserem "Kulturbeutel" schon recht nahe. Es geht nämlich um Existentielles, um “Körperkultur” und Körperpflege. Den "Kulturbeutel" findet man in Regalen der Drogerien, das verformbare Behältnis aus Stoff wird mit Deo und Seife, Shampoo und Kamm gefüllt. So ist der "Kulturbeutel" die Hülle, in der die Leute ihre Kultur mit sich herumtragen, wenn sie auf Reisen gehen.

Nur komisch, dass das Gleiche auf Französisch "le nécessaire" heißt, "die Notwendigkeit": Eine ungleich pragmatischere Beschreibung der Angelegenheit.

Montag, 20. November 2006

Poesie und Wetterkarte

Die Wetterfrau bei TV5 heißt mit Vornamen Luna.

Sonntag, 19. November 2006

Die Mädchenkammer (ein Kurzfilm)

TEXT: So sieht in Paris das typische Stadthaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts aus.

BILD: Echtfoto, das über eine Kontrastverstärkung immer mehr zur Schwarz-weiß-Zeichnung mutiert, gerät in Veränderung ...

TEXT: Konzipiert vom Baron Georges-Eugène Hausmann, der auch das Musterbuch für die einheitlichen Fassaden der französischen Hauptstadt zeichnete.

BILD: Musterbuch-Alternativen, noch immer schwarz-weiß, werden von Hand mit buntem Ärmel gezeichnet, dann sieht man immer mehr vom Mann bis zum Portrait. Das den Kopf hebt und auf der Straße die Fassade hochschaut.

TEXT: Der Balkon der Beletage wird bei besonders schönen Exemplaren von Karyatiden getragen. Wesen, die nur dazu da sind, das Leben, den Alltag aufrechtzuerhalten.

Das Pendant zum männlichen Karyatid ist die "bonne à tout faire", das Mädchen für alles. Auch sie hat in der Architektur Hausmanns ihre Spur hinterlassen, jedoch ganz oben unter der Dachjuché: Die Chambre de bonne.

BILD/TON: Karyatide hält einen Balkon in die Höh. Auf den ein Dienstmädchen tritt zum Ausschütteln des Staubtuchs. Sie trägt ein weißes Schürzchen. Kamerafahrt die Fassade hoch. Reinfahrt durch Gaubenfenster.

TEXT: Die Mädchenkammer ist klein und spartanisch möbliert. Ein Ort zum Schlafen und zum Verstauen der Kleidung, oft gibt es hier nur eine penderie, eine Kleiderstange, und eine einfache Waschgelegenheit.

BILD/TON: Bett, Tisch und Stuhl. Ablagen. Penderie hinter Vorhang. Kleine Kommode mit Wasserkrug und -schüssel. Koffer hinter der Tür oder oben auf einem Brett.

Und einen Ort, um den Koffer zu verstauen.

Denn das Mädchen kam meist vom Lande, stand als "gute Seele" der Herrin des Hauses (maîtresse de maison) bei und kam nur hoch, um zu schlafen.

BILD/TON: Die Mamsell im ländlichen Kostüm und wie die Stadt sie gemach, gemach verschickifiziert. Am Ende auf der Treppe ... die endlos ist. Hier beginnt der historische Exkurs.

TEXT: Nachdem die Bediensteten eine Zeitlang in einer Kammer neben der Küche geschlafen hatten, verbannte sie der Baron unters Dach, damit die Familie unter sich sein kann.

Unterm Dach ist noch nah genug, um diese Vertreter der einfachen Klassen zu kontrollieren. Denn in eigenen Vierteln hätte man sich ja zusammenrotten und Revolution machen können. Davor hatte der Baron Angst. Deswegen ist er auch weniger für die Chambre de bonne als für die Boulevards berühmt: breite Straßen, die er auf den Fundamenten der einstigen Mauern, der Bollwerke, anlegen ließ.

BILD/TON: Die Armen aus dem Viertel rotten sich zusammen, werfen Steine, bauen Barrikaden, verschanzen sich in kleinen Gässchen hinter Wegbiegungen, kommen durch Nebensträßchen von hinten und umkreisen das Militär. Die Zeichnung wird immer kontrastreicher bis hin zur schwarz-weiß-Darstellung. Die bunte Hand von Hausmann reißt das Papier mit einem Ruck durch, reißt eine Straße ins Gassengeflecht, pflastert sie links und rechts mit Haussmann-Häusern.
Das Ganze vor dem akustischen Hintergrund der Bonne, die die Treppe hochsteigt, wovon optisch auch etwas im Bild übrigbleibt. Dann wird sie wichtiger, ihre Tür mit draufschablonierter Ziffer, geht auf, dahinter Wasserkrug, Schürze, die auf die Kommode gelegt wird.

TEXT: Auch heute noch gibt es solche Kammern. Und auch heute kommen deren Bewohner von weit her.

BILD/TON: In der Bewegung weg von der Kommodenplatte: Hinter dem Wassserkrug hängen Postkartenmotive von Paris, die immer moderner werden, am Ende sieht man "La défense". Jemand steckt einen Blumenstrauß in den Wasserkrug ...

TEXT: Eins ist neu: in ihnen findet mehr statt als nur das nächtliche Ausruhen.
Hier wohnen Studenten, die auf Prüfungen lernen, auch mal einen Topf Pasta mit Fertigsauce kochen, das ist dann Luxuscamping. Oder die auch mal Freunde zu Besuch haben, dann wird es sehr rasch sehr eng.

BILD/TON: Erst solitäres, dann gemeinsames Lernen, Platz machen fürs Kochen, Bücher auf ein Bord in luftiger Höh', Beine einziehen, Tisch an die Wand klappen, Stuhl wegklappen, Gäste sitzen auf dem Bett, dann Essen, dann Feiern: einer spielt Gitarre.

TEXT: Und auch lauter, was die Nachbarn en détail mitbekommen, die Wände sind dünn.

BILD/TON: Puppenhaus-Draufsicht: In der Mitte jene Mini-Party, drumherum dreht einer das Radio lauter, ein anderer setzt sich Ohrenschutz wie vom Bau auf, ein Dritter macht das Licht an, er schlief wohl schon, der Vierte greift zum Besenstil.

TEXT: Oder es wohnen Arbeitsmigranten hier, Männer und Frauen mit oder ohne Aufenthaltspapieren.

BILD/TON: Mann und Frau, die sich nacheinander reinschleichen, sich vorher umschauen, drinnen leise sind.

TEXT: Andere Besucher des Stockwerks wollen auch nicht bemerkt werden. Sie wohnen eigentlich unten, zumindest einer der beiden, sie kommen aber ab und zu hoch um ...
Du "cinq à sept" heißt das amouröse Stelldichein nach der Arbeit, wofür sich die Dienstbotenetage hervorragend eignet.

BILD/TON: ... die auch reinschleichen, aber gemeinsam, sich unterwegs küssen. Dann eindeutig. Und auf einem alten Nachttischchen steht ein 50er-Jahre-Wecker, auf dem die Zeit vergeht.

TEXT: Oft wohnen in den Zimmerchen aber nur die Erinnerungen der Bewohner aus den unteren Stockwerken.

BILD/TON: Pappkarton blättert sich wie von Zauberhand selbst auf, desgleichen die Fotoalben. Über allem thront die Spinne und schaut nach dem Rechten. Zuckt zusammen: laut!

TEXT: Komfort gibt es hier oben übrigens kaum. Die Sommer sind heiß, die Winter kalt, das Klo ist für alle da und Badezimmer - Fehlanzeige.
Sommer: Sonne und das typische laute Knacken der Zinkdächer!

BILD/TON: Runterschwenk auf Fenster: Winter und Wind: Elektroheizung! Toilette turque / Steh-Klo & Point d'eau dans le couloir / Handstein im Flur.

TEXT: Ein eigenes Waschbecken gilt hier oben seit guten alten Zeiten als Luxus.

BILD/TON: Rückblende: Wasserkrug und -schüssel.

TEXT: Dennoch sind die Preise gepfeffert. Für 10 Quadratmeter werden nicht selten um die 400 Euro gefordert. Nicht genug für manchen Investor. Deshalb werden die Zimmerchen jetzt auch immer öfter umgebaut - in großzügige Dachwohnungen.

BILD/TON: Baulärm, Wände bekommen Risse, Stücke brechen raus, dahinter wird eine schicke Designerwohnung sichtbar.

TEXT: Adieu, chambre de bonne!

Freitag, 17. November 2006

Und es werde Licht...


Drei Wochen Winterblues-Prävention im Selbstversuch


"Der schwarze Vorhang, der draußen über die riesige Einöde gefallen ist, hat sich auch drinnen auf unsere Seelen gelegt." Albert Cook (von der Antarktis)

1. Tag
Der goldene Herbst ist lang schon verglüht, in den Geschäften quält sich die Kundschaft an Nikolaus und Schokolebkuchen vorbei. Heute früh ist es so grau, dass ohne Deckenlampe in der Buffetschublade die Silberlöffel nicht zu finden sind. Fast kaffeeschwarz ist an einigen Stellen auch die Wolkendecke, unter der Berlin am späten Vormittag verschwindet.

Jetzt wird das Licht jeden Tag spürbar weniger. Im Winter ist es hier nur halb so lange hell wie im Sommer. Dann geht die Stadt Berlin immer kollektiv auf Polarexpedition. Scheint die Sonne zur Abwechslung doch mal, trifft sie ab Mitte Dezember mit einem Einfallwinkel von 14 Grad auf, weshalb die meisten Straßen im Schatten liegen. Wenigstens kommt die Sonne überhaupt ab und zu durch und es geht Berlin nicht wie einem Bergdorf im Tirol, das den Winter über völlig ohne sie auskommen muss, weshalb man jetzt erwägt, große Spiegel auf die Berge zu montieren, so jedenfalls die Frühstückszeitung.

Nein, dieses Jahr soll mir nicht vor Lichtmangel die Stuckdecke auf den Kopf fallen. Es muss was passieren. Eine Reise in den Süden scheidet aus, ich hab in Berlin zu tun. Selbst dann bleib ich hier, wenn Flugbenzin noch steuerfrei ist, was die Regierung sicher auch bald ändern wird.

2. Tag
Welche Möglichkeit gibt es noch, dem Winterblues zu entkommen? Jeder Zehnte hat hierzulande "SAD", was nicht nur traurig klingt, sondern dekliniert "saison-abhängige Depression" heißt.

Da fällt mir Greta ein, eine Freundin aus Schweden. Nein, SAD heißt nicht auch noch das neue Ikearegal, die Ablösung vom 60-cm-Billy. Und ich denke jetzt auch nicht an schwarz-gebrannten-Kartoffelschnaps-und-ab-zum-Winterschlaf-hinter-den-Ofen. Greta hat mir schon vor Jahren von Lampen erzählt, die Tageslicht imitieren und einen gut durch die freudlosen Wochen des Winters bringen sollen. Um nicht der ewigen Winterstarre zu verfallen, gehe ich ins Kaufhaus. In der Lampenabteilung erübrigt sich jede weitere Frage: ein heller Lichtkegel lugt keck zwischen Schreibtischlampen hervor.

