Donnerstag, 19. Juni 2008

La Bohème

Letztens in der Deutschen Oper: eine Bohème-Inszenierung, bei der das überaus kitschige Bühnenbild (aus dem Jahre 1988!) von der schönen musikalischen Durchführung ablenkte, ja sie stellenweise konterkarierte. Eine Bühne wie eine Kitschpostkarte des späten 19. Jahrhunderts: Schön anzusehender Miserabilismus, adrett verdreckte Glasscheiben eines riesengroßen Ateliers hoch oben über den Dächern der Stadt (im Libretto steht was von "Mansarde"), schmucke alte Stühle, ein Kanonenofen voller Zierrat, dekoratives Gekritzel auf Leinwänden. Niedliche Armut - das Bühnenbild des Mariinsky-Theaters St. Petersburg, 2007 zu Gast im Baden-Badener Festspielhaus sah fast genauso aus, siehe links ... Dazu vermeintlich Frierende, die stets die Tür zum Dach hin offen stehen lassen. Ich bekam allein schon vom Zusehen kalte Füße - im Juni.

Dann fröhliches Weihnachtsmarkttreiben an einer viel zu breiten Montmartre-Treppe, Blumen- und Luftballonverkäufer, Passanten, Kinder, die Reifen treiben, kapriolenschlagende Artisten, Feuerspeier und Feuerwerker. Viel hilft viel, mag sich da jemand gedacht haben, eine Attraktion ist aufmerksamkeitsheischiger als die nächste, kurz: Ein Bühnenbild wie das funkelnde, blinkende, sich bewegende und übervolle Weihnachtsschaufenster der Galeries Lafayette oder eines anderen grand magasin mit seinem unregelmäßigen Rand aus Sprühschnee und der Menschentraube davor, notabene aus Winzlingen, die sich hier die Nase an der Scheibe plattdrücken.

Dann ein Bild mit Stadtmauer, Marktweibern, Gensd'armes, einer Kneipe von außen und fröstelnden Februargestalten mit Liebeskummer, alles weiter derart pittoresk, als hätte heimlich Spitzweg Pate gestanden. Im Schlussbild wanderte das Atelier mit seinen großen Scheiben in den Keller, wurde zu einem Raum ähnlich einer Tiefgarage mit übergroßem Abluftrohr - und, als wäre das zu gewagt gewesen, standen hier wie zuvor historisierende Requisiten im Bild herum.

Warum nicht das Stück nach heute transferieren? Ein Bühnenbild wie ein Puppenhaus oder ein angedeutetes solches. Nicht bespielt: der Atelierraum, den sich ein Besserverdiener gesichert und modern möbliert hat. Teils daneben, teils darüber, in der Mansarde, über zwei Stockwerke Dienstbotenkammern, und in zwei von ihnen haust die fröhliche Belegschaft nun und bibbert neben leeren Räumchen der gleichen Art, in denen nur die Erinnerungsstücke der Beletage-Mieter verstauben. Mimi hat deshalb keinen Strom mehr, weil sie die Rechnung nicht hat zahlen können, wir sehen als Parallelhandlung am Anfang, wie die Herren der EDF ihr den Strom abdrehen. Dann holt sie sich beim Nachbarn Licht für ihre Kerze.

Die "Stickerin" Mimi malt allerhöchst dekorative Blumen, Kaufhauskunst in hoher Auflage, hyperrealistisch. Wie viel Prozent bildender Künstler leben von dem, was sie machen? Der Autor unter den Bohémiens klappt, als er noch einen Artikel fertig schreiben muss, selbstredend seinen Apple-Computer auf, denn an Technik wird nicht gespart, die Kommunikation mit der Außenwelt ist auf dem neuesten Stand, Standards werden in den Dienstbotenkammern gesetzt. Entsprechend bilden eben jene Künstler die tableaux vivants der Weihnachtsschaufensterdekoration, schlüpfen in historisierende Roben, stellen ihresgleichen dar, Maler und Bildhauer und Schriftsteller, während sie im Schaufenster des grand magasin (in dem ein Caféhausleben abgebildet ist) für Animation sorgen - und für den Fortbestand sämtlicher Paris-Klischees.

Am Ende haben sie nicht einmal ihre enge Bleibe unterm Dach retten können. Sie malen jetzt die Wanddekoration für ein Restaurant, im Hintergrund sieht man überfettete Wänster genüsslich speisen.

Warum nicht den Kunstbetrieb karikieren, anstatt dem feinen Bürgertum ein antiquiertes "Bild" künstlerischer Existenz vorzuführen, das schon damals in kürzester Zeit zum Klischee geronnen war? So, wie die Inszenierung jetzt ausschaut, habe ich den Eindruck, dass sie sich über die materielle Armut von Künstlern lustig macht. Und die ist für viele nicht erst seit 1896, dem Jahr der Uraufführung von Puccinis La Bohème, aktuell ...

