Montag, 27. November 2006

Die Frankfurter Küche

Gestern auf der Sonnenallee, hier hat ein teurer Küchenausstattungsladen zugemacht, ohne, dass ich es früher gemerkt hätte. Als ich jetzt hinschaue: einfach weg. Die Umgebung von Lebensmittel-, Textil- und Billighandel war wohl nicht die richtige, und Laufkundschaft gab es auch nicht. Allenfalls die Häuslesbauer aus Rudow, die mit dem Auto auf der Fahrt "in die Stadt" hier vorbeikommen.

Bauherren in Deutschland geben oft zehntausende Euro pro Küche aus. "Eine gute Küche - die Anschaffung fürs Leben", so oder so ähnlich wurden Küchen früher beworben. Dabei ist alles ganz einfach. Die praktischste Einbauchküche ist Teil der Wohnung und ihre Fronten sind weder teuer noch anspruchsvoll in der Pflege. Diese Einbau-Arbeitsküche wird dieses Jahr 80, erfunden wurde sie in Deutschland. Und das kam so:


Am Anfang war das Feuer. Im Laufe der Jahrtausende erhält es eine metallene Einfassung. Dann werden die ersten Küchenmöbel erfunden, Kästen und Schränke, ein Spülstein kommt hinzu. Für Jahrhunderte war das der Mittelpunkt der Familie: Tisch und Herd.

1926 ist Deutschland reif für die Erfindung der sogenannten Frankfurter Küche, der Mutter aller Einbauküchen. Wie für alle Erfindungen sind einige Zutaten nötig:
Vordenker, die überlegen, wie Hausarbeit einfacher geht. Vorbilder, die das Arbeitsleben neu strukturieren: Mit der Taylorisierung werden Abläufe erfasst und Fabriken entsprechend umgebaut. Vorreiter, die neue Technologien in großem Stil einführen. Vorgesetzte, die dringend Erfolge brauchen - und außerdem ein Talent: Margarete Schütte-Lihotzky. Weil sie sich selbst so nannte, nennen wir sie bei ihrem Spitznamen: Grete. Sie stammt übrigens aus Wien und ist Österreichs allererste Architektin.

Die erst 29jährige Grete plant also 1926 in Frankfurt am Main tausende von Wohnungen für den sozialen Wohnungsbau. Geld ist knapp, also soll die Kücheneinrichtung fest in der Wohnung installiert sein, praktisch und sparsam in der Herstellung. Gretes Team nimmt Maß: bei Hausfrauen, Wegen und Handgriffen - und zählt, wie oft was gebraucht wird.

Zu Hilfe kommt ihr die Einführung von Strom und Gas. Holzhacken, Feuermachen und es den ganzen Tag am Brennen zu halten ist nicht mehr nötig. Gretes Chef, Bauamtsleiter May, hat auch nichts dagegen, dass nach ihren Plänen die Küche einer wichtigen Funktion beraubt wird: dem Wohnen.

Denn trotz der Krise erhalten die unteren Schichten zum ersten Mal ein Wohnzimmer, der Esstisch wandert dorthin. Damit die Frau ihre Kinder im Blick behält, wird die Türöffnung breiter. Die Küchenmöbel, jetzt schlicht und kompakt, rücken zusammen. Sie werden so angeordnet, dass nur ein Minimum an Schritten nötig ist. Vorräte lagern in Schütten, das Licht ist immer dort, wo es gebraucht wird. Sogar ein Bügelbrett wird eingebaut. Fußleisten und eine teilweise abgesenkte Küchendecke schaffen Staub-Ecken ab, Fliesen sorgen für Hygiene. Und weil Fliegen kein Blau mögen, werden die Türen blau gestrichen.

Manche Zeitgenossen kritisieren, die Frau werde in ein Küchenlabor verbannt, wo sie in gefliestem Umfeld auf dem Gasbrenner Versuche mache. Die sind aber schnell verstummt, weil sie gemerkt haben, wie praktisch es ist, dass die Hausarbeit schneller geht, denn damals werden immer mehr Frauen erwerbstätig.

Grete baut von nun an Kindergärten und Schulhorte.

Dienstag, 21. November 2006

Der Kulturbeutel

Die deutsche Sprache sei, so heißt es, wunderbar pragmatisch und anschaulich.
Georges-Arthur Goldschmidt zitiert dazu das "Vorhängeschloss", also ein Schloss zum Vorhängen, das verstehe doch jedes Kind. Das Wort "cadenas", so heißt das Objekt in Frankreich, erklärt sich indes nicht von selbst.

Auf Deutsch gibt es mindestens einen Gegenstand, für den die Regel der Anschaulichkeit nicht gilt. Sein Name ist wunderlich. Er vereint das scheinbar Unvereinbare: KULTUR - hier denken wir an die Oper und ans Theater, an Bücher und Malerei und an besondere Gebäude von der Kirche bis zur Schule - und BEUTEL: Ein Beutel ist ein verformbares Behältnis aus Stoff zur Aufnahme von Gegenständen oder Material. Er hat eine Öffnung, durch die es gefüllt und geleert werden kann.

Der "Kulturbeutel" also. Wie passt das zusammen? Oder wie passt die Kultur in den Beutel?