Die Tageslichtlampe hat die Form einer Mattscheibe, wie ein hochkant gestellter Fernseher, aber im Format 16:9. Anders als bei einer Neonlampe tut mir ihr Licht nicht in den Augen weh. Schmerzhaft ist dafür der Blick aufs Preisschild: 129 Piepen nach einem Preisnachlass von 70 Euro. Und das Gerät hilft wirklich gegen Winterblues? Nach kurzem, heftigem Zaudern ist klar: Wer sich der Wissenschaft widmen will, darf materielle Opfer nicht scheuen.

3. Tag
Am Morgen renne ich reichlich verspätet durch dicken Nebel. Am Vormittag quälen mich Skrupel wegen des unüberlegten Lampenkaufs. Was für eine Summe, in D-Mark-Zeiten hätte ich das nie getan! Ist es überhaupt erwiesen, dass Kunstlicht hilft? Außerdem hat das Teil bestimmt die schlechteste Energie-Effizienzklasse, etwa V wie "viel"!

Und ich beschließe, durch ein Lichttagebuch Ablass zu tun.

Die Stunde der Tageslichtlampe kommt erst zur Teezeit. In der Büroküche steht ein kleiner Bistrottisch; wenn die Lampe draufsteht, ist der Tisch zu einem Drittel voll. 20 bis 40 Minuten hat Greta gesagt, am besten morgens, und man setzt sich mit 45 bis 55 cm Abstand vor die Lichtquelle. Das geht sogar ohne Schutzbrille, denn die UV-Strahlen werden rausgefiltert. Ich schmeiße das Dingen an - und das Radio fängt an zu knistern. Nein, die Leuchte ist irgendwie doch entstört, denn etwas Feinjustierung später jubilieren die Engel hell und klar etwas vom Licht der Vernunft. Bin ich jetzt im Himmel oder auf Erden? Vermutlich downtown Berlin, denn diese Verbindung erscheint mir zu logisch für andre Gefilde. Und hier gilt besonders: Dunkle Zeiten waren immer auch dumme Zeiten.

Zweite Beobachtung nach dem Erstkontakt im Kaufhaus: Die Lampe leuchtet flimmerfrei und hell. Sehr hell. Direkt reinschauen ist nicht gerade angenehm. Und vor allem langweilig. Indirekt genüge auch, so Greta. Also lese ich. Und vergesse die Lampe. Immerhin strahlt sie so hell, dass ich jetzt 10.000 Lux abbekomme, was verglichen mit einem wintertrüben Tag - der bietet bei einem langen Spaziergang 1.000 Lux - eine ganze Menge ist. Aber immer noch deutlich weniger als echtes Sommersonnenlicht: An einem langen Sommertag kann der menschliche Körper bis zu 100.000 Lux "einfangen".

Als ich 30 Minuten später wieder auf normale Zimmerbeleuchtung umschalte, kommt die mir allerdings wie Kerzenlicht vor. Kein Wunder, die 60-Watt-Birne bringt gerade mal 40 Lux ... Nach kurzer Zeit sind im Auge die "Stäbchen", die Rezeptoren für die Dunkelheit, wieder aktiv. Bis dahin sieht die Küche so grau aus, als wäre sie voller Nebel.

4.Tag
Heute muss ich früh am Morgen für den Job aufs Flugzeug. In Berlin wabert das kalte Grau durch die Straßen, die Wolken hängen auf der Höhe des zweikommafünften Stockwerks. Die Straße ist menschenleer, ein Sonntag ohne Sonne. Auf dem Weg zur Bushaltestelle scheint mir, als mische sich in den Nebel Rauch, und wirklich, da brennt ein Dachstuhl. Hätte ich nicht gerade besonders aufmerksam die grauen Wolken betrachtet, wegen örtlich wirksamer Windströmungen wäre mir der Brand nicht am Geruch aufgefallen, denn der Wind zog den Rauch in die Höhe. Ich rufe die Feuerwehr an, und als ich mit dem Bus um die Ecke fahre, höre ich schon das Martinshorn.

Tapfer arbeitet sich eine Stunde später das Flugzeug die Wolkenstraße hinauf. Wir fahren über keinen historisierend-kleinteiligen Straßenbelag, nicht über mittelalterliches Katzenkopfpflaster, das fühlt sich an wie DDR-Asphalt in Reinform, immer mal wieder eine Adolf-Platte, dazwischen Dehnfugen aus Bitumen made in Leuna: rissig, löchrig, genauso wie die Adiplatte. Mir ist flau im Bauch.
Von einer Sekunde auf die andre ist das alles vergessen: LICHT! Ein riesiger Horizont, der von oben weiß strahlt, als wäre er indirekt beleuchtet, breitet sich im strahlendhellen Himmel aus.

Ach, Sonne!

6. Tag
An der Universität Oslo, so steht es heute in der Zeitung, wurden Hamster mit Winterblues beobachtet: Sie sind ängstlich, depressiv, hocken still am Käfigrand, statt neue Territorien zu erkunden. Allerdings sind sie auch appetitlos. Das soll bei Menschen anders sein. So jedenfalls mein Hausarzt Hans, den ich anrufe: "Winterblues führt beim Menschen zu vermehrtem Appetit nach Süßem und Kohlehydraten. Die Lichttherapie kann das genauso bremsen wie Schläfrigkeit und Lethargie, andere Symptome von SAD. Von wirklich schwerer Winterdepression sind nur 1-2 % der Bevölkerung betroffen, die leichte Form haben, und die Statistik stammt aus den USA, fast 20 % der Bevölkerung mindestens einmal erlebt. Je größer die Entfernung vom Äquator, desto mehr Menschen leiden an Winterdepression."

Nun frage ich nach den skandinavischen Lampen. Darauf Hans: "Die Lichttherapie ist noch relativ jung, weil die chronobiologischen Zusammenhänge erst in den 80er Jahren bekannt wurden. Das über die Augen aufgenommene Licht wird von speziellen Rezeptoren eingefangen und die Information über die Sehbahnen in das Gehirn weitergeleitet, von wo aus Nervensystem und Stoffwechsel gesteuert werden. Licht und das Schlafhormon Melatonin wirken entgegengesetzt: Im Winter wird durch Lichtmangel mehr von dem Hormon ausgeschüttet, die Lampe wirkt dem entgegen."
Bei den Olsoer Hamstern war übrigens aufgefallen, dass deutlich mehr weibliche Tiere unter dem Lichtmangel litten als männliche. Na denn.

7.-9. Tag
Derzeit bin ich keine gute Probandin im Selbsttest, was an der vielen Arbeit liegt und daran, dass es immer wieder stundenlang sonnig ist. Als Freiberuflerin kann ich theoretisch Pausen machen, wann ich will. Dieser Tage folge ich regelmäßiger als sonst dem Licht. Heute scheint die Sonne zum ersten Schnee des Winters. Der leuchtet so klar und rein wie sonst nur die Wolken hinterm Bullauge des Flugzeugs.
Seit ich die Lampe habe, reagiere ich auf Licht viel aufmerksamer. Die echten hellen Stunden genieße ich bewusster als früher. Und manchmal schaue ich vom Arbeitszimmer in den klaren Nordhimmel, als wär's der Schirm der Lampe, setze die Brille ab für ungefilterten Lichteinfall und träume.

10. Tag
Im Zoo, am Abend. Im Aquarium ist noch viel los. Bei den Korallenfischen herrscht Schummerlicht, obwohl es draußen schon dunkel ist, ein Zoomitarbeiter erklärt, warum: "Der plötzliche Lichtwechsel würde doch die Tiere erschrecken!" Greta ist aus Stockhom da, als Biologin weiß sie, dass seit Ende der 20er Jahre die Wirkung von Licht auf Pflanze und Tier bekannt sind. Der Banker John Ash Ott hatte damals in Chicago Filmaufnahmen von Pflanzen gemacht, ihr Wachstum dokumentiert und den Zeitraffer populär gemacht. Wie vieles gerieten die damalige Erkenntnis, dass, was bei der Pflanze offenbar wirkt, auch beim Menschen nicht wirkungungslos bleibt, durch Krieg und Kalter Krieg in Vergessenheit. Inzwischen habe die Industrie das Phänomen für sich entdeckt. Schichtarbeiter hätten bei Nachteinsätzen mit einer "Tageslicht-Lampendecke" eine wesentlich geringere Fehler- und Unfallquote, erzählt mir Greta.

11. Tag
Als ich aufwache, ist um mich herum alles dunkel. Mit kleinen Schritten taste ich mich vorwärts - und stolpere über Anmachholz. Ich höre, wie Steine aufeinander geschlagen werden. Funken fliegen, ein Reisigspan flammt auf. Wenig später brennt das Feuer in der Höhle. Wir sind zu viert. In der Ecke liegen Heuhaufen, darauf Felle. Alle nähern sich langsam dem Feuer. Da erkenne ich Hans, den Arzt. Er fängt auch gleich an zu erklären: "Im Winter ist das Nahrungsangebot knapp, die feindliche Außenwelt bietet wenig. Deshalb laufen die Stoffwechselfunktionen auf Sparflamme, und das Melatonin hilft dabei. Das Schlafhormon wirkt beruhigend und hemmt die Libido. In Laborversuchen wurde gezeigt, dass Menschen ohne jedes Tageslicht in einen 25-Stunden-Rhythmus reinkommen, das ist der natürliche menschliche Rhythmus. Unsere Anpassung an die 24 Stunden geschieht allein über das Licht..."
Jetzt wache ich wirklich auf, diesmal von meinem eigenen Gelächter.

14. Tag
Immer wieder reißen mich lange Arbeitstage auswärts aus der Testphase. Und ich fange an zu zweifeln, ob die Lampe etwas bewirkt oder ob es an meinem Lebenswandel liegt, dass ich nichts spüre.
Stattdessen geschieht heute Morgen ein Wetterwunder, die Sonne kitzelt mich aus dem Bett! "Aufstehen, du Schlafmütze, es ist Tag!" - wie im Bilderbuch. Aber wie immer in Berlin kommen am Ende des Vormittags, gegen elf, die dicken Wolken.
Genau davor hatte mich, als ich noch woanders studierte, ein Dozent aus Berlin gewarnt, die vorherrschende Winterfarbe hier sei grau: "Morgens grau, mittags hellgrau, nachmittags dunkelgrau." Ohne nachtschwarzen Kaffee lief jahrelang nichts.

Zu Abend esse ich heute im Schein der Tageslichtlampe. Mich nervt, dass ich nach den Stunden, die ich am Rechner verbracht und in den Monitor geguckt habe, nun schon wieder in ein Viereck schaue. Auch ist das Teil wirklich zu hell, auf jeden Fall für mich mit meinen stark kurzsichtigen Augen. Also lese ich Zeitung, die Lichtfläche nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, so ist sie gut zu ertragen.

15. Tag
Etwas hat mich zum nachtaktiven Hamster werden lassen, ich konnte gestern Abend gar nicht mehr aufhören zu arbeiten. Schlief erst in den frühen Morgenstunden ein, verbrachte den halben Vormittag im Bett. Könnte es sein, dass das Licht vom Vorabend daran schuld ist? Ab jetzt werde ich mit der Lampe frühstücken, wie Greta es geraten hatte.