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Zum 2. Bild: Nach etwas Recherche finde ich etwas, das zumindest von der Architektur her in die Richtung geht, in die ich dachte, das Bühnenbild der Metropolitan Opera New York, so, wie die Inszenierung am 5. April 2008 live vom NRD übertragen wurde.

Sonntag, 15. Juni 2008

Reisen bildet, aufräumen auch

Gerade miste ich alte Akten aus. Da entdecke ich die Rechnung eines Hotelzimmers in Paris, Sorbonne-Nähe, in dem ich vor kurzem erst wieder war. Nur, dass die alte Rechnung von 2001 stammt.

Damals zahlte ich:
370 Franc für das Zimmer (eine Person) incl. Frühstück
Der Kurs damals war um die 3,5 (so jedenfalls meine Kopfrechnungsgröße). Das bedeutet, ich habe damals umgerechnet etwa 105,71 DM gezahlt, das wären um die 50 Euro.

Letztens zahlte ich dort 71 Euro für das Zimmer und 9 Euro nochmal drauf für das Frühstück, insgesamt also 80 Euro. Kleine mathematische Ungenauigkeiten wegen meiner Pi-mal-Daumen-Umrechnerei seien dahingestellt, aber die Preiserhöhung erscheint mir doch deutlich mehr, als die Inflation vorgab.

Samstag, 14. Juni 2008

Wie wir arbeiten ...

Letztens, auf der Konferenz europäischer Betriebsräte, die zu dolmetschen war: Wir waren in Leipzig und da wurde fröhlich erzählt, dass viele Arbeitnehmer unter der Warteritis zu leiden hätten. Warteritis? Das klingt wie das, was mir meine sächsische Verwandtschaft aus der Kleinstadt immer erzählt hatte. Noch zu Zeiten der verblichenen DDR hätte man sehr oft bei der Arbeit Beschäftigtheit simulieren müssen, weil es immer Zulieferschwierigkeiten an der Tagesordnung gewesen seien. Da nun aber jeden Moment der Betriebsleiter oder jemand anderes Offizielles hätte um die Ecke biegen können, also sei es wichtig gewesen, dass man so tat, als arbeitete man.

Sonst wäre man gleich dran gewesen mit Hof fegen oder derlei. Heute, so die Betriebsräte, fegte man wieder sehr oft den Hof oder die Werkhallen, und der Kapitalismus hat sich im Osten dahingehend ausgewirkt, dass die halbe Belegschaft sich dann schon mal ums Streichen des Arbeitsplatzes kümmere - zu DDR-Zeiten eher nicht so denkbar, allein die Materialbeschaffung ...

Und der Grund? Just in Time, die auf die Straße verlagerte Bevorratung der Werkstätten und Fabriken. Anstatt wie früher für eine oder zwei Wochen Material zu lagern, werde oft "aus dem einzigen vorhandenen Karton in die Maschine montiert". Und natürlich löse dies auch wirtschaftliche Probleme aus, wenn Bauteile fehlten, die oft nur Centbeträge wert seien ("die Verpackung war teurer, ganz zu schweigen vom Versand"). Dann geriete ("richtig teuer") die Montagestrecke über Stunden und Tage ins Stocken. Hintergrund: Die Straßen werden immer voller, und in etlichen EU-Staaten streiken die Fernfahrer besonders gerne.

In einem Großunternehmen mit mehreren zehntausend Angestellten ging man davon aus, dass stets 10 % der Beschäftigten nichts zu tun hätten ...

Noch ein interessanter Hintergrund, diesmal zur Arbeitsplatzsituation von Zeitarbeitern. Man habe festgestellt, so einer der Betriebsräte eines Konzerns, dass Zeitarbeiter mehr Arbeitsunfälle als die Festangestellten hätten. Festangestellte seien besser ausgebildet, nähmen häufiger an Arbeitsplatzsicherheitskursen teil und wären konzentrierter bei der Arbeit, weil ihre Gedanken weniger bei der nächsten Bewerbung, dem langen Nachhauseweg oder dem Streit mit dem Vorgesetzten sind, der bei den Zeitarbeitern direkt in Arbeitslosigkeit münden könne. Und die Fehlerquoten bei den Werkstücken sei in der Regel bei Zeitarbeitern auch höher. Es sei letztendlich alles eine Frage der Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen, eine Frage gemeisamer Ziele also.

Da muss ich an Ulbricht denken, Nachrichten aus dem Fernsehen der DDR aus den frühen Siebzigern. Der Parteiratsvorsitzende besucht eine Baustelle am Alexanderplatz, lob alles uns sagt in seinem singenden Ziegenbock-Sächsisch: "So, wie wir heute arbeitn, so wärdn wir morschen läbn!"