Es ist eine besondere Kultur, die im Beutel verschwindet. Auf jeden Fall ist es nicht, was man auf Deutsch "Hochkultur" nennt, jene eben erwähnten Einrichtungen, die der Erbauung, Erfreuung und der moralischen Erhabenheit dienen. Das Wort "Hochkultur" legt indes nahe, dass es eine "niedere Kultur" geben würde.

Und wirklich, es gibt sie. Bücken wir uns und betrachten wir die "Frühkultur" auf dem Land, wo in "Frühbeeten" das "Frühgemüse" herangezogen wird. Heben wir den Blick und werfen wir einen Blick auf die "Unternehmenskultur", bei der eigentlich die Kultur das Unternehmen steuern soll. Jetzt steuern manche Unternehmen großherzig der Kultur einen Obolus bei in der Hoffnung, ihre Unternehmenskultur (in der Steigerung: die Unternehmens"philosophie") geriete aus dem Blickfeld der Allgemeinheit, denn leider besteht sie allzuoft darin, Arbeitskräfte "freizusetzen", was ihnen in der Regel flugs an der Börse gedankt wird. Lassen wir die Augen auf der "Küchenkultur" ausruhen mit polierten Granit-Arbeitsflächen und sündhaftteuren japanischen Sushi-Messern, das klingt immer ein wenig nach Wohnzeitschrift. Hier sehen wir gepflegte "Lebenskultur", die offenbar noch einen Schritt vor der "Lebenskunst" liegt, der "art de vivre", vielleicht aus Unsicherheit heraus, ob man letztere wirklich beherrscht.

In Deutschland, besonders aber in der ehemaligen DDR, ist auch die "Freikörperkultur" sehr beliebt. Sommerwochen am besten am Meer so zu verbringen wie Adam und Eva in freier Natur - das ist der Traum vom einfachen Leben, von der klassenlosen Gesellschaft. Hier sind wir unserem "Kulturbeutel" schon recht nahe. Es geht nämlich um Existentielles, um “Körperkultur” und Körperpflege. Den "Kulturbeutel" findet man in Regalen der Drogerien, das verformbare Behältnis aus Stoff wird mit Deo und Seife, Shampoo und Kamm gefüllt. So ist der "Kulturbeutel" die Hülle, in der die Leute ihre Kultur mit sich herumtragen, wenn sie auf Reisen gehen.

Nur komisch, dass das Gleiche auf Französisch "le nécessaire" heißt, "die Notwendigkeit": Eine ungleich pragmatischere Beschreibung der Angelegenheit.

Montag, 20. November 2006

Poesie und Wetterkarte

Die Wetterfrau bei TV5 heißt mit Vornamen Luna.

Sonntag, 19. November 2006

Die Mädchenkammer (ein Kurzfilm)

TEXT: So sieht in Paris das typische Stadthaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts aus.

BILD: Echtfoto, das über eine Kontrastverstärkung immer mehr zur Schwarz-weiß-Zeichnung mutiert, gerät in Veränderung ...

TEXT: Konzipiert vom Baron Georges-Eugène Hausmann, der auch das Musterbuch für die einheitlichen Fassaden der französischen Hauptstadt zeichnete.

BILD: Musterbuch-Alternativen, noch immer schwarz-weiß, werden von Hand mit buntem Ärmel gezeichnet, dann sieht man immer mehr vom Mann bis zum Portrait. Das den Kopf hebt und auf der Straße die Fassade hochschaut.

TEXT: Der Balkon der Beletage wird bei besonders schönen Exemplaren von Karyatiden getragen. Wesen, die nur dazu da sind, das Leben, den Alltag aufrechtzuerhalten.

Das Pendant zum männlichen Karyatid ist die "bonne à tout faire", das Mädchen für alles. Auch sie hat in der Architektur Hausmanns ihre Spur hinterlassen, jedoch ganz oben unter der Dachjuché: Die Chambre de bonne.

BILD/TON: Karyatide hält einen Balkon in die Höh. Auf den ein Dienstmädchen tritt zum Ausschütteln des Staubtuchs. Sie trägt ein weißes Schürzchen. Kamerafahrt die Fassade hoch. Reinfahrt durch Gaubenfenster.

TEXT: Die Mädchenkammer ist klein und spartanisch möbliert. Ein Ort zum Schlafen und zum Verstauen der Kleidung, oft gibt es hier nur eine penderie, eine Kleiderstange, und eine einfache Waschgelegenheit.

BILD/TON: Bett, Tisch und Stuhl. Ablagen. Penderie hinter Vorhang. Kleine Kommode mit Wasserkrug und -schüssel. Koffer hinter der Tür oder oben auf einem Brett.

Und einen Ort, um den Koffer zu verstauen.

Denn das Mädchen kam meist vom Lande, stand als "gute Seele" der Herrin des Hauses (maîtresse de maison) bei und kam nur hoch, um zu schlafen.

BILD/TON: Die Mamsell im ländlichen Kostüm und wie die Stadt sie gemach, gemach verschickifiziert. Am Ende auf der Treppe ... die endlos ist. Hier beginnt der historische Exkurs.

TEXT: Nachdem die Bediensteten eine Zeitlang in einer Kammer neben der Küche geschlafen hatten, verbannte sie der Baron unters Dach, damit die Familie unter sich sein kann.