Jetzt schneit es in Berlin, im Vergleich zum Münsterland aber nur leicht. Dort hatte Tief Torsten vor drei Tagen sämtliche Schneemassen mehrerer Wochen auf einmal runterschüttet, die für hunderte von Quadratkilometern gedacht waren, und viele Strommasten knickten unter der Last. Eine Region ohne Strom. Zubettgehen mit der Sonne, Aufstehen mit den Hühnern, kein Wunder, dass die Menschen früher im Winter nur halb so viel gearbeitet haben wie in der hellen Jahreszeit.
Heute halten wir uns im Schein von Schreibtischlampen bei 100 bis 500 Lux künstlich wach und haben den Bezug zum Rhythmus der Natur verloren. Und die durchschnittliche Schlafensdauer seit Erfindung der Glühbirne sank von 10 auf weniger als sieben Stunden. Kein Wunder, dass die innere Uhr ständig verstellt ist.

16. und 17. Tag
Am Wochenende fahre ich zu Freunden. Ein großer Nachteil der Lampe wird deutlich: sie ist zu groß fürs Handgepäck.

18. Tag
Der Schnee ist geschmolzen, dafür leuchtet der Winterhimmel wieder. In der hellsten Stunde des Tages gehe ich auf den Markt. Wintersonne ist kostbar, so lehne ich mich auf dem Weg an einen Baum und schließe die Augen. Ich fühle mich wie eine Pflanze, meine Gesichtshaut betreibt "Photosynthese". Schön wär's - aber der menschliche Körper braucht Licht genauso wie die Pflanze, denn es kurbelt die Vitamin D-Produktion an, und Vitamin D, so Hausarzt Hans, ist wichtig für Immunsystem und stabile Knochen.

So muss ich an ein Foto denken, das ich als Kind in einer Zeitschrift gesehen habe. Moskau, der rote Platz, die Moskoviten genießen die ersten Sonnenstrahlen des Jahres, lauter Fellmützen und rosig schimmernde Wangen, die ins Licht gehalten werden. Das mit dem Vitamin D kann die Tageslichtlampe nicht, denn das bewirken allein die UV-Strahlen. Natürliches Licht regt auch die Produktion von Endorphinen an. Wie schön, dass ich morgen darauf nicht verzichten muss, denn diese körpereigenen "Glückshormone" entstehen auch dank der Tageslichtlampe.

19. Tag
Heute habe ich im Internet einen Dämmerungssimulator als Wecker entdeckt. Er ist kugelrund und imitiert den Sonnenaufgang: erst schummerlichtet er wie ein Sonnenaufgang, dann wird er immer heller, damit das Licht einen nach einer halben Stunde ganz natürlich zum Aufstehen motiviert. Und noch was hab ich im Internet entdeckt: Die Webcam von Europas nördlichster Fischfabrik. An der Außenmauer angebracht, bietet sie nicht nur den Überblick über an- und abreisende Arbeiter, Werksdirektoren und Touristen, sondern auch über die Landschaft, die "Vindstyrke" wird auch angezeigt. Und vor allem das Licht. Manchmal schaue ich jetzt morgens nach, ob es im Norden um zehn Uhr schon hell ist, sehe mir Sonnenaufgänge zu einer Tageszeiten an, wo sich schon der Mittagessenshunger regt - und wenn ich mich nach langer (französischer) Mittagspause wieder an den Tisch setze, hol ich mir ein neues Kamerabild und sehe: Nacht. So gemein es ist, irgendwie tut es mir gut zu sehen, dass andre mit noch weniger Licht auskommen müssen.

21. Tag
Die Lampe kommt mir jetzt nicht mehr zu hell vor, vielleicht hab ich einfach den für mich richtigen Lichteinfallwinkel von 30 - 45 Grad entdeckt, als fiele Licht durch ein echtes Fenster. Mein zweites Frühstück überstrahlt jetzt immer die Elektrosonne, in die ich auch immer wieder kurz reinschaue, was wichtig sei, so Greta. Ich freue mich immer auf das Highlight des Tages. Auch Jetlags hilft das Licht zu kurieren! Für mich ist dieses Dingen die zweitwichtigste Erfindung in Sachen Kunstlicht, seit Thomas Alva Edison 1879 der Welt die Glühbirne schenkte.
Gerade gibt sich die wetterliche Trübsal wieder alle Mühe, uns am Nachmittag schon die Nacht zu bescheren. Aber das kratzt mich nicht. In einem stummen Zwiegespräch sag' ich zum Himmel: "Da kannst du dich anstrengen, wie du willst, du tust ja nur so, als ob die Welt gleich unterginge. Da oben ist es ganz hell, das weiß ich genau, ich hab's heute schon gesehen!"

Résumé: Ich bin zwar ärmer geworden durch den Lampenkauf, dafür ist meine Küche um ein Bullauge mit unverbaubarem Himmelsblick reicher. Ich habe einen Großbrand verhindert und achte viel mehr auf die hellen Stunden als zuvor, bin sogar zur Sonnenanbeterin geworden. Ich trinke kaum noch Kaffee - und bleibe ohne Winterblues in Berlin. Und bald ist es jeden Tag schon wieder etwas länger hell.

Der Blick in die nördliche Nacht z.B. hier: http://www.northcapeonline.com/ oder http://nordkapp.tv/index.php?id=196096/ oder http://www.webcamsinnorway.com/webcams.php
Mehr Licht, sagte der alte Geheimrat Goethe: Gibt's heutzutage im Fachhandel und in jedem gut sortierten Kaufhaus.

Montag, 13. November 2006

Weihnachten in der Feuerpause

Das vierte "Rendez-vous du cinéma"

Es war wie ein Familienfest zu Jahresende: Die meisten sehen sich gerne und feiern miteinander, aber dann ist da auch der Cousin, der einen beim Erbe (vielleicht) übers Ohr gehauen hat. Das vierte deutsch-französische Filmgespräch brachte am Wochenende knapp 300 Filmleute aus beiden Ländern in einem Münchener Kino zusammen.

Die "Rendez-vous" sind Ergebnis der von Jacques Chirac und Gerhard Schröder 2000 ins Leben gerufenen "deutsch-französischen Filmakademie". Die offiziellen Filmbeziehungen stehen jetzt also im schwierigen siebenten Jahr. Nach Krise sieht es nicht aus, im Gegenteil. Waren zuvor die Filmkulturen des jeweiligen Nachbarn nur noch wenigen bekannt, vor allem das deutsche Kino in Frankreich, sind deutliche Aufwärtstrends zu beobachten, nicht nur seitens der Kritik. Ein Grund war der Erfolgsfilm des Jahres 2002, "Good bye Lenin" von Wolfgang Becker. Er lockte als untertitelter Film mehr als anderthalb Millionen Franzosen ins Kino und setzte damit der unglücklichen Situation ein Ende, dass dort deutsche Filme wie "Lola rennt" oder "Anatomie" ohne Nennung des Herkunftslandes beworben worden waren, wenn sie nicht gleich in der englischen Sychronfassung, französisch untertitelt, ins Kino kamen. Jetzt spricht in Frankreich die Kritik von einer "nouvelle vague allemande", und auch wenn die Zuschauerzahlen bislang noch eher bescheiden sind, kommen vor allem endlich wieder mehr deutsche Filme ins Kino.

Zur Änderung trug sicher auch der 2001 aufgelegte und mit drei Millionen Euro pro Jahr ausgestattete deutsch-französische Filmfördertopf bei, das "Mini-Traité". Davon profitierten seither 36 Filme, von denen, so kritisierten die einen, fast drei Viertel auf französische Initiative zurückgingen. Und von denen wiederum, so befanden andere, etliche nicht ins Kino kamen. Man solle, so forderte am Abschlusstag denn auch Regisseurin Helma Sanders-Brahms, den "Mini-Traité" endlich zum "Maxi" und damit groß werden lassen.

Das jüngste Beispiel erfolgreicher Zusammenarbeit ist sicher "Das Parfum" vom Tom Tyckwer, der, so herrschte hinter vorgehaltener Hand Einigkeit, die Förderung nicht gebraucht hätte. Eine andere Großproduktion, kleiner im Budget, aber just vor einem Jahr sehr präsent in den Medien, war "Merry Christmas" von Christian Carion, zu dem beim Filmtreffen vor einem Jahr in Köln das Marketingkonzept vorgestellt worden war. Der französische Verleih hatte bei dieser Fußnote des Ersten Weltkriegs, einer Weihnachtsverbrüderung über Schützengräben hinweg, auf die historische Einzigartigkeit des Moments gesetzt. Die Deutschen, vielleicht aus der Angst heraus, dass man in hierzulande in den letzten Jahrzehnten ohnehin schon genug von Kriegen gesprochen hat, hoben mitwirkende Stars wie Daniel Brühl und die Diane Krüger hervor. Die Hauptwirkungsstätte Krügers, ein Produktionsstandort im englischsprachigen Raum, schien denn auch den "deutschen" Verleihtitel zu inspirieren. Gemessen an den Erwartungen floppte der Film selbst in Frankreich, wo ihn knapp 2 Millionen Kinobesucher sahen, in Deutschland nur 250 Tausend. (Zum Vergleich: "Die Kinder des Monsieur Mathieu" hatte mehr als sieben Millionen Kinozuschauer in Frankreich bzw. hierzulande mehr als eine Million.)

Die Auswertung dieser Ergebnisse fand nur im kleinen Kreis statt. Ansonsten gab es große Runden, knapp dreihundert Gäste, viel Programm: erst Diskussionen, dann Hochkultur, zwischendurch Esskultur, so lassen sich trefflich neue Projekte vorantreiben. Die bei einem "Pitching" öffentlich vorgestellt wurden - in jeweils drei Minuten präsentierten Produzenten oder Regisseur ihre Stoffe auf der Suche nach Koproduzent, Verleih oder Sender. Hier fiel der Trend zum Autorenfilm auf, zum kleinen bis mittelgroßen Projekt, dessen Story am besten auch noch eine deutsch-französische oder sogar trilaterale Koproduktion anbietet. Geschichten von Flucht und Vertreibung, über Liebe und Altwerden sowie historische Stoffe. Wobei der Entwicklung der Filmhandlung eine gewisse Zufälligkeit anhaftet - "wir drehen entweder in Baden-Württemberg oder in Norddeutschland" - je nachdem, welche regionale Einrichtung das Projekt fördert.

Da scheint wichtiger zu wissen, mit wem man zusammenarbeiten will, zu wem man Vertrauen hat. Die Filmförder- und Finanzierungssysteme beider Länder unterscheiden sich stark voneinander, selbst wenn sich die Deutschen in den letzten Jahrzehnten wiederholt von den französischen Förderinstrumenten anregen ließen und das zentralistische Frankreich seit der Jahrhundertwende auch mit Blick auf Deutschland ihre regionalen Filmförderungen stärken. Die Systeme sind derart verschieden, dass auch im siebenten Jahr intensivierter Gespräche von deutscher Seite nicht selten mit Verwunderung kommentiert wird, dass französische Produzenten offiziell gar kein eigenes Geld in Projekte investieren müssen, während sie doch auf dem Papier zu einem Drittel ihr eigenes Kapital einsetzen. Dahingegen mutmaßen viele Franzosen noch immer, die angebliche Unterfinanzierung der deutschen Filmproduktionen existiere nur in der Außendarstellung, denn von so wenig Geld, wie da übrigbleibe, könne man ja nicht leben.