Dienstag, 10. Juni 2008

Rätsel des Alltags

Ja, ich bin viel rumgekommen in letzter Zeit, sah viele Hotelzimmer an den unterschiedlichsten Orten, fand Fragen und Antworten und neue Fragen, aber eine blieb, eine dumme. Doch, doch, es gibt dumme Fragen, wenn nämlich der Inhalt, auf den sie sich bezieht, ein gar dummer ist.

Also, mein heutiges Alltagsrätsel ist dies: warum wird überall, von New York über Beijing, Tunis über Cannes, London, Paris und Berlin, nicht zu vergessen Mailand oder Rom, in den sogenannten "besseren Hotels" (oder jenen, die sich dafür halten), das Ende des Klopapiers (oder doch vielmehr ihr Anfang) der in Gebrauch befindlichen sowie der Reserverolle durch zwei Knicke, links und rechts, hochgradig akkurat aufeinander zulaufend wie die Spitze eines Pfeiles, gekennzeichnet? Wie kann es sein, dass ich derlei inzwischen überall auf der Welt finde, wo immer ich hinkomme? Was bedeutet das Zeichen? Wer sorgt für seine Verbreitung? Und, was noch erstaunlicher ist: mein Eintrag hier ist vermutlich der allererste Internetbeitrag über dieses Nicht-Thema. Wie ich darauf gekommen bin? Ich hab in den Hotelzimmern auch mal wieder fern gesehen. Was heutzutage schon als Kulturthema gilt und welche Fernsehansagerin sich für eine Journalistin hält, das ist schon erstaunlich.

Nein, ich habe keine Klopapierpfeilphobie, aber ich werd ja wohl mal fragen dürfen, wo derlei Stuss herkommt, jetzt, wo ich endlich wieder den Boden der rauhen Berliner Wirklichkeit betreten habe, wo alles so schön reell ist.

Montag, 9. Juni 2008

Am Sonntag gehört Papa mir!

... stand in meiner Kindheit auf Plakaten, die im öffentlichen Straßenraum aushingen. Die Gewerkschaften kämpften für das Verbot der Sonntagsarbeit.

Heute dürfte Papas oder Mamas Schreibtisch nicht zu Hause stehen, also er oder sie dürfte nicht freiberuflich arbeiten, denn für unsereinen gibt's oft kein Wochenende.

Freitag um eins klingt das Telefon. Dringender Auftrag, bitte zu Montagmorgen um neun. Und es spricht die Auftraggeberin ins Off: "Ich bin dann mal im Wochenende!"

Der Auftrag ist umfangreich. Berlin hat das Jahrhundertwochenende zu bieten. Die Stadtschreiberin schreibt.

Montag um 9.15 Uhr, ich habe zehn vor neun abgegeben, klingelt wieder das Telefon. "Ähem, ja, das ist jetzt peinlich, aber aus Versehen ist da am Freitag die falsche Datei, halt eben supereilig, und alles halbsoschlimm, weil ja nur zwei oder drei Fassungen früher. Geht bis heute Abend halb sechs? Dann aber wirklich!" (... und mit einem Unterton, als hätte ich und nicht sie die Sache verbaselt.)

Okay, des Freiberuflers Wochenende kann auch schon mal an einem Montag stattfinden, für mich gilt der Satz aller Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr, denn ab Mittwoch soll hier wieder Frühlingswetter herrschen und dann beginnt der Berliner Sommer und alle Berliner wissen, was das bedeutet.

Die Auftragsdame rief zwischendurch noch einmal wegen einer kleinen-aber-wirklich-nur-klitzekleinen Änderung an, der Abendtermin zur Abgabe des Textes wurde wiederholt als enorm wichtig hervorgehoben, "det Janze muss zum Layout, klar!?"

Ich schicke pünktlich. Als ich keine Eingangsbestätigung bekomme, ruf ich 18.00 Uhr mal durch. "Ja, Frau W. ist schon durch die Tür und hat mir nichts gesagt. Nein, ganz so eilig war's nun doch nicht, morgen Vormittag hätte doch immer noch tooootaaaal bequem gereicht, wirklich!"

Ende 1: Achtung, ostig: "Freitag nach eins macht jeder seins!", hieß es in der "früheren Ex-DDR" (um die Nachbarin zu zitieren). Freitag nach eins hätte also niemand den Telefonhörer abgenommen, von denen es ohnehin nicht mehr Exemplare als Mithörer gab, ergo auch keinen Mobilfunkterror. Oh Zeiten seliger Unschuld!