Unterm Dach ist noch nah genug, um diese Vertreter der einfachen Klassen zu kontrollieren. Denn in eigenen Vierteln hätte man sich ja zusammenrotten und Revolution machen können. Davor hatte der Baron Angst. Deswegen ist er auch weniger für die Chambre de bonne als für die Boulevards berühmt: breite Straßen, die er auf den Fundamenten der einstigen Mauern, der Bollwerke, anlegen ließ.

BILD/TON: Die Armen aus dem Viertel rotten sich zusammen, werfen Steine, bauen Barrikaden, verschanzen sich in kleinen Gässchen hinter Wegbiegungen, kommen durch Nebensträßchen von hinten und umkreisen das Militär. Die Zeichnung wird immer kontrastreicher bis hin zur schwarz-weiß-Darstellung. Die bunte Hand von Hausmann reißt das Papier mit einem Ruck durch, reißt eine Straße ins Gassengeflecht, pflastert sie links und rechts mit Haussmann-Häusern.
Das Ganze vor dem akustischen Hintergrund der Bonne, die die Treppe hochsteigt, wovon optisch auch etwas im Bild übrigbleibt. Dann wird sie wichtiger, ihre Tür mit draufschablonierter Ziffer, geht auf, dahinter Wasserkrug, Schürze, die auf die Kommode gelegt wird.

TEXT: Auch heute noch gibt es solche Kammern. Und auch heute kommen deren Bewohner von weit her.

BILD/TON: In der Bewegung weg von der Kommodenplatte: Hinter dem Wassserkrug hängen Postkartenmotive von Paris, die immer moderner werden, am Ende sieht man "La défense". Jemand steckt einen Blumenstrauß in den Wasserkrug ...

TEXT: Eins ist neu: in ihnen findet mehr statt als nur das nächtliche Ausruhen.
Hier wohnen Studenten, die auf Prüfungen lernen, auch mal einen Topf Pasta mit Fertigsauce kochen, das ist dann Luxuscamping. Oder die auch mal Freunde zu Besuch haben, dann wird es sehr rasch sehr eng.

BILD/TON: Erst solitäres, dann gemeinsames Lernen, Platz machen fürs Kochen, Bücher auf ein Bord in luftiger Höh', Beine einziehen, Tisch an die Wand klappen, Stuhl wegklappen, Gäste sitzen auf dem Bett, dann Essen, dann Feiern: einer spielt Gitarre.

TEXT: Und auch lauter, was die Nachbarn en détail mitbekommen, die Wände sind dünn.

BILD/TON: Puppenhaus-Draufsicht: In der Mitte jene Mini-Party, drumherum dreht einer das Radio lauter, ein anderer setzt sich Ohrenschutz wie vom Bau auf, ein Dritter macht das Licht an, er schlief wohl schon, der Vierte greift zum Besenstil.

TEXT: Oder es wohnen Arbeitsmigranten hier, Männer und Frauen mit oder ohne Aufenthaltspapieren.

BILD/TON: Mann und Frau, die sich nacheinander reinschleichen, sich vorher umschauen, drinnen leise sind.

TEXT: Andere Besucher des Stockwerks wollen auch nicht bemerkt werden. Sie wohnen eigentlich unten, zumindest einer der beiden, sie kommen aber ab und zu hoch um ...
Du "cinq à sept" heißt das amouröse Stelldichein nach der Arbeit, wofür sich die Dienstbotenetage hervorragend eignet.

BILD/TON: ... die auch reinschleichen, aber gemeinsam, sich unterwegs küssen. Dann eindeutig. Und auf einem alten Nachttischchen steht ein 50er-Jahre-Wecker, auf dem die Zeit vergeht.

TEXT: Oft wohnen in den Zimmerchen aber nur die Erinnerungen der Bewohner aus den unteren Stockwerken.

BILD/TON: Pappkarton blättert sich wie von Zauberhand selbst auf, desgleichen die Fotoalben. Über allem thront die Spinne und schaut nach dem Rechten. Zuckt zusammen: laut!

TEXT: Komfort gibt es hier oben übrigens kaum. Die Sommer sind heiß, die Winter kalt, das Klo ist für alle da und Badezimmer - Fehlanzeige.
Sommer: Sonne und das typische laute Knacken der Zinkdächer!

BILD/TON: Runterschwenk auf Fenster: Winter und Wind: Elektroheizung! Toilette turque / Steh-Klo & Point d'eau dans le couloir / Handstein im Flur.

TEXT: Ein eigenes Waschbecken gilt hier oben seit guten alten Zeiten als Luxus.

BILD/TON: Rückblende: Wasserkrug und -schüssel.

TEXT: Dennoch sind die Preise gepfeffert. Für 10 Quadratmeter werden nicht selten um die 400 Euro gefordert. Nicht genug für manchen Investor. Deshalb werden die Zimmerchen jetzt auch immer öfter umgebaut - in großzügige Dachwohnungen.

BILD/TON: Baulärm, Wände bekommen Risse, Stücke brechen raus, dahinter wird eine schicke Designerwohnung sichtbar.

TEXT: Adieu, chambre de bonne!

Freitag, 17. November 2006

Und es werde Licht...


Drei Wochen Winterblues-Prävention im Selbstversuch


"Der schwarze Vorhang, der draußen über die riesige Einöde gefallen ist, hat sich auch drinnen auf unsere Seelen gelegt." Albert Cook (von der Antarktis)

1. Tag
Der goldene Herbst ist lang schon verglüht, in den Geschäften quält sich die Kundschaft an Nikolaus und Schokolebkuchen vorbei. Heute früh ist es so grau, dass ohne Deckenlampe in der Buffetschublade die Silberlöffel nicht zu finden sind. Fast kaffeeschwarz ist an einigen Stellen auch die Wolkendecke, unter der Berlin am späten Vormittag verschwindet.