Das "Mini-Traité", das von der Branche angeregt worden war, könnte nun eine Novellierung erfahren. Die im Vergleich zu anderen politischen Einrichtungen kleine, unverschlissene und einmütige Szene regte nun an, Projekte auch schon in der Drehbuchphase bilateral zu unterstützen - und auch den Verleih von Koproduziertem. Die Problemanalyse mündete gleich in Vorschläge. Einmütigkeit sei überlebenswichtig, kommentierten viele Produzenten beider Länder. Angesichts der Stärke des amerikanischen Kinos wirke jede Erfolgsmeldung zum europäischen Kino wie das Bejubeln einer Feuerpause.

Frankreich setzt auf Zusammenarbeit. Letztes Jahr wurde dort die noch nie dagewesene Zahl von 240 Filmen hergestellt, fast jeder zweite in Koproduktion. In Deutschland ist das nur jeder dritte der 146 produzierten Filme. Auch, wenn das jeweilige Publikum derzeit Filme aus dem eigenen Land mag, die Angst vor der kalifornischen Studioregion, die in München übrigens selten beim Namen genannt wurde, besteht weiter. Der Blick geht dabei über Frankreich und Deutschland hinaus. "In Zeiten, wo Flugzeugbauer nicht mehr weiterwissen, legen wir mit unseren Geschichten die wirklichen Grundlagen Europas" resümierte Regisseur Jean-Jacques Beineix die Lage - und alle klatschten Beifall.

Sonntag, 29. Oktober 2006

Brot und Reiterspiele

Frankreich gilt als Land von Wein und Käse, Deutschland als Land der vielen Bier- und Brotsorten. Indes: Wenn nicht Masse zählt, sondern Symbolik, dann ist Frankreich das größere Brotland. Nicht nur, dass die Franzosen zu jeder Mahlzeit davon essen, auf le pain wurde die Republik erbaut! Da ist zunächst der französisch-österreichischen Königin Marie-Antoinette unerträglicher Satz angesichts dräuender Untertanen: "S'ils n'ont pas de pain, qu'ils mangent de la brioche." Dass die brotlosen Massen stattdessen Brioche essen sollen, wird heute als böse Nachrede Rousseau nachgeschrieben, aber seit dieser genial erfunden Logline vom Vorabend der Revolution war Brot in Frankreich immer ein sensibles Thema. Noch lange fürchteten dessen Gewählte den Volkszorn, daher wurde der Brotpreis dort bis in die späten 80er Jahre von der Regierung festgelegt. Und noch heute legt das Dekret Nr. 93-1074 fest, wie "Brot französischer Tradition" herzustellen sei. Das Reinheitsgebot des Brotes begrenzt zum Beispiel die Verwendung von Sojamehr im Teig, aus dem sich sicher auch "pain à l'ancienne" backen ließe, ein mit gemahlenen Weizenkeimen und allenfalls mikroskopisch nachweisbaren Schrotspuren auf rustikal gemachtes Brot, das, goldbraun durchgebacken, mit Mehl bestreut wird.

Oder die "baguette", dieser angeblich in Paris erfundene Vorwand eines Brotes zur Erzeugung von möglichst viel Kruste, daher auch nur die geringe Dicke von durchschnittlich fünf Zentimeter. Die Kruste wiederum ist sowohl der Vorteil des Backerzeugnisses als auch sein Nachteil: Es wird rasch weich. Und für dieses weichgewordene, ein Meter lange Weißmehletwas haben die Franzosen Worte, die Deutsche in dieser Genauigkeit für ihre Dauerbackwaren gar nicht kennen. Wegen raschen Alterns wird in französischen Bäckereien auch mehrfach am Tag gebacken. Und weil man die Qualität des (noch frischen) Brotes daran prüft, ob das weiche Innere, wenn man es knetet, in seine Ausgangsform zurückstrebt, gibt es auch hier ein Wort für die Knetmasse, la mie, für das die deutsche Sprache mit "Brotkrume" keine echte Entsprechung kennt.

Während in sehr volksnahen Kneipen der deutschen Hauptstadt "ein Meter Bier" konsumiert werden kann, das ja bekanntlich auch 'flüssiges Brot' genannt wird, haben sich die Berliner gestern bei einer historischen Rekonstruktion um das Andenken Napoleons verdient gemacht. Es ging um die Frage, warum das französische Meterbrot ausgerechnet diese Form hat. Napoleons Mannen und seine Reiter zogen nach 200 Jahren erneut durch das Brandenburger Tor, auch um zu prüfen, ob das Baguette wirklich einstmals in diese Form gebracht wurde, um in die Hosentasche der Soldaten zu passen. Aus gut informierten Kreisen wissen wir jetzt: Das kann nicht die Erklärung sein. Die Hosentaschen der zeitgenössischen Uniformen sind zu klein und marschieren lässt sich mit dem Stock in der Hose auch nicht.

Die Dame der Quadriga hoch oben auf dem Tore, schon lange von ihrer damaligen Besuchsreise nach Paris zurückgekehrt, wird sich gewundert haben. Und sie wird ihren Rössern die Anekdote erzählt haben, wie das westfälische Schwarzbrot zu seinem Namen gekommen sein soll. Napoleon, der auf dem Feldzuge des schwarzen, weil extrem langsam ausgebackenen Brotes angesichts ward, soll befunden haben, dieses sei allerhöchstens gut für sein Ross mit Namen Nickel. Und aus "bon pour Nickel" soll "Pumpernickel" geworden sein. Schluss mit der Schwarzweißmalerei in Sachen Brot!

P.S.: Den Gedanken hab ich hier nirgendwo reingekriegt: les "copains", die Kumpel, sind auf Französisch natürlich jene, mit denen wir das Brot teilen. Und ein berühmter copain, Georges Brassens - les copains d'abord - starb genau heute vor 25 Jahren.

Sonne und Regen

Heute kurz nach drei klingelt es an der Tür. Zwei entzückende junge Damen stehen davor, beide eher klein gewachsen mit dunklen Locken. Die ganz kleine, sie ist vielleicht fünf Jahre alt, hält mir eine Sonnenblume entgegen. Die Große, ihre Mama, sagt: "Wir sind ja hier eingezogen und wollen uns kurz vorstellen!"

Leider kann ich nicht viel fragen, weil meine Stimme nach Zarah Leander klingt und der Hals sich so anfühlt, als sei ich der kleine Drachen Feuerschnief. Das werde ich auf jeden Fall nachholen.

Gefreut habe ich mich sehr, besonders an diesem ersten verregneten Oktobersonntag des Jahres. Die Sonnenblume ging auf. Tusch! Und Regenbogen!

Freitag, 27. Oktober 2006

Konkurrenz ...

... belebt das Geschäft. Hier entsteht was neu: http://www.neukoelln.tv/

Auf der Seite ist noch fast nichts, aber die Ankündigung klingt verheißungsvoll:

Gästebuch
Eintrag vom 21.10.2006, 21:34:40, Autor: Michael
"Endlich jemand, der mal zeigen möchte, dass Neukölln auch andere Seiten hat, als die in der Presse überwiegend Dargstellte. Neukölln hat mehr zu bieten. Zeigt es denen......"

Mein Weblog bekommt demnächst Fotos, vielleicht auch mal Bewegtbild. Später.

Und eine VORANKÜNDIGUNG
4.11.2006, ab 19.00 Uhr:
"Nacht und Nebel - Mit dem Chauffeur durch die Neuköllner Kunstszene"
www.nacht-und-nebel.info

Eine Kunstaktion im Kiez

Montag, 23. Oktober 2006

Neuköllner Ökonomie: Vera

Eigentlich hatte ich nur eine Schneiderin fürs Engmachen eines Jacketts gesucht, das schon immer zu weit ist. Dabei fand ich Vera.

Sie ist Modedesignerin, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt. Ihren Laden betreibt sie mit einer anderen Frau zusammen in Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg. Normalerweise ändert sie nicht, hier änderte sie meinen Blick auf Kleinstbetriebe.

Inmitten wunderschöner Modelle (manches lässt mich an Westwood denken, anderes an Jil Sander), die Vera alle selbst entworfen hat, sagt sie:

"Der Laden ist zu klein und zugleich zu groß. Zu groß, weil so viel Verwaltung zu tun ist. Zu klein, weil er nicht genug abwirft und ich mir keine bessere Lage leisten kann. Meine Partnerin strickt, ich nähe. Wir verkaufen nur eigene Modelle, hochwertige Boutique-Sachen. Nur fehlt uns hier die Kundschaft. Der Kanal zur einen und der Kottbusser Damm zur anderen Seite wirken wie Grenzen, die zu überqueren für viele nicht selbstverständlich ist."

"Die Kreuzberger und Neuköllner Kids, die hier zufällig reinkommen, wissen gar nicht, was das bedeutet, echte Wolle oder Kashmere. Sie wundern sich über den Preis, 300 Euro für einen Design-Mantel, und können Qualität nicht mehr erkennen. Wie denn auch, in ihren Plastikklamotten wissen sie nur, was Marken sind, dass die Klamotten aber aus China stammen und nicht viel taugen, ist ihnen neu, denn der nächste Modetrend sorgt dafür, dass die Sachen bald wieder abgelegt werden. Auch da geht ins Geld. Ein Mädchen hat mir erzählt, dass sie vor der Schule im Supermarkt hilft, um sich Kleidung zu kaufen, statt ausreichend zu schlafen, um in der Schule wach zu sein."

"Ab und zu kommt Kundschaft aus Zehlendorf oder Dahlem her. Die wissen genau, was ich verkaufe. Da gelte ich als Geheimtipp. Die sagen kaum was, fragen auch nichts. Aber sie kaufen. Ich sehe ihnen an, dass sie sich ins Fäustchen lachen über die 200, 300 Euro, die sie im Vergleich zu dem, was vergleichbare Ware in der Stadt kostet, gespart haben."

"Ich sitze hier fest, immer mit der Angst vor der Steuerprüfung im Nacken. Und vor der Frage: 'Wovon leben Sie eigentlich?' Manchmal weiß ich das selbst nicht. Ich arbeite meist 12 Stunden, manchmal habe ich keine Zeit für ein richtiges Mittagessen; und Licht im Schaufenster kann ich mir nicht leisten. Geht einfach nicht. Aber es gibt eh keine Laufkundschaft, die ich anlocken könnte, wie gesagt, die Gegend ist arm."

"Den Wandel im Kiez merke ich auch, es sind mehr junge Leute hier, Maler und Designer, Fotografen und Kunsthandwerker. Aber die haben ja auch kein Geld. Wie soll die Wirtschaft funktionieren, wenn lauter Leute, die vor allem eins haben, Ideen, sich gegenseitig was verkaufen sollen?"

"Das größte Desaster wäre, wenn das Finanzamt sagen würde, dass meine Arbeit nur ein Hobby sei. Das passiert dann, wenn ich längerfristig nicht genug Gewinn einfahre. Nicht nur, dass ich jetzt schon so arm lebe wie als Studentin, ich könnte den Laden dann ganz dichtmachen. Wenn das Amt eine Arbeitslose mehr haben will, brauchen die's nur zu sagen."