Ende 2: Achtung, kulturpessimistisch: Praktischerweise vermehren sich die Freiberufler nicht mehr so wie einst. Also ist kein Plakat zu befürchten à la: "Sonntag gehören meine free lancer-Eltern mir!"

Bevorzugtes Ende bitte ankreuzen.
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Foto: Miese Situationen bringen verschiedene Menschen auf die gleichen 'guten' Ideen. Die Festen Freien Mitarbeiter des NRD haben das Plakat umgesetzt, in ihrem Extra-Drei-Spot, in dem ein Kind erklärt, was es heißt, für den Norddeutschen Rundfunk frei zu arbeiten, denn dort ist es besonders absurd. Zum Film hier klicken.

Sonntag, 8. Juni 2008

Steifer Mittelfinger

Nach Wochen, die ich in Archiven und auf Festivals verbracht habe, bin ich wieder in Neukölln gelandet. Sortiere mein Büro - und ziehe mir jene Art von Kriegsverletzung zu, die Papiermenschen manchmal ereilt: Ich schneide mich an einer Papierkante. Ganz normales, handelübliches Druckerpapier und sauscharf - dummerweise geht es direkt ins Nagelbett. Und dort spüre ich nach zwei Tagen meinen Puls. Der Finger ist plötzlich einskommafünf Mal so dick wie sonst, drinnen drückt was Weißes.

Also auf zum Arzt. "Meiner" ist nicht greifbar, stattdessen findet das Netz drei Mediküsse in der Nähe, die subito zu sprechen wären, einer hat einen russischen, der zweite einen italienischen und der dritte einen türkischen Namen.

Ich knoble und lande beim türkischen Arzt. Als ich ankomme, sitzen die drei Helferinnen (zwei ohne, eine mit Kopftuch) im Wartezimmer und plaudern. Am Empfangstresen steht ein jüngerer, dunkelblonder Mann im Holzfällerhemd, unter dem Tisch liegt ein dunkelhaariger älterer Mann in Stoffhose und Hemd, vermutlich der Hausmeister.

Keiner nimmt Notiz von mir. Ich warte. Der Finger puckert. Nein, nicht die Körpersprache verrät mir hier die Machtverhältnisse, erst, als nach einiger Zeit das Telefon klingelt, und der Mann von unter dem Tisch her sich den Hörer angelt und sich als Dr. Soundso meldet, begreife ich, wer hier höchstpersönlich die Verbindungen des Rechners checkt. Die Damen bleiben ungerührt sitzen bzw. erklären einer anderen Wartenden Probleme ihrer Haut, Zyklen der Hauterneuerung und wo ihre akuten Beschwerden herkommen.

Als der Doc aus der Tauchstation auftaucht und den Holzfällerhemdmann, er ist offenbar der Techiker, weitermachen lässt, begrüßt er die zweite Wartende, sie war nach mir gekommen, wie eine Tochter. "Ich hab schon gehört, ihr habt alles Wesentliche gesagt, ihr könnt's auch ohne mich!", schäkert er in Richtung seiner Sprechstundenhilfen und nickt mir kurz zu.

Wenig später betrachtet er mein Malheur. Der Finger darf erstmal in einer gelben Lösung baden, nach einer halben Stunde, in der er immer wieder kurz vorbeikommt um zu sehen, ob's mir gut geht, ruft er seine Helferinnen zu sich: "So, dann woll'n wir mal!"

Ehe eine der Helferinnen auch nur irgendein steriles chirurgisches Besteck hätte reichen können, ist die Sache schon gelaufen, das Wasser hat den Finger erweicht, der Eiter kommt fast vom Zusehen raus. Der Arzt drückt noch ein wenig auf der Nagelhaut rum, ich grummele deutliche Missbilligungslaute, am Finger enden halt leider besonders viele Nerven. "Es gibt Diktatoren, die reißen in der Folter ihren Gegnern die Nägel raus!," kommentiert dies mein Mediziner und provoziert damit weitere Laute meinerseits.

Jetzt wird der Finger verbunden - ich darf mir die Farbe des Mullschlauches aussuchen, der mir gleich über den Finger gezogen wird. "Da Sie ja mit Frankreich zu tun haben, darf ich das wohl sagen, weil die Franzosen haben's ja erfunden: Das geht jetzt wie mit 'nem Kondom, nur, dass es kurz wehtut!" Ich merke schon, der Herr Doktor entspannt die Situation durch Humor, und die Praxishelferinnen kichern, alle drei, die mit und die ohne Kopftuch.

Darauf ich (voller Schmerzen): "Herr Doktor, ich hoffe aber, der Finger bleibt jetzt nicht so steif!" und halte ihm meinen erhobenen Mittelfinger entgegen. Worauf wir alle lachen, am lautesten aber der kleine, dunkelhaarige Mann, den ich anfangs für den Hausmeister gehalten habe.