Jetzt wird das Licht jeden Tag spürbar weniger. Im Winter ist es hier nur halb so lange hell wie im Sommer. Dann geht die Stadt Berlin immer kollektiv auf Polarexpedition. Scheint die Sonne zur Abwechslung doch mal, trifft sie ab Mitte Dezember mit einem Einfallwinkel von 14 Grad auf, weshalb die meisten Straßen im Schatten liegen. Wenigstens kommt die Sonne überhaupt ab und zu durch und es geht Berlin nicht wie einem Bergdorf im Tirol, das den Winter über völlig ohne sie auskommen muss, weshalb man jetzt erwägt, große Spiegel auf die Berge zu montieren, so jedenfalls die Frühstückszeitung.

Nein, dieses Jahr soll mir nicht vor Lichtmangel die Stuckdecke auf den Kopf fallen. Es muss was passieren. Eine Reise in den Süden scheidet aus, ich hab in Berlin zu tun. Selbst dann bleib ich hier, wenn Flugbenzin noch steuerfrei ist, was die Regierung sicher auch bald ändern wird.

2. Tag
Welche Möglichkeit gibt es noch, dem Winterblues zu entkommen? Jeder Zehnte hat hierzulande "SAD", was nicht nur traurig klingt, sondern dekliniert "saison-abhängige Depression" heißt.

Da fällt mir Greta ein, eine Freundin aus Schweden. Nein, SAD heißt nicht auch noch das neue Ikearegal, die Ablösung vom 60-cm-Billy. Und ich denke jetzt auch nicht an schwarz-gebrannten-Kartoffelschnaps-und-ab-zum-Winterschlaf-hinter-den-Ofen. Greta hat mir schon vor Jahren von Lampen erzählt, die Tageslicht imitieren und einen gut durch die freudlosen Wochen des Winters bringen sollen. Um nicht der ewigen Winterstarre zu verfallen, gehe ich ins Kaufhaus. In der Lampenabteilung erübrigt sich jede weitere Frage: ein heller Lichtkegel lugt keck zwischen Schreibtischlampen hervor.

Die Tageslichtlampe hat die Form einer Mattscheibe, wie ein hochkant gestellter Fernseher, aber im Format 16:9. Anders als bei einer Neonlampe tut mir ihr Licht nicht in den Augen weh. Schmerzhaft ist dafür der Blick aufs Preisschild: 129 Piepen nach einem Preisnachlass von 70 Euro. Und das Gerät hilft wirklich gegen Winterblues? Nach kurzem, heftigem Zaudern ist klar: Wer sich der Wissenschaft widmen will, darf materielle Opfer nicht scheuen.

3. Tag
Am Morgen renne ich reichlich verspätet durch dicken Nebel. Am Vormittag quälen mich Skrupel wegen des unüberlegten Lampenkaufs. Was für eine Summe, in D-Mark-Zeiten hätte ich das nie getan! Ist es überhaupt erwiesen, dass Kunstlicht hilft? Außerdem hat das Teil bestimmt die schlechteste Energie-Effizienzklasse, etwa V wie "viel"!

Und ich beschließe, durch ein Lichttagebuch Ablass zu tun.

Die Stunde der Tageslichtlampe kommt erst zur Teezeit. In der Büroküche steht ein kleiner Bistrottisch; wenn die Lampe draufsteht, ist der Tisch zu einem Drittel voll. 20 bis 40 Minuten hat Greta gesagt, am besten morgens, und man setzt sich mit 45 bis 55 cm Abstand vor die Lichtquelle. Das geht sogar ohne Schutzbrille, denn die UV-Strahlen werden rausgefiltert. Ich schmeiße das Dingen an - und das Radio fängt an zu knistern. Nein, die Leuchte ist irgendwie doch entstört, denn etwas Feinjustierung später jubilieren die Engel hell und klar etwas vom Licht der Vernunft. Bin ich jetzt im Himmel oder auf Erden? Vermutlich downtown Berlin, denn diese Verbindung erscheint mir zu logisch für andre Gefilde. Und hier gilt besonders: Dunkle Zeiten waren immer auch dumme Zeiten.

Zweite Beobachtung nach dem Erstkontakt im Kaufhaus: Die Lampe leuchtet flimmerfrei und hell. Sehr hell. Direkt reinschauen ist nicht gerade angenehm. Und vor allem langweilig. Indirekt genüge auch, so Greta. Also lese ich. Und vergesse die Lampe. Immerhin strahlt sie so hell, dass ich jetzt 10.000 Lux abbekomme, was verglichen mit einem wintertrüben Tag - der bietet bei einem langen Spaziergang 1.000 Lux - eine ganze Menge ist. Aber immer noch deutlich weniger als echtes Sommersonnenlicht: An einem langen Sommertag kann der menschliche Körper bis zu 100.000 Lux "einfangen".

Als ich 30 Minuten später wieder auf normale Zimmerbeleuchtung umschalte, kommt die mir allerdings wie Kerzenlicht vor. Kein Wunder, die 60-Watt-Birne bringt gerade mal 40 Lux ... Nach kurzer Zeit sind im Auge die "Stäbchen", die Rezeptoren für die Dunkelheit, wieder aktiv. Bis dahin sieht die Küche so grau aus, als wäre sie voller Nebel.