"In drei, vier Jahren wird der Kiez hier hip sein. Das Gute wird sein: Dann zieht Kaufkraft in den Kiez. Das Schlechte: Die Mieten steigen. Dann können Leute wie ich ihn uns nicht mehr leisten, es sei denn, die Verträge sind gut und laufen lang, aber neue Kreative werden's schwer haben. Wer's nicht schafft, muss weiterziehen, in einen neuen Kiez, der unten ist, und das Spiel geht von vorne los."

Sonntag, 22. Oktober 2006

Die Macht der Cineasten

In Deutschland leben mehr Cineasten als in Frankreich! Wetten?

Die Verwirrung hat ihren Ursprung in einem Übersetzungsfehler. Während in Frankreich nur die an der Filmherstellung künstlerisch Beteiligten Cinéasten genannt werden (mit Accent aigu), sind in Deutschland alle Filmliebhaber Cineasten (ohne Accent). Also Menschen, die Filme nicht nur konsumieren, sondern die kenntnisreich zu schätzen wissen, was auf der Leinwand geschieht. Sie lesen Filmzeitschriften und gehen auf Festivals. So findet man selbst zu Berlinalezeiten in Neukölln mehr Cineasten deutscher Herkunft als frankophone Filmschaffende in ganz Berlin.

Ein echter Cineast lebt im, durch und für das Kino. Die Generation um François Truffaut, Jean-Luc Godard und Agnès Varda lernte einander in der Cinémathèque Française kennen, zunächst waren sie nur Kritiker. Hier gab man sich auch als Tipp weiter, wer als Kameramann gut mit der neuen Technik umgehen könne. So wurde aus Raoul Coutard der "Fotograf" der Nouvelle Vague. Und aus den Filmliebhabern wurden Filmschaffende, aus Cineasten wurden Cinéastes.

Die Online-Enzyklopädie "Wikipedia" schreibt: "Cineasten tragen nicht selten einen wesentlichen Anteil dazu bei, dass aus manchen Filmen letztendlich Kultfilme werden." Das kann auch in Berlin passieren, und das liegt am ganz normalen Publikum. Denn in Cannes können interessierte Verleiher die Filme nur inmitten von Fachpublikum sehen, und das reagiert anders.
Cineasten verändern auch nachhaltig die Alltagssprache. In Frankreich vielleicht mehr als in Deutschland. Das geht schon mit dem Begriff "le septième art" los. Auf der anderen Seite des Rheins bezeichnet man als die siebente (der schönen) Künste die Filmkunst. Etliche Repliken sind Gemeingut geworden, und völlig unvermittelt können erwachsene Menschen heute ins Blödeln verfallen: "Bizarre, vous avez dit bizarre?" fragt der eine, lakonisch kommentiert vom andren: "Comme c'est bizarre!" Der Satz stammt aus der Kinderzeit des Tonfilms; Louis Jouvet sprach ihn in einem Film des vor zehn Jahren verstorbenen Marcel Carné ...

Eines haben die Liebhaber des Lichtspiels damals jedoch nicht verhindern können. In der dunklen (tausendjährigen) Epoche wurde selbst aus der Frage, wer denn das Kino erfunden habe, zum Zankapfel der damaligen "Erbfeinde". Hier standen die Berliner Gebrüder Skladanowsky mit ihrem Bioscop, das in einem Variété-Theater vor ziemlich genau 111 Jahren zum ersten Mal bewegte Filmbilder auf der Leinwand vorstellte; dort die frères Lumière mit ihrem Cinématographe und der Vorführung im luxuriösen Grand Café am Boulevard des Capucines im gleichen Jahr. Für die Nazis reimte sich das so: hüben die Arbeitersöhne, die kaum Geld hatten für Plakate, drüben die Industriellensprösslinge, die sich rund um die Uhr der Bewerbung ihrer Entwicklung widmen konnten.
Nimmt man die Ideologie weg, stimmt die Sache im Kern. Doch das Thema ist größer: Le cinéma war im fortschrittsbegeisterten Frankreich von Anfang an in Frankreich ein "salonfähiges" Medium, während sich hierzulande, wo mangels intellektuellem Zentrum vieles langsamer ging, sich die bewegten Bilder erst aus der leicht schmuddeligen Atmosphäre der Jahrmärkte und Variétés befreien mussten.

Was das jetzt mit dem Bedeutungswandel des Wortes "Cineast" zu tun hat? Vielleicht glauben in Deutschland viele, dass Filmliebe in direkter Linie aus Frankreich stammt?
Vive le Cinéma ! Atmosphère ! (Arletty)

(Wieder nichts über NK) Notizen einer Dolmetscherin

Gerade bereite ich ein Filmfestival in Süddeutschland mit vor, und zwar die meiste Zeit von Neukölln aus. Meine Gebrauchstexte schreibe ich in dieser Phase für das dortige Publikum ... Heute berichte ich aus dem Alltag eines meiner gelernten Berufe.

Es passiert auf jedem Festival mindestens ein Mal. Der ausländische Gast hat gesprochen, ich habe Notizen gemacht. Dann entsteht eine kurze Pause, ich sammle mich und lege los. Und merke es erst nach ein, zwei Sätzen: ich hab Französisch gesprochen! Das Publikum lacht, ich mit, und es geht wieder los. Diesmal auf Deutsch.

Seit dem Studium dolmetsche ich für Filmleute und auf Festivals. "Wie machst du das nur?" ist eine oft gehörte Frage. Die ich mir selbst nicht mehr stelle. Wenn ich aus dem Französischen ins Französische statt ins Deutsche übersetze, hat mich eine oftmals winzige Kleinigkeit abgelenkt. Das kann eine anspringende Lüftung sein, oder jemand, den ich kenne, verlässt das Kino. Oder ich habe eine Äußerung von Cinéast oder aus dem Publikum unterschwellig als Kritik aufgefasst. Ich bin verdammt verletzlich da vorne, auch mit jahrelanger Routine noch.

Wer dolmetschen will, muss zunächst die Sprachen sehr gut beherrschen. Und einen großen Wortschatz haben. Was ich (noch) nicht weiß, weil mir ein Thema neu sein mag, wird angelernt, Internet sei Dank gibt es heute keine Beschaffungsprobleme mehr. Manchen Gast kann ich mir im Netz bei France Culture vorab sogar anhören, mich auf Akzent und Sprechgeschwindigkeit einstellen. Das beruhigt ganz ungemein, denn alles, was ich als Vorbereitung mache, folgt dem Plan der Selbstberuhigung.

Denn im Grunde gibt es nichts Unnatürlicheres und Peinlicheres, als da vorne zu stehen und etwas zu sagen, das bereits gesagt worden ist. Ich habe Jahre gebraucht, um meinen inzwischen geliebten Nebenjob als konkrete Dienstleistung zu interpretieren. Ich muss die Fragezeichen in den Augen meiner Kundschaft sehen, sonst bin ich nicht gut. Das ist auch der Grund, weshalb ich mehr Publikumsgespräche dolmetsche als simultan in der Kabine: Die Nähe.

Daneben gilt es die sprachliche Hemmschwelle zu überwinden. Wie viele Zweisprachige habe ich die Sprachen als ein jeweils eigenständiges System gelernt, in dem sich Erklärungen und Vergleiche immer nur auf Begriffe aus der jeweiligen Sprache bezogen. Beim Dolmetschen geht es aber nicht um Synonym oder Gegensatz, sondern um die möglichst exakte Entsprechung in der anderen Sprache. Als ich 1989 zu dolmetschen begonnen habe, war mir, als müsste ich die Vokabeln beider Sprachen noch einmal lernen. Nein, nicht beide Sprachen: Die Verbindungen zwischen ihnen.

Diese Verbindungen waren in meinem Bewusstsein untergründig schon da, aber eben nicht aktiviert, nicht bewusst. Den zweiten Sprachstrom als etwas Alltägliches zu erfahren und wie auf einem Videoband zwischen "Spur 1" und "Spur 2" hin- und herzuspringen, das ist im Grunde der ganze Aufwand. Und natürlich das permanente Suchen und Notieren von Vokabeln. Manches wird in der einen Sprache nicht substantivisch, sondern als komplizierte verbale Konstruktion ausgedrückt. Oder aber es gibt diesen oder jenen Begriff in der anderen Sprache nicht - also muss ich übertragen, kurz den Kontext anreißen. Aber nur kurz, sonst bremst diese Geste und das Publikum hat zu Recht den Eindruck, Sachen zu hören, die gar nicht gesagt worden sind.

Dolmetschen ist also immer ein Abwägen. Wie gehe ich damit um, wenn ein Sprecher sich x-fach wiederholt? Was mache ich mit den fünf Adjektiven, die er oder sie so schnell runterrattert, dass ich nur drei davon behalten habe? Ich kürze geringfügig, fasse zusammen. Und wenn ich gar nicht mehr mitkomme, darf ich nachfragen. Denn auch das Jonglieren von Mikro, Stift und Stenoblock raubt Aufmerksamkeit. Ich schreibe übrigens keine Steno, sondern zeichne in eigenen Kürzeln die wichtigsten Begriffe auf. Wobei ich Sie, geneigtes Publikum, manchmal auch kurz warten lasse: Wenn der ausländische Gast fertig gesprochen hat, notiere ich oft noch den letzten Gedanken. Denn auf die Pointe will ich nicht verzichten.

Und hier ist sie: Was ist der Unterschied zwischen Dolmetschen und Übersetzen? Sie werden das nie wieder verwechseln: Übersetzer übertragen Texte, sie schreiben also. Wenn Übersetzen Handwerk ist, ist Dolmetschen Mundwerk.

Samstag, 21. Oktober 2006

Der Apparat

Der vor 50 Jahren gestorbene Bert Brecht forderte, der Rundfunk solle als Kommunikations-, nicht nur als Distributionsapparat genutzt werden. Das war in den 30er Jahren.

Mehr als siebzig Jahre Lärm später - erst kamen die Bomben, dann die Dauerbeschallung - ist Brechts Traum wahr geworden. Fast. Das Netz funkt zurück, in den Sendeanstalten geht die Angst vor der Entmachtung um. Zu Recht.

Nicht nur via Netz und Quote, auch sonst ist der User/Leser/Zuschauer plötzlich wichtiger geworden. Indes, die neue Zeit findet zunächst überwiegend in den Printmedien statt. Was wir als Zwischenstadien erleben, ist zugegebenermaßen manchmal etwas unappetitlich, ich denke an die BILD-Leserreporter, die Promis im Urlaub auflauern, auf dass deren Glanz auf sie abfärbe.

Aber selbst Journalisten wie Johan Hufnagel, stellvertretender Chefredakteur der französischen Libération, die einst wie die taz als Kollektiv anfing, Hufnagel also schwört schon seit 1995 auf sein "Forum", das Lesern mehr Raum als andere Zeitungen für Meinungsäußerung anbietet.
Inzwischen veröffentlicht Hufnagel auch Fotos, die Leser von diversen Ereignissen geschossen haben. Und verteidigt dies so: "Wir bringen sonst nur Bilder aus Paris, denn in der Provinz haben wir kaum Korrespondenten. Und es stimmt einfach nicht, über einen nationalen Aktionstag mit Demos nur die Ausschreitungen abzubilden und nicht das, was die meisten Menschen erlebt haben: fröhliche, farbenprächtige Demos mit witzigen Slogans zum Beispiel."