4.Tag
Heute muss ich früh am Morgen für den Job aufs Flugzeug. In Berlin wabert das kalte Grau durch die Straßen, die Wolken hängen auf der Höhe des zweikommafünften Stockwerks. Die Straße ist menschenleer, ein Sonntag ohne Sonne. Auf dem Weg zur Bushaltestelle scheint mir, als mische sich in den Nebel Rauch, und wirklich, da brennt ein Dachstuhl. Hätte ich nicht gerade besonders aufmerksam die grauen Wolken betrachtet, wegen örtlich wirksamer Windströmungen wäre mir der Brand nicht am Geruch aufgefallen, denn der Wind zog den Rauch in die Höhe. Ich rufe die Feuerwehr an, und als ich mit dem Bus um die Ecke fahre, höre ich schon das Martinshorn.

Tapfer arbeitet sich eine Stunde später das Flugzeug die Wolkenstraße hinauf. Wir fahren über keinen historisierend-kleinteiligen Straßenbelag, nicht über mittelalterliches Katzenkopfpflaster, das fühlt sich an wie DDR-Asphalt in Reinform, immer mal wieder eine Adolf-Platte, dazwischen Dehnfugen aus Bitumen made in Leuna: rissig, löchrig, genauso wie die Adiplatte. Mir ist flau im Bauch.
Von einer Sekunde auf die andre ist das alles vergessen: LICHT! Ein riesiger Horizont, der von oben weiß strahlt, als wäre er indirekt beleuchtet, breitet sich im strahlendhellen Himmel aus.

Ach, Sonne!

6. Tag
An der Universität Oslo, so steht es heute in der Zeitung, wurden Hamster mit Winterblues beobachtet: Sie sind ängstlich, depressiv, hocken still am Käfigrand, statt neue Territorien zu erkunden. Allerdings sind sie auch appetitlos. Das soll bei Menschen anders sein. So jedenfalls mein Hausarzt Hans, den ich anrufe: "Winterblues führt beim Menschen zu vermehrtem Appetit nach Süßem und Kohlehydraten. Die Lichttherapie kann das genauso bremsen wie Schläfrigkeit und Lethargie, andere Symptome von SAD. Von wirklich schwerer Winterdepression sind nur 1-2 % der Bevölkerung betroffen, die leichte Form haben, und die Statistik stammt aus den USA, fast 20 % der Bevölkerung mindestens einmal erlebt. Je größer die Entfernung vom Äquator, desto mehr Menschen leiden an Winterdepression."

Nun frage ich nach den skandinavischen Lampen. Darauf Hans: "Die Lichttherapie ist noch relativ jung, weil die chronobiologischen Zusammenhänge erst in den 80er Jahren bekannt wurden. Das über die Augen aufgenommene Licht wird von speziellen Rezeptoren eingefangen und die Information über die Sehbahnen in das Gehirn weitergeleitet, von wo aus Nervensystem und Stoffwechsel gesteuert werden. Licht und das Schlafhormon Melatonin wirken entgegengesetzt: Im Winter wird durch Lichtmangel mehr von dem Hormon ausgeschüttet, die Lampe wirkt dem entgegen."
Bei den Olsoer Hamstern war übrigens aufgefallen, dass deutlich mehr weibliche Tiere unter dem Lichtmangel litten als männliche. Na denn.

7.-9. Tag
Derzeit bin ich keine gute Probandin im Selbsttest, was an der vielen Arbeit liegt und daran, dass es immer wieder stundenlang sonnig ist. Als Freiberuflerin kann ich theoretisch Pausen machen, wann ich will. Dieser Tage folge ich regelmäßiger als sonst dem Licht. Heute scheint die Sonne zum ersten Schnee des Winters. Der leuchtet so klar und rein wie sonst nur die Wolken hinterm Bullauge des Flugzeugs.
Seit ich die Lampe habe, reagiere ich auf Licht viel aufmerksamer. Die echten hellen Stunden genieße ich bewusster als früher. Und manchmal schaue ich vom Arbeitszimmer in den klaren Nordhimmel, als wär's der Schirm der Lampe, setze die Brille ab für ungefilterten Lichteinfall und träume.

10. Tag
Im Zoo, am Abend. Im Aquarium ist noch viel los. Bei den Korallenfischen herrscht Schummerlicht, obwohl es draußen schon dunkel ist, ein Zoomitarbeiter erklärt, warum: "Der plötzliche Lichtwechsel würde doch die Tiere erschrecken!" Greta ist aus Stockhom da, als Biologin weiß sie, dass seit Ende der 20er Jahre die Wirkung von Licht auf Pflanze und Tier bekannt sind. Der Banker John Ash Ott hatte damals in Chicago Filmaufnahmen von Pflanzen gemacht, ihr Wachstum dokumentiert und den Zeitraffer populär gemacht. Wie vieles gerieten die damalige Erkenntnis, dass, was bei der Pflanze offenbar wirkt, auch beim Menschen nicht wirkungungslos bleibt, durch Krieg und Kalter Krieg in Vergessenheit. Inzwischen habe die Industrie das Phänomen für sich entdeckt. Schichtarbeiter hätten bei Nachteinsätzen mit einer "Tageslicht-Lampendecke" eine wesentlich geringere Fehler- und Unfallquote, erzählt mir Greta.

11. Tag
Als ich aufwache, ist um mich herum alles dunkel. Mit kleinen Schritten taste ich mich vorwärts - und stolpere über Anmachholz. Ich höre, wie Steine aufeinander geschlagen werden. Funken fliegen, ein Reisigspan flammt auf. Wenig später brennt das Feuer in der Höhle. Wir sind zu viert. In der Ecke liegen Heuhaufen, darauf Felle. Alle nähern sich langsam dem Feuer. Da erkenne ich Hans, den Arzt. Er fängt auch gleich an zu erklären: "Im Winter ist das Nahrungsangebot knapp, die feindliche Außenwelt bietet wenig. Deshalb laufen die Stoffwechselfunktionen auf Sparflamme, und das Melatonin hilft dabei. Das Schlafhormon wirkt beruhigend und hemmt die Libido. In Laborversuchen wurde gezeigt, dass Menschen ohne jedes Tageslicht in einen 25-Stunden-Rhythmus reinkommen, das ist der natürliche menschliche Rhythmus. Unsere Anpassung an die 24 Stunden geschieht allein über das Licht..."
Jetzt wache ich wirklich auf, diesmal von meinem eigenen Gelächter.

14. Tag
Immer wieder reißen mich lange Arbeitstage auswärts aus der Testphase. Und ich fange an zu zweifeln, ob die Lampe etwas bewirkt oder ob es an meinem Lebenswandel liegt, dass ich nichts spüre.
Stattdessen geschieht heute Morgen ein Wetterwunder, die Sonne kitzelt mich aus dem Bett! "Aufstehen, du Schlafmütze, es ist Tag!" - wie im Bilderbuch. Aber wie immer in Berlin kommen am Ende des Vormittags, gegen elf, die dicken Wolken.
Genau davor hatte mich, als ich noch woanders studierte, ein Dozent aus Berlin gewarnt, die vorherrschende Winterfarbe hier sei grau: "Morgens grau, mittags hellgrau, nachmittags dunkelgrau." Ohne nachtschwarzen Kaffee lief jahrelang nichts.

Zu Abend esse ich heute im Schein der Tageslichtlampe. Mich nervt, dass ich nach den Stunden, die ich am Rechner verbracht und in den Monitor geguckt habe, nun schon wieder in ein Viereck schaue. Auch ist das Teil wirklich zu hell, auf jeden Fall für mich mit meinen stark kurzsichtigen Augen. Also lese ich Zeitung, die Lichtfläche nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, so ist sie gut zu ertragen.

15. Tag
Etwas hat mich zum nachtaktiven Hamster werden lassen, ich konnte gestern Abend gar nicht mehr aufhören zu arbeiten. Schlief erst in den frühen Morgenstunden ein, verbrachte den halben Vormittag im Bett. Könnte es sein, dass das Licht vom Vorabend daran schuld ist? Ab jetzt werde ich mit der Lampe frühstücken, wie Greta es geraten hatte.

Jetzt schneit es in Berlin, im Vergleich zum Münsterland aber nur leicht. Dort hatte Tief Torsten vor drei Tagen sämtliche Schneemassen mehrerer Wochen auf einmal runterschüttet, die für hunderte von Quadratkilometern gedacht waren, und viele Strommasten knickten unter der Last. Eine Region ohne Strom. Zubettgehen mit der Sonne, Aufstehen mit den Hühnern, kein Wunder, dass die Menschen früher im Winter nur halb so viel gearbeitet haben wie in der hellen Jahreszeit.
Heute halten wir uns im Schein von Schreibtischlampen bei 100 bis 500 Lux künstlich wach und haben den Bezug zum Rhythmus der Natur verloren. Und die durchschnittliche Schlafensdauer seit Erfindung der Glühbirne sank von 10 auf weniger als sieben Stunden. Kein Wunder, dass die innere Uhr ständig verstellt ist.

16. und 17. Tag
Am Wochenende fahre ich zu Freunden. Ein großer Nachteil der Lampe wird deutlich: sie ist zu groß fürs Handgepäck.

18. Tag
Der Schnee ist geschmolzen, dafür leuchtet der Winterhimmel wieder. In der hellsten Stunde des Tages gehe ich auf den Markt. Wintersonne ist kostbar, so lehne ich mich auf dem Weg an einen Baum und schließe die Augen. Ich fühle mich wie eine Pflanze, meine Gesichtshaut betreibt "Photosynthese". Schön wär's - aber der menschliche Körper braucht Licht genauso wie die Pflanze, denn es kurbelt die Vitamin D-Produktion an, und Vitamin D, so Hausarzt Hans, ist wichtig für Immunsystem und stabile Knochen.

So muss ich an ein Foto denken, das ich als Kind in einer Zeitschrift gesehen habe. Moskau, der rote Platz, die Moskoviten genießen die ersten Sonnenstrahlen des Jahres, lauter Fellmützen und rosig schimmernde Wangen, die ins Licht gehalten werden. Das mit dem Vitamin D kann die Tageslichtlampe nicht, denn das bewirken allein die UV-Strahlen. Natürliches Licht regt auch die Produktion von Endorphinen an. Wie schön, dass ich morgen darauf nicht verzichten muss, denn diese körpereigenen "Glückshormone" entstehen auch dank der Tageslichtlampe.