Das Phänomen wird "Bürgerjournalismus“ genannt, die Medien reflektieren dessen Ausmaße bislang eher mit einem abwertenden Unterton (siehe Tagesspiegel vom 13.9.06). Anders 'lese' ich diese Tatsache: Nicht nur Privatpersonen, auch Zeitungen haben ihren WebLog. In Deutschland, erzählen sich Medienwissenschaftler, werde die WebLog-Parallelausgabe des Trierischen Volksfreund häufiger angeklickt als die Zeitung selbst. Hintergrund: Die Redakteure stellen auch ihre Cutouts hier ein, kommentierten mit Meinung, und genau das werde gesucht: Meinung, nicht formatierte Info, die oft einer nicht kenntlichen Verlegermeinung folge. Soweit die Medienwissenschaftler.

Das Output des geneigten Publikums wird auch vom Hörfunk aufgenommen. Samstags sendet Inforadio (rbb) die Sendung "Druck und Blog", ein fester Programmplatz, in dem in der "Presseschau" zur Weltpolitik aus WebLogs ztitiert wird. Hier kommen zur besten Haushaltssendezeit (13.45 Uhr) aber auch Fachleute zu Wort, die über die Veränderung der Medien durchs Zurückfunken nachdenken: Die Deutungshoheit der Wirklichkeit sei das erste, was die Medien einbüßten, habe ich gerade noch gehört, als ich zufällig auf die Sendung gestoßen bin.

Die "Bürgerjournalisten" genannten Laien werden immer mehr Output liefern. Wie können die etablierten Medien kontern? Auf den gestern zuende gegangenen Münchener Medientagen, die eine Kollegin besucht hat, sei das Credo gewesen: Die Journalisten müssen noch mehr arbeiten. Man ging unhinterfragt davon aus, dass Journalisten die bessere Qualität abliefern würden. Die freien Journalisten im Saal kommentierten das indes so: "Wir arbeiten längst mehr, da ist keine Luft mehr drin. Wir brauchen nach einem Jahrzehnt reeller Honorareinbußen endlich wieder eine bessere Bezahlung." (Danke, Annette.)

Es scheint die alte Frage nach Henne und Ei zu sein. Wer hat das Geld, wer zahlt für Qualität (oder doch nur für Masse) und wo fließt es hin?

Kommenden Montag wird Libération möglicherweise nicht ausgeliefert. Die Druckereien blockieren, denn sie haben seit dem Sommer kein Geld gesehen. Die Zeitungskrise ist ein anderer Aspekt unseres veränderten Umgangs mit Informationen. Und sie bedroht zu allererst die Kleinen. Fortsetzung folgt.


@ Marwan: Vielleicht solltest du die taz doch nicht abbestellen, schreib lieber der Redaktion, was dich nervt.

Freitag, 20. Oktober 2006

3 x 5 (Kleine Übung, um Wartezeit rumzukriegen)

Fünf Dinge, die ich gerade nicht habe, aber gerne hätte:
- Mehr Ruhe, Entspanntheit und Besinnung für mich und meine Lieben
- Zur beruflichen Anerkennung IMMER das entsprechende Honorar (manchmal klappt's schon)
- Eine, vielleicht sogar zwei weitere Sprachen
- Die Fähigkeit, zaubern zu können (damit Listen wie diese hinfällig werden)
- Ein tolles (eigenes) Haus in bester Lage, renovierter Altbau

Fünf Dinge, die ich habe, aber lieber nicht hätte:
- Sorgen um unser Bildungssystem
- Meinen Wohnsitz in einer Gegend mit acht Monaten Schmuddelwetter (oder fast)
- Schmutzige Fensterscheiben zum Hof
- Mehr Einfälle als Zeit, diese auszuarbeiten
- Lärmende Nachbarn

Fünf Dinge, die ich nicht habe und auch nicht haben möchte:
- Die Gesichtsfalten von Angela Merkel
- Einen präpotenten pickeligen Teenager im Haus (aber kann sich keiner aussuchen)
- Einen Sprachfehler
- Eine Schrankwand
- ?

Donnerstag, 19. Oktober 2006

Verbindungsgebrüll

Als Textfrau hänge ich von meiner Leitung zur Außenwelt und der Qualität der Quellen und Gesprächspartner ab. Letztere kann ich (durch Recherchen) beeinflussen, ersteres nicht. Seit Wochen rauscht es in der Leitung, meist nur bei mir. Ob die Nagetiere, die seit der Fassadenenovierung hinter der Verkleidung sitzen, daran Schuld sind?

Manchmal führt das Grundrauschen zu ganz merkwürdigen Verzerrungen. Wie mit dieser Mail geschehen, die ich vor kurzem bekam:

"DRINGEND!

Es erscheint, dass Ihr Konto von einem nicht bevollmächtigten Dritten zugegriffen wurde. (...) Zusätzlich kann die Email-Adresse Ihretwegen herumhantiert worden sein. (...) Wenn Ihr Konto in jener nicht bevollmächtigten Tätigkeit, wie Schlagseite habende Einzelheiten oder stellende Gebote verwendet wurde, ist diese Tätigkeit ohne Vorfall gestrichen worden. Irgendwelche eng verbundenen Gebühren wurden Ihrem Konto kreditiert. Wir versichern Sie, dass Ihre Kreditkarte-Information auf einem sicheren Server versorgt wird und von niemandem angesehen werden kann.

Um Kontrolle Ihres Kontos wiederzugewinnen, klicken Sie bitte auf das Verbindungsgebrüll."

Mittwoch, 18. Oktober 2006

(aus dem Notizbuch) Küsschen!

Eigentlich ist das Ganze ziemlich komisch: Die Köpfe der Beteiligten kommen sich näher, dann weichen sie, um nicht mit den Nasenspitzen aneinanderzustoßen, ein wenig zur Seite aus und nähern sich von dort der Wange des Gegenübers, die kurz und zart touchiert wird. Nach einem (leisen!) Kuss in die Luft wird das Procedere mit der anderen Backe wiederholt. Wenn beide zu lange zögern oder die Koordinierung nicht stimmt, stoßen die Nasen aneinander. Spätestens jetzt sind ein paar Worte über das Wie und Warum des Zeremoniells « la bise » fällig.

Kuss. Schon die Urchristen sollen den Kuss als Begrüßung gekannt haben, daraus wurde dann der heilige Kuss, aber das ist eine andere Geschichte.
Klar ist, Küssen verbindet, das Gefühl kurzzeitiger körperliche Nähe auch. Dabei nehmen die Küssenden die Witterung auf. Erschnuppern den Reinlichkeitsgrad des anderen, aber auch die Qualität von Parfum oder After Shave. Und Rezeptoren in der Nase prüfen kurz, ob die Gene des Gegenübers im Fall der Fälle zum eigenen Erbgut passen würden. Die Natur will stets alles neu mischen, nur unterschiedliche DNAs werden als angenehm empfunden. Ist das nicht so, können wir "den anderen nicht riechen", im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir klären ab, ob die Luft rein. Ist mein Gegenüber entspannt oder gestresst, führt er oder sie etwas im Schilde?
Das zu wissen war für die frühen Christen überlebensnotwendig.

Küsser. Im Frankreich Ludwigs des Vierzehnten, nachdem dieser 1685 den Toleranzedikt von Nantes widerrufen hatte, galt die Anzahl der Küsse insgeheim als Erkennungszeichen der Hugenotten. (Sie küssten sich drei Mal, im Gegensatz zu den zwei Küssen der Katholiken.)
Heute entscheidet nicht die Religion, sondern die Region darüber, wie oft geküsst wird: a) in Paris, im Elsass und in Toulouse sind es zwei Küsse; b) unter Pariser Studenten und im Languedoc wird dreimal geküsst); c) im Westen Frankreichs und in etlichen Pariser Vororten oft sogar vier. Das erklärt sich wie folgt: a) In grenznahen Gegenden (terrestrische Grenze) verliert sich der Gebrauch (im Elsass ist man schon auf halbem Weg nach Hohenzollern); b) bei Pariser Studenten ist der Flirtfaktor groß, ergo braucht die Erspürung des originären Aromas mehr Zeit; c) im Westen und Südwesten gibt es viele Urlaubsregionen, also wird auch intensiver geflirtet; und in der Banlieue muss man sich seiner Gruppenzugehörigkeit stets aufs Neue versichern - und der harmlosen Absichten des Gegenübers.
1685 wanderten viele Hugenotten aus, auch nach Preußen, den Kuss haben sie einst leider nicht mitgebracht.

Küssestens. Jetzt ist « la bise » auch immer öfter in Deutschland zu beobachten. Was die Frage, mit welcher Wange es losgeht, wichtiger werden lässt. Feste Regeln dafür gibt es nicht, das entscheidet meist der dominante Part der Begegnung. Die meisten fangen auf der linken Seite an und machen dafür die Vorherrschaft der Rechtshänder in unseren Kulturen verantwortlich. Auch wichtig: Nicht jeder küsst jeden. Man muss einander schon einmal vorgestellt worden und sympathisch sein - oder aber man ist verwandt. Frauen küssen sich öfter untereinander als Männer. Den Chef/die Chefin küsst man nicht, es sei denn, die Firma ist klein oder das Geschäftsfeld besonders hip. Im Ausland führt « la bise » interkulturell ungeübte Franzosen unter Umständen auf rutschiges diplomatisches Parkett. Man stelle sich einen Politiker oder Ökonom vor, der es wagen würde, the Queen zu küssen oder sonst irgendwie zu berühren - oder Mister President oder den Parteivorsitzenden von China! Absolutely shocking!
Witzig dagegen die Variante, die aus einer Irritation entsteht: In Deutschland lebende Franzosen oder französisch sozialisierte Deutsche zögern manchmal zwischen Pfötchengeben und der « bise ». Dann wird eben doppelgegrüßt: Die Hände schütteln sich, während der Kopf:
Cous-cous!,
Caroline

P.S.: Geschriebene Küsse sind Gespensterküsse. Franz Kafka

Montag, 16. Oktober 2006

Kleine Gäste zum Tee die Zweite

Gegen Mittag komme ich von der Post, ein Paket abholen, das angeblich Freitag Vormittag nicht zugestellt werden konnte - obwohl ich da war, aber das ist eine andere Geschichte.

Auf der Straße, direkt am Hauseingang, lungert wieder eine kleine Nachbarin rum, Sevim, aus dem Nachbarhaus, und ihre Freundin. Sie gehen in die fünfte Klasse. "Heute sind zwei Stunden ausgefallen, und ich hab den Schlüssel vergessen. Meine Mutter kommt erst kurz nach zwei." Die Mädchen sehen trotz des sonnigen Wetters durchgefroren aus. Sie hatten sich zum Schulaufgaben machen auf den Gehweg gehockt.

Und schon hab ich wieder zwei Besuchskinder. Wir essen Marmeladenbrote, dazu gibt es Minz-Lakritztee. Dann machen die beiden am Esstisch im Wohnzimmer Hausaufgaben. Zwischendurch sehen sie sich Wohn-, Arbeitszimmer und Flur an. Im Flur bestaunen sie meine Bücherregale, es sind etliche Meter.

Sevim: "Können sich hier alle Bücher ausleihen?"
Ich verstehe nicht ganz: "Wie meinst Du das?"
Sevim: "Na, Du hast doch eben gesagt, dass es eine Bücherei ist!"
Ich denke nach, versuche, im Geiste zurückzuspulen, was ich gesagt habe. Aber klar, ich habe von "der Bibliothek" als der Gesamtheit meiner Bücher gesprochen. Ich erkläre mich. Sevim nickt.

Etwas später fragt sie: "Hast Du die alle gelesen?"
- "Nein", muss ich ehrlicherweise gestehen. "Aber ich weiß, was drinsteht."
- "Wie geht denn das?"
Und nach einer kurzen Nachdenkpause: "Kannst Du hellsehen?"


P.S.: Jede Woche fallen an deutschen Schulen eine Million Unterrichtsstunden aus. Quelle: ZDF

Sonntag, 15. Oktober 2006

(Paris) Die Bannmeile brennt

Vor bald einem Jahr begannen in Paris die Revolten in den Vorstädten: Jeden Tag brachten die Nachrichten Bilder von brennenden Autos und Supermärkten, Berichte über Straßenschlachten und Tote. Die "Banlieue" (wörtlich übersetzt: "Bannmeile") wird wohnblocksweise fast ausnahmslos von Migranten bewohnt. Und ihre arbeitslosen, unterbezahlten, schlecht oder oft gar nicht ausgebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen forderten den Staat zu einer Art Bürgerkrieg heraus.

Vor sechs Jahren habe ich für Arte in Mantes-la-Jolie gedreht, einem jener Vororte, in dem es vor 12 Monaten heiß herging. 2000 hatten wir dort drei junge Muslima portraitiert, die damals gerade ihr Abitur gemacht haben. Sie wollten studieren, und zwar gesellschaftlich relevante Fächer wie Wirtschaft und Jura.

Frühsommer 2005 schrieb ich Arte. Wir wollten mit der Kamera nachsehen gehen, was aus den jungen Damen und ihren Hoffnungen auf die Zukunft geworden ist. Mitte Oktober 2005 dann die Antwort: " ... leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir an Ihrem Angebot nicht interesiert sind. Für Arte sind die Pariser Vororte in der nächsten Zeit kein Programmschwerpunkt. Zum Thema "Migration" haben wir außerdem schon einige Filme für 2006 programmiert."

Wenige Tage später, am 27. Oktober 2005, brachen in den französischen Vorstädten die heftigsten Jugendkrawalle seit Jahrzehnten aus. Drei Wochen lang schauten die Medien auf die franösische Banilieue. Und heute?

Zwei türkische Freunde aus "Westberlin"

Sonntag am Hafen. Im Westen, eine kleine Spazierroute von der Stadtschreiberwohnung entfernt, liegt der Urbanhafen. Hier wurden einst Lastenkähne gelöscht, die Waren und Baumaterial nach Berlin reinbrachten. Jeder zweite Stein, aus dem Berlin erbaut wurde, kam über dem Wasserweg in die Stadt.

Heute sind dort, wo einst das Hafenbecken war, eine Wiese, ein Weg und ein Restaurantschiff mit Terrasse. Hier sitze ich am frühen Sonntagabend mit Zahra, einer deutsch-türkischen Psychologin aus Wedding. Sie erzählt mir von ihrer Kindheit in Westberlin. Im Schatten der Mauer schien auch für sie vieles einfacher. Wichtigster Unterschied zum heutigen Aufwachsen in den sogenannten Problemkiezen sei sicher gewesen, so Zahra, dass es in den siebziger Jahren schlicht noch nicht so viele Kinder von Migranten gab.

"Und die Stimmung war allgemein optimistisch", sagt Zahra. "Etliche aus meiner Grundschulklasse sind mit mir zusammen aufs Gymnasium gekommen, das war nichts besonderes. Auch in den 80ern noch nicht, das war Ergebnis der Bildungsoffensive und der Chancengleichheit der Siebziger. Irgendwie schien immer klar, dass es der nachwachsenenden Generation besser gehen würde, als der vorhergehenden. Diese positive wirtschaftliche Erwartungshaltung teilten alle."

"Die Schulwahl habe ich nicht als kompliziert erlebt. Und so gingen eben jene, die später mal die Bäckerei der Eltern übernehmen sollten, in die Hauptschule, andere kamen auf die Realschule, die Lehrstelle und der Job im Anschluss waren kein Problem. Wir anderen lernten weiter in der Schule, wir hatten die Wahl. Und ich hatte im Gymnasium auch türkische Mitschülerinnen, die mit Kopftuch zum Unterricht kamen. Das war vor dem 11. September kein Politikum. Es war kein Statement, sondern nur Tradition der Familie, und natürlich haben sie es zum Sport, bei dem wir ja unter Mädchen waren, abgelegt, das war nie ein Problem."

"Soweit ich das sehe, demotiviert heute die Jugendlichen vor allem die Perspektivlosigkeit, die sie sehen und über die fast alle Medien berichten. Sie haben das Gefühl, dass die Anstrengungen nicht lohnen, wenn am Ende doch eine Hartz IV-Situation steht, denn was sie bei ihren Eltern sehen, prägt natürlich auch sie..."

"Ich bin sicher nicht repräsentativ, aber auch keine Ausnahme. Mein Vater kam zum Studium aus der Türkei nach Berlin. Und von uns vier Geschwistern haben drei studiert. Was mich derzeit am meisten nervt, ist, dass die Medien seit 2001 vor allem auf das Problematische bei islamischen Menschen focussieren, die journalistische Sprache ist ganz offensichtlich viel drastischer geworden."

Und ich erzähle ihr von meinem "alten Journalistenkollegen" Yasin, der gar nicht so alt war, als wir uns vor über 10 Jahren bei einem ARD-Sender kennengelernt haben, auch er stammte aus Westberlin. Der studierte Historiker war einige Jahre jünger als ich. Und er war verdammt gut und ebenso charmant, dieser Sohn eines Deutschlehrers und Gewerkschaftlers aus Istanbul. Ich habe ihn im Sender immer wieder ins Gespräch gebracht, ihm Tips gegeben, ihn ermutigt. Wenn die Auftragslage mau war, hat Yasin nachts in Bars die kompliziertesten Drinks gemixt. Seine Bewegungen waren so elegant wie die eines Balletttänzers, sein sportlicher Körper zog die Blicke auf sich. Den Rest machte er mit seinem Lächeln, alle schienen ein wenig in ihn verliebt, Männlein wie Weiblein. Yasin kam seltener in den Sender. Ich beriet ihn noch ein wenig, als er ein Drehbuch schrieb. Dann schlug die Welle des Erfolgs über ihm zu.

Heute managed er mit großem Erfolg mehrere Berliner Restaurants: ein Verlust für unsere Medien. Aber er entsprach offenbar mehr den Vorurteilen, die man einem jungen deutsch-türkischen Gastwirt gegenüber hat als dem Image des multikulturellen Journalisten.

Als wir nach Neukölln gezogen sind, sagte Yasin übrigens entsetzt: "Was, ihr zieht zu den Kanaken?" Er lebt in Tempelhof, der Schule seines Sohnes wegen, den er zusammen mit seiner deutschen Freundin aufzieht.

Berlin ist zur Hälfte aus Steinen erbaut, die aus der Ferne herbeigeschafft worden sind. Und die heutige Stadt bauen auch jeden Tag Menschen weiter, deren Vorfahren aus der Ferne kamen.

Samstag, 14. Oktober 2006

Herbstanfang

Mittwoch fuhr ich im Auto von Süddeutschland nach Berlin. Hinter Halle hing der Nebel in der Landschaft wie ein riesiges Tuch über die enorm großen Acker der einstigen LPGs gespannt. Wir dachten zunächst an die alten Tage, an Leuna und Buna, das Chemiedreieck, in dem es manchmal Schwefel regnete. Aber es war nichts als harmloses Wasser, nichts als harmlose Wolken, durch die wir fuhren. Alles war grau und kalt. Wir waren froh, als wir wieder draußen waren. Am Abend ließ uns das Berliner Licht fast noch an Spätsommer glauben.

Das Grau war Freitag hinterhergekommen, dabei war die Luft noch mild. Seit heute ist auch die Kälte da. Selbst in der Mittagsstunde stehen beim Ausatmen kurz kleine Wölkchen vor dem Mund.

Aber der Herbst hatte schon am Hiroshimatag begonnen: Jedes Jahr um den 6. August fliegen die Mauersegler in den Süden. Im August wird der Sommer still. Die Vögel hören auf zu balzen und widmen sich dem Nachwuchs.

Nur heute, da ist es noch einmal laut. In der Trauerweide an der Ohlauer Brücke, dort, wo noch vor wenigen Tagen der Eiswagen von Carsten gestanden hat, sitzen Vögel im Baum. Viele Vögel. Der Baum ist plötzlich dunkel von ihrem Gefieder. Und sie machen Rabatz, großen Rabatz. Er klingt fröhlich, der Vogelbaum, wie eine Art Klassentreffen. Und gleich geht es auch hier ab in den Süden.

Wenig später ruft M. an. Er ist aus Rom zurück und erzählt von 25 Grad. "Kein Wunder, dass die Römer nicht an so kalten Gefilden wie den unseren interessiert waren." Es wird Zeit, dass wir uns mal wieder treffen, damit er mir eine Arie vorsingen kann. Und wo hatte ich nochmal die Tageslichtlampe aus Skandinavien verstaut?

Freitag, 13. Oktober 2006

Neue Berliner Ökonomie (Theorie)

Wie leben wir heute, wie wollen wir morgen leben? Ich komme viel rum und weiß: Alltag und Lebensgefühl sind an den verschiedenen Orten Europas zum Teil extrem unterschiedlich. Entsprechend ausdifferenziert auch die Wünsche: die einen wollen (endlich/wieder/für immer) mehr bekommen, die anderen nichts (oder nicht mehr) verlieren.

Das Land verbindet augenscheinlich eins: Angst vor der Zukunft. Da verwendet ein Ökonom in einem Zeitungskommentar den Begriff "Gefahrentarife" und summiert auf, welche Festkosten sich bei eventueller Entlassung durch (bald inkrafttretende) Gesetze ergeben. Wenn bei Einstellung neuer Kräfte die einzige Sorge zu sein scheint, wie man sie 'kostenneutral' wieder los wird, wenn also im Moment des Aufbruchs das mögliche Scheitern als Bild alles andere überstrahlt, stimmt was nicht im Staate Dänemark. (Was mir immer dann besonders auffällt, wenn ich im Ausland nur gutes Feed-back zu Deutschland bekomme, das weiterhin das Image eines starken Exportlands hat - was der mit gutem Wetter, guter Laune und gutem Fußball verbrachte Sommermonat weiterhin verbessert hat.)

Im Lande selbst wird viel gejammert. Berliner Eltern klagen über die Schulen und sehen dort schon Ein-Euro-Kräfte zur nachmittäglichen Beaufsichtigung einrücken (Furcht? Realität?), wo doch die Nachmittagsunterricht neue Lehrangebote und bessere Bildungschancen bringen sollte. Aber wenn der Staat qualifizierte Kräfte nicht angemessen zu honorieren vermag ... (siehe: "Frauen auf dem Spielplatz").