19. Tag
Heute habe ich im Internet einen Dämmerungssimulator als Wecker entdeckt. Er ist kugelrund und imitiert den Sonnenaufgang: erst schummerlichtet er wie ein Sonnenaufgang, dann wird er immer heller, damit das Licht einen nach einer halben Stunde ganz natürlich zum Aufstehen motiviert. Und noch was hab ich im Internet entdeckt: Die Webcam von Europas nördlichster Fischfabrik. An der Außenmauer angebracht, bietet sie nicht nur den Überblick über an- und abreisende Arbeiter, Werksdirektoren und Touristen, sondern auch über die Landschaft, die "Vindstyrke" wird auch angezeigt. Und vor allem das Licht. Manchmal schaue ich jetzt morgens nach, ob es im Norden um zehn Uhr schon hell ist, sehe mir Sonnenaufgänge zu einer Tageszeiten an, wo sich schon der Mittagessenshunger regt - und wenn ich mich nach langer (französischer) Mittagspause wieder an den Tisch setze, hol ich mir ein neues Kamerabild und sehe: Nacht. So gemein es ist, irgendwie tut es mir gut zu sehen, dass andre mit noch weniger Licht auskommen müssen.

21. Tag
Die Lampe kommt mir jetzt nicht mehr zu hell vor, vielleicht hab ich einfach den für mich richtigen Lichteinfallwinkel von 30 - 45 Grad entdeckt, als fiele Licht durch ein echtes Fenster. Mein zweites Frühstück überstrahlt jetzt immer die Elektrosonne, in die ich auch immer wieder kurz reinschaue, was wichtig sei, so Greta. Ich freue mich immer auf das Highlight des Tages. Auch Jetlags hilft das Licht zu kurieren! Für mich ist dieses Dingen die zweitwichtigste Erfindung in Sachen Kunstlicht, seit Thomas Alva Edison 1879 der Welt die Glühbirne schenkte.
Gerade gibt sich die wetterliche Trübsal wieder alle Mühe, uns am Nachmittag schon die Nacht zu bescheren. Aber das kratzt mich nicht. In einem stummen Zwiegespräch sag' ich zum Himmel: "Da kannst du dich anstrengen, wie du willst, du tust ja nur so, als ob die Welt gleich unterginge. Da oben ist es ganz hell, das weiß ich genau, ich hab's heute schon gesehen!"

Résumé: Ich bin zwar ärmer geworden durch den Lampenkauf, dafür ist meine Küche um ein Bullauge mit unverbaubarem Himmelsblick reicher. Ich habe einen Großbrand verhindert und achte viel mehr auf die hellen Stunden als zuvor, bin sogar zur Sonnenanbeterin geworden. Ich trinke kaum noch Kaffee - und bleibe ohne Winterblues in Berlin. Und bald ist es jeden Tag schon wieder etwas länger hell.

Der Blick in die nördliche Nacht z.B. hier: http://www.northcapeonline.com/ oder http://nordkapp.tv/index.php?id=196096/ oder http://www.webcamsinnorway.com/webcams.php
Mehr Licht, sagte der alte Geheimrat Goethe: Gibt's heutzutage im Fachhandel und in jedem gut sortierten Kaufhaus.

Montag, 13. November 2006

Weihnachten in der Feuerpause

Das vierte "Rendez-vous du cinéma"

Es war wie ein Familienfest zu Jahresende: Die meisten sehen sich gerne und feiern miteinander, aber dann ist da auch der Cousin, der einen beim Erbe (vielleicht) übers Ohr gehauen hat. Das vierte deutsch-französische Filmgespräch brachte am Wochenende knapp 300 Filmleute aus beiden Ländern in einem Münchener Kino zusammen.

Die "Rendez-vous" sind Ergebnis der von Jacques Chirac und Gerhard Schröder 2000 ins Leben gerufenen "deutsch-französischen Filmakademie". Die offiziellen Filmbeziehungen stehen jetzt also im schwierigen siebenten Jahr. Nach Krise sieht es nicht aus, im Gegenteil. Waren zuvor die Filmkulturen des jeweiligen Nachbarn nur noch wenigen bekannt, vor allem das deutsche Kino in Frankreich, sind deutliche Aufwärtstrends zu beobachten, nicht nur seitens der Kritik. Ein Grund war der Erfolgsfilm des Jahres 2002, "Good bye Lenin" von Wolfgang Becker. Er lockte als untertitelter Film mehr als anderthalb Millionen Franzosen ins Kino und setzte damit der unglücklichen Situation ein Ende, dass dort deutsche Filme wie "Lola rennt" oder "Anatomie" ohne Nennung des Herkunftslandes beworben worden waren, wenn sie nicht gleich in der englischen Sychronfassung, französisch untertitelt, ins Kino kamen. Jetzt spricht in Frankreich die Kritik von einer "nouvelle vague allemande", und auch wenn die Zuschauerzahlen bislang noch eher bescheiden sind, kommen vor allem endlich wieder mehr deutsche Filme ins Kino.

Zur Änderung trug sicher auch der 2001 aufgelegte und mit drei Millionen Euro pro Jahr ausgestattete deutsch-französische Filmfördertopf bei, das "Mini-Traité". Davon profitierten seither 36 Filme, von denen, so kritisierten die einen, fast drei Viertel auf französische Initiative zurückgingen. Und von denen wiederum, so befanden andere, etliche nicht ins Kino kamen. Man solle, so forderte am Abschlusstag denn auch Regisseurin Helma Sanders-Brahms, den "Mini-Traité" endlich zum "Maxi" und damit groß werden lassen.

Das jüngste Beispiel erfolgreicher Zusammenarbeit ist sicher "Das Parfum" vom Tom Tyckwer, der, so herrschte hinter vorgehaltener Hand Einigkeit, die Förderung nicht gebraucht hätte. Eine andere Großproduktion, kleiner im Budget, aber just vor einem Jahr sehr präsent in den Medien, war "Merry Christmas" von Christian Carion, zu dem beim Filmtreffen vor einem Jahr in Köln das Marketingkonzept vorgestellt worden war. Der französische Verleih hatte bei dieser Fußnote des Ersten Weltkriegs, einer Weihnachtsverbrüderung über Schützengräben hinweg, auf die historische Einzigartigkeit des Moments gesetzt. Die Deutschen, vielleicht aus der Angst heraus, dass man in hierzulande in den letzten Jahrzehnten ohnehin schon genug von Kriegen gesprochen hat, hoben mitwirkende Stars wie Daniel Brühl und die Diane Krüger hervor. Die Hauptwirkungsstätte Krügers, ein Produktionsstandort im englischsprachigen Raum, schien denn auch den "deutschen" Verleihtitel zu inspirieren. Gemessen an den Erwartungen floppte der Film selbst in Frankreich, wo ihn knapp 2 Millionen Kinobesucher sahen, in Deutschland nur 250 Tausend. (Zum Vergleich: "Die Kinder des Monsieur Mathieu" hatte mehr als sieben Millionen Kinozuschauer in Frankreich bzw. hierzulande mehr als eine Million.)

Die Auswertung dieser Ergebnisse fand nur im kleinen Kreis statt. Ansonsten gab es große Runden, knapp dreihundert Gäste, viel Programm: erst Diskussionen, dann Hochkultur, zwischendurch Esskultur, so lassen sich trefflich neue Projekte vorantreiben. Die bei einem "Pitching" öffentlich vorgestellt wurden - in jeweils drei Minuten präsentierten Produzenten oder Regisseur ihre Stoffe auf der Suche nach Koproduzent, Verleih oder Sender. Hier fiel der Trend zum Autorenfilm auf, zum kleinen bis mittelgroßen Projekt, dessen Story am besten auch noch eine deutsch-französische oder sogar trilaterale Koproduktion anbietet. Geschichten von Flucht und Vertreibung, über Liebe und Altwerden sowie historische Stoffe. Wobei der Entwicklung der Filmhandlung eine gewisse Zufälligkeit anhaftet - "wir drehen entweder in Baden-Württemberg oder in Norddeutschland" - je nachdem, welche regionale Einrichtung das Projekt fördert.

Da scheint wichtiger zu wissen, mit wem man zusammenarbeiten will, zu wem man Vertrauen hat. Die Filmförder- und Finanzierungssysteme beider Länder unterscheiden sich stark voneinander, selbst wenn sich die Deutschen in den letzten Jahrzehnten wiederholt von den französischen Förderinstrumenten anregen ließen und das zentralistische Frankreich seit der Jahrhundertwende auch mit Blick auf Deutschland ihre regionalen Filmförderungen stärken. Die Systeme sind derart verschieden, dass auch im siebenten Jahr intensivierter Gespräche von deutscher Seite nicht selten mit Verwunderung kommentiert wird, dass französische Produzenten offiziell gar kein eigenes Geld in Projekte investieren müssen, während sie doch auf dem Papier zu einem Drittel ihr eigenes Kapital einsetzen. Dahingegen mutmaßen viele Franzosen noch immer, die angebliche Unterfinanzierung der deutschen Filmproduktionen existiere nur in der Außendarstellung, denn von so wenig Geld, wie da übrigbleibe, könne man ja nicht leben.

Das "Mini-Traité", das von der Branche angeregt worden war, könnte nun eine Novellierung erfahren. Die im Vergleich zu anderen politischen Einrichtungen kleine, unverschlissene und einmütige Szene regte nun an, Projekte auch schon in der Drehbuchphase bilateral zu unterstützen - und auch den Verleih von Koproduziertem. Die Problemanalyse mündete gleich in Vorschläge. Einmütigkeit sei überlebenswichtig, kommentierten viele Produzenten beider Länder. Angesichts der Stärke des amerikanischen Kinos wirke jede Erfolgsmeldung zum europäischen Kino wie das Bejubeln einer Feuerpause.

Frankreich setzt auf Zusammenarbeit. Letztes Jahr wurde dort die noch nie dagewesene Zahl von 240 Filmen hergestellt, fast jeder zweite in Koproduktion. In Deutschland ist das nur jeder dritte der 146 produzierten Filme. Auch, wenn das jeweilige Publikum derzeit Filme aus dem eigenen Land mag, die Angst vor der kalifornischen Studioregion, die in München übrigens selten beim Namen genannt wurde, besteht weiter. Der Blick geht dabei über Frankreich und Deutschland hinaus. "In Zeiten, wo Flugzeugbauer nicht mehr weiterwissen, legen wir mit unseren Geschichten die wirklichen Grundlagen Europas" resümierte Regisseur Jean-Jacques Beineix die Lage - und alle klatschten Beifall.