In Tübingen war letzte Woche das Hauptgespräch in der Schlange beim Biobäcker, dass "der Daimler" sein Kultursponsering abgeschafft hat und auch Fabrikarbeiter entlassen wird. In Stuttgart hörte ich in der Straßenbahn, wie eine Tochter ihren Eltern von einem neuen Arbeitsvertrag erzählte. Mir schien, die Altvorderen hörten gar nicht richtig zu: "Hauptsache, Du hast dann bald was Festes!", sagten diese. Und sie fingen an über den Osten zu hetzen, der uns alle so viel gekostet hätte, dass jetzt alles bergab ginge. "Die DDR hat uns mit der Krise angesteckt!"

So klar, so offen, habe ich das in "Westdeutschland" (wie eigentlich nur noch 'alte Westberliner' sagen) noch nicht gehört.

Zurück nach Neukölln. Hier ist die Krise schon weiter, berufserfahrene und studierte Köpfe denken über die Folgen nach. Wir sind im "Kieztreff" in der Nachbarschaft. Ein Ladengeschäft wurde mit einfachen Mitteln zu einem kleinen Restaurant umgebaut, das jetzt ein Verein (1) dank EU-Förderung betreibt. Hier wird werktäglich zum Selbstkostenpreis ein ausgewogenes Mittagessen angeboten, hier essen neben Rentnern und Arbeitslosen viele Studenten, Maler, Ein-Euro-Jobber, Betreiber kleiner Geschäfte, Handwerker, Übersetzer, freie Journalisten. Etliche von ihnen sind Teil der "Neuen Berliner Ökonomie", der Klein- und Kleinstbetriebe, der Parallelwirtschaft ohne Geld, des "Dritten Sektors" von Stiftungen, Sozialwerken und Vereinen.

Die Stimmung in der "Kantine", wie viele den Ort nennen, ist offen und freundlich, man kommt schnell über den Tisch hinweg ins Gespräch. Hier einige Stichpunkte eines etwas anderen 'deutschen Stammtischgesprächs'.
Da sagt Andy (2) , Architekt und (nach eigener Pleite) jetzt Ich-AGler im Handwerksbereich: "Das ganze Problem ist der Zinseszins. Dadurch wachsen die Schulden auch ohne weitere Verschuldung weiter. Wir werden bald auch in der westlichen Welt ein Zinsmoratorium brauchen, wie es für manche Dritteweltländer schon gilt. Oder gleich einen Schuldenerlass, denn immer größere Kreise der Bevölkerung stecken in der Zinsfalle, aus der sie nicht mehr rauskommen. Und das Geld fließt in großen Mengen immer schneller an die Spitze." (In den nächsten Tagen wird Andy mir das detailliert vorrechnen, ich freu' mich drauf.)

Thomas arbeitet in einem Kiez- und Internetcafé, das auch ein Ergebnis des Quartiersmanagements ist: "Wir beobachten hier, wie eine geldlose Parallelwirtschaft entsteht. Die Leute wissen sich zu helfen, viele sind gut ausgebildet, der Naturalientausch blüht auch in Sachen Dienstleistungen. Manche nennen das Schwarzarbeit, aber wenn kein Geld da ist, dafür Zeit und Können, müsste das eigentlich Selbsthilfe heißen. Und es gibt auch immer mehr kostenlose Angebote. Zum Beispiel unser Internetcafé. Rechner sind genug gekauft worden, die Flat ist nicht teuer, die Miete gering. Das Know-how haben wir selbst. Also werden hier Infos getauscht, Mails gecheckt, Pläne gemacht. Wir etablieren uns im Schatten der großen Geldwelt mit kleinen Summen. Gesamtwirtschaftlich gesprochen: Hier fallen immer mehr Leute als Konsumenten aus. Das geht für uns als Zwischenlösung, in Berlin kann man noch recht gut und ohne sozial isoliert zu sein mit wenig Geld auskommen. Die große Frage ist aber: Was will die Industrie machen ohne Käufer?" Auch Thomas werde ich bald mal länger sprechen.

Werner promoviert im Kiez. Er komme fast täglich in die Kantine, sagt, er, denn er wohnt im Nebenhaus. Als Ökonom, der an mehreren Hochschulen studiert hat, weiß er: "An deutschen Unis lehren fast nur noch Liberalisierungsbefürworter. Der Name Keynes kommt nur noch selten vor." Das Gleiche gelte auch für die deutschen Eliten in Wirtschaft und Politik, wie er gerade bei Albrecht Müller lesen würde (3). Und er erklärt einer Großmutter und Leonie, ihrer Enkelin im Teenageralter, am Beispiel zweier Geschäfte und der Schule im Kiez, was Keynesianismus bedeutet. Dazu liefert die sechzehnjährige Leonie Beispiele, zum Beispiel den Zustand der Schule, an der, seit ihre Tante sie besucht hat (vor 15 Jahren), nur noch das Wichtigste repariert worden ist.

Paula kommt hinzu. Sie studiert eigentlich in Florenz Politikwissenschaft, nachdem sie ein deutsch-französisches Diplom abgelegt hat. Jetzt schreibt sie in Neukölln das Exposé zu ihrer Doktorarbeit über die Veränderung der Arbeitswelt. Und sie referiert ihre neueste Lektüre, ein Buch des in London lehrenden Soziologen Richard Sennett. Laut liberaler Wirtschaftstheorie kurbele die Verringerung von Verwaltung, Gesetzen und der Staatsausgaben die Wirtschaft an. Gleichzeitig könne mehr Qualifikation zu mehr Arbeit führen und damit zu mehr Konsum. Das Schlagwort, mit dem uns das Ganze verkauft werde, sagt, Paula, heiße "Freiheit". Sie war, als die Mauer fiel, ein Teenager und ist in Ostberlin aufgewachsen. "Ich werde immer hellhörig, wenn jemand das Wort "Freiheit" verwendet, ich erinnere mich zu gut an die Mauer, an das Misstrauen, den Nachbarn gegenüber, an die Kontrolle in der Schule. Aber was soll in der jetzigen Situation "mehr Freiheit" bringen? Frei ist man oder man ist es nicht."

"Wie soll ich bitte zu guter Bildung kommen?", fragt Leonie, "wenn die Schule teilweise nicht mehr benutzbar ist und ich demnächst für die Uni Studiengebühren zahlen muss? In Deutschland macht man alles nur halb. Die führen Gebühren ein, aber keine Stipendienprogramme." Und, später, nach einigem Nachdenken: "Wie soll das überhaupt zusammenpassen, Verringerung der Staatsausgaben und bessere Bildung?"

Paula nickt. Dann erklärt sie Sennetts Beobachtungen, dass permanent drohende Arbeitslosigkeit, häufiger Job- und Ortswechsel und die Abwertung ihrer Vorerfahrungen die meisten Menschen unterminieren würden. Sie habe bei Praktika Unternehmen kennengelernt, in denen das "Firmenklima" hauptsächlich aus Angst bestehe. Alle hätten dauernd mehr Leistung liefern müssen, wären kaum gelobt worden. Das, so Sennett, entwurzele die Menschen. Sie fänden sich durchgängiger Biografien und nicht zuletzt ihrer Würde beraubt.

Sie selbst erinnerten die Schlagworte der Liberalökonomen, die wie Glaubenssätze immer nur leicht variiert zu allem und jedem fallen, an die Dogmen in der DDR, "das Verbot zum Weiterdenken inbegriffen." Und ihre Eltern, sie lebten noch heute im evangelischen Pfarrhaus im Brandenburgischen, dächten dasselbe.

Ihr gegenüber sitzt Hanka. Die Mittfünfzigerin hat als Sozialpädagogin jahrelang Mobbing-Opfer betreut. "Jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland hat innerlich gekündigt. Viele machen das, was man ihnen von oben aufträgt zu tun, auch wenn sie genau wissen, dass es nicht greift. Ihre Erfahrungen hat sie oft zu Spezialisten werden lassen, aber so, wie die Macht verteilt ist, klappt es nicht, dieses Wissen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Dahinter stecken Unternehmer, die selbst Angst haben, denn angstgesteuerte Manager haben auch Angst vor Kritik. Ergebnis: Die Unternehmen verkalken und erstarren. Am Ende holen sie teure Berater von außen, weil ihre Chefs das Offensichtliche nicht mehr wahrnehmen. Die Berater sind oft junge Schnösel von irgendwelchen europäischen Managementschulen, die keine Berufserfahrung mitbringen. Sie gehen nur über Zahlen und durchschauen das Geflecht aus Informationsstau und Fehlplanung nicht, wie denn auch. Sie schlagen dann vor, verlustbringende Unternehmensteile zu schließen, Entlassungen werden ankekündigt, Börsenkurse steigen. Die Manager fühlen sich bestätigt: Sie haben wieder mal alles richtig gemacht. Und bekommen am Ende noch eine Prämie."

Und wie ist das nun mit der 'Neuen Berliner Ökonomie' hier im Kiez? Mit den Ich-AGs, den kleinen Geschäften, Handwerksbetrieben, dem Tausch von Waren und Dienstleistungen? Vieles entsteht mit Anschlubfinanzierungen eines Staates, der sich hier noch nicht zurückgezogen hat. Sind die Firmen, sozialen und kulturellen Projekte überlebensfähig, wenn eines Tages Förderungen auslaufen? Oder gibt es einfach Bereiche, die immer gestützt werden müssen? Wenn ja, wie groß ist die Rentabilität der Investitionen, mit welchen Summen werden wie viele Menschen erreicht, wie groß ist der Verwaltungsanteil? Und was leisten diese Strukturen in Sachen Aus- und Weiterbildung? Lässt sich der Wert der Waren und Dienstleistungen, die hier getauscht werden, bilanzieren? Wie groß ist der ökonomische Beitrag im Verhältnis zur Investition?

Die Praxis der "Neuen Berliner Ökonomie" schaue ich mir in den nächsten Monaten genauer an, ich freue mich aufs genaue Hinsehen, die Stichworte aus dem Wirtschaftsteil unserer Zeitungen stets im Hinterkopf. Und darauf, über die Grenzen der neokapitalistischen Modelle hinauszudenken. Was bedeuten das soziale Kapital und die Netzwerkarbeit - für unsere Funktionseliten offenbar von zentraler Bedeutung - hier im Kiez? Welche menschlichen Aufgaben und Grundbedürfnisse werden hier erfüllt? Wo kommt das Engagement so vieler her, die ihr Schicksal, oft mit trotzigem Unterton, selbst in die Hand nehmen? Wo haben Schüler wie Leonie, die aus einem "bildungsfernen Haushalt" stammt, ihren Bildungsoptimismus her?

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(1) BBS e.V.: Basisgesellschaft für Bildung und Strukturentwicklung e.V.
(2)
Einige Namen sind hier geändert, andere nicht.
(3)
Bücher, die hier angesprochen werden:
Sennett, Richard: "Die Kultur des neuen Kapitalismus" und "Der flexible Mensch"
Müller, Albrecht: "Die Reformlüge" und "Machtwahn, Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet"