Dienstag, 29. August 2006

Handwerkerlatein auf Berlinisch

"Schrauben in DER Länge und Stärke gibt es nicht! Was haben SIE denn vor? Au weia, DAS wird nicht klappen!", sagt Herr Schulz-bei-Scholz und runzelt die Stirn. Er schaut bestürzt auf Jules Zeichnung. Jule hilft mir beim Anmontieren eines Küchenschränkchens, in dem ich meinen Tee lagere, und das ist nicht einfach. Jule hat hintereinander aufgemalt, woraus die Wand besteht: Rigips, Luft, Stein.
"Was ist denn DAS für ein Haus?", fragt Herr Schulz-bei-Scholz, "doch hoffentlich kein ALTbau!"

"Genau, ein Altbau", gebe ich kleinlaut zu, und bin plötzlich einige Sekunden lang gar nicht mehr stolz auf meine Stadtschreiberwohnung am Maybachufer.

Immer, wenn ich in Berlin Handwerker befrage, hier den Mitarbeiter bei "Schrauben Scholz" in der Reichenberger, werde ich zunächst auf das handelsübliche Bittstellermaß zusammengestaucht. Und wie so oft scheine ich als Kundin grundsätzlich zu stören. Und überhaupt, was für unmögliche Anliegen immer! So, dass ich mich unterschwellig als der in Handwerksdingen unerfahrenste Weltenbürger fühle, der es je gewagt hat, seinen Fuß in die heiligen Hallen des Fachhandels zu setzen. Und ich bettele fast um eine Lösung: "Schauen Sie mal, vielleicht lässt sich das von der Zeichnung doch so umsetzen, dass es hält!"
Denn dass es diese oder jene Art Schrauben/Ersatzteile/Bauteile nicht fabrikmäßig geben soll, mag ich in keinem der Fälle glauben, in denen ich mit Menschen von Bau und Renovierung zu tun habe.

"Das wird nicht halten mit DER Luft dazwischen!", sagt Herr Schulz-bei-Scholz, wie er sich zwischendurch am Telefon meldet. "Haben SIE das so gebaut?" Der hagere Fachmann betont immer einzelne Worte ganz besonders. Sie hämmern mir fortgesetzt ein schlechtes Gewissen ein.

Nein, nicht eigenhändig gebaut, aber selbst in Auftrag gegeben. Die Küchenwand wäre sonst unerträglich kalt in der schlechten Jahreszeit, die in Berlin lange dauert, und bekannterweise sitzen nicht nur bei Parties die interessantesten Gäste am liebsten in der Küche.

"Da müssen sie das Rigips aufreißen, dahinter eine Verschalung machen, mit Holz verstärken, denn das Mauerwerk kann mal Stein, mal Bauschutt, mal sonst etwas sein, Berlin ist da besonders. SO kann ich keine Garantie geben, dass es hält! Au weia, DAS wird teuer!" und Herr Schulz-bei-Scholz schüttelt den Kopf ob so viel weiblicher Naivität.

Irgendwie habe ich immer noch das Gefühl, dass ich störe, aber das ergeht einem in vielen Berliner Läden so und mir ganz besonders bei allem, was irgendwie technisch angehaucht ist.

Ein anderer Kunde, der sich als Herr Jandl aus Österreich vorstellt, er kauft eben 100 Spezialschrauben zu 7,99 Euro, rät: "Sie könnten auch eine Trägerkonstruktion aus Metall von außen auf der Wand anbringen, dann verteilen sich die Lasten. Oder sie bringen eine Leiste an, die muss aber auf jeden Fall angeschrägt sein, und das Kasterl wird eingehängt. Sie müssen es aber noch unten fixieren, damit es sich nicht löst, wenn jemand aus Versehen dranstößt."

Und das Ganze nur für ein etwas größer geratenes Teeregal! Am Ende lässt sich der Fachmann vom Schraubenladen doch dazu herab, im Lager zu suchen. Und kommt nach elendig langen Minuten zurück. Er hat dicke Schrauben und Dübel in der gewünschten Länge dabei, nein: sie sind 12 statt 9 cm. Und größere Metallplättchen mit Loch in der Mitte, die von innen dagegen halten. Das war meine Idee, ja, da bin ich stolz, Herr Schulz. Denn die Löcher sind bereits gebohrt, das Mauerwerk hatte sich als unauffällig erwiesen.

Morgen kommt Jule wieder zum Frühstück. Dann wollen wir das Schränkchen aufhängen. Mal sehen, ob der Tee nicht zu schwer ist für die langen Schrauben.

Samstag, 26. August 2006

DAS Maybach

"Herr Hartmut", was mein Nachbar von ganz unten ist, Herr Hartmut sprach, als er meiner in Begleitung eines zweirädrigen, muskelbetriebenen Gefährts angesichtig ward: "Ach du schon wieder mit deiner Luxuskarosse!"

Das bezeichnete Gefährt ist ein altes Herrenrad. Zugeben, es ist nicht schön, es fährt sich damit aber wie in Abrahams Schoß. Ich hab es von einer Fundsachenauktion der Bahn. Da wollte es keiner haben, nur ich.

Denn mein Rad hat innere Werte. Der Diamant-Rahmen (Ost!) wurde vor Ewigkeiten mal von fremder Hand rostbraun übermalt. Es hat eine Dreigangschaltung, eine Shimano-Felge (teuer!), eine gelbe Klingel vom Ein-Euro-Laden, einen bequemen Sattel und kommt zwei Mal im Jahr in den Radladen zwecks Überholung. Die Steuer erkennt seit Jahren dieses dienstlich genutzte Rad und die damit anfallenden Kosten von durchschnittlich 71,33 Euro als Werbungskosten an. (Das schicke Privatrad kommt nur für die großen und privaten Ausflüge "raus".)

Das rostbraune Rad steht gelegentlich tage- und nächtelang am Potsdamer Platz, wo ich manchmal im Filmhaus meine Brötchen verdiene und von wo mich gelegentlich ein Automobil nach Hause trägt. Da das Rad so unscheinbar wie eine Tarnkappe ist, steht es da auch nach Tagen noch.

Herr Hartmut und sein Spott über mein Rad nerven ganz schön. Luxuskarosse - dabei ist er es doch, der den silbergrauen Mercedes, den er sein eigen nennt, oft stundenlang wienert. Und jedes Mal, wenn ich in den letzten Wochen vor die Tür trat, war Herr Hartmut schon da und hob an ...

Letztens fiel mir nach langem Stummsein die richtige Antwort auf die Provokation ein. "Na klar," sage ich, "da sind wir wieder, ich und mein Maybach."

Der Maybach ist als Luxuskarosse noch viel besser als ein Mercedes. Und weil "das Rad" sächlich ist, heißt mein Rad jetzt "das Maybach".

Freitag, 25. August 2006

Aktion und Galerie: "Gabis Heimsuchung"

Rot, fünf Schichten, mindestens. Karmin und Fuchsia und Violett, am Ende wieder Karmin: Die Rottöne erzeugen eine betörende Tiefe und bringen die Rückwand des leeren Geschäfts zum Flirren. Der etwa 30 Quadratmeter große Raum beherbergt seit Neuestem eine "Aktionsgalerie". Hier, in der Hobrechtstraße 47, werden von nun an Bilder und Fotografien ausgestellt, und dienstags um 20.00 Uhr ist Tangounterricht.

Bemalt hat die Wand Steffi. Wie sie so vor mir steht, schmal, mit wachem Blick unter dem dunklen ausgefransten Pony, wirkt sie sehr mädchenhaft. Steffi ist typisch für den Aufbruch hier im Kiez, für das junge Neukölln, und man sieht ihr die 46 Jahre, die sie bald vollendet, auch auf den zweiten Blick nicht an.

"Wir haben uns den Laden schwer erarbeitet. Bis vor fünf Jahren war hier ein Kinderladen drin, danach haben die Bauarbeiter alles abgestellt, was so angefallen ist, Schutt, Reste von Renovierungen, alte Möbel. Der Dreck war unbeschreiblich, eine Müllhalde mit Rattenhochburg. Wenn ich das vorher gewusst hätte, ich hätt's nicht gemacht. Insgesamt waren's 14 Tonnen, alles brav sortiert natürlich, denn Mischmüll ist doppelt so teuer wie Bauschutt. Ich hab lange wie ein Müllkind von Rio gesessen und sortiert. "

Am Ende haben sie Böden verlegt und gestrichen. Und sind jetzt hier anderthalb Jahre mietfrei, zahlen nur die Nebenkosten des Ladens, den sie "Gabis Heimsuchung" genannt haben. Orte wie dieser sind typische Ergebnisse der Arbeit einer Zwischennutzungsagentur.

"Privat wohne ich am Chamissoplatz, im schicken Teil Kreuzbergs. Mir gefällt's hier fast besser, es ist lebendiger" sagt Steffi, die selbst Malerin ist.

Und so stellt Steffi, die Galeristin, zunächst auch die sinnlichen Gemälde von "Steffi" Stefanie Nückel aus, der Malerin, und der Mit-Bauarbeiter Norman Klotz ist Tanzlehrer und kümmert sich um die Fotografie. Dienstags um 20.00 Uhr wird demnächst hier Tango getanzt.

Zunächst ist aber heute Abend, nach mehr als zwei Monaten Subotnik, das große Eröffnungsfest.

P.S.: Fotos vom Fest und Infos hier:
http://gabis-heimsuchung.blogspot.com/2006/08/erffnung-und-die-fortsetzung.html

Donnerstag, 24. August 2006

Noch vier Monate bis Weihnachten

Heute auf den Tag genau sind es noch vier Monate bis Heiligabend. Nicht, dass ich noch an den Weihnachtsmann glauben würde, und Kirche, naja. Aber ich mag Kerzenschein, Nadelduft und die Menschen um mich rum. Und ich bin für gut inszenierten Kitsch empfänglich.

Ich lebe in einem multikulturellen Bezirk. Und heute auf den Tag genau sind es noch vier Monate bis Weihnachten. Zwei plus zwei Monate.

Auf der Sonnenallee bei einer türkischen Variante von McBillig gibt's paketweise echte gelbe Weihnachtskerzen. Im August. Zugegeben, der Himmel hängt auf Halbmast, es riecht fast schon nach Herbst, alle sprechen davon. War ja auch zu nett von uns, dass wir uns die Capricen vom Aprilwetter und die Regenmenge vom Juli für den August aufgespart und den Hochsommer wegen der WM vorverlegt haben, oder? Wir sind halt gute Freunde. Ich schweife ab.

Noch einspluseinspluseinspluseins Monate bis "Gschenklefeschd" (nach den Türken sind hier die Schwaben die zweitgrößte ethnische Minderheit).
Und hier liegen sieben Päckchen echter Wachskerzen zum Spottpreis von jeweils 49 Cent. Die kann ich nicht liegenlassen. Ich schau nach links, ich schau nach rechts, keiner sieht hin. Okay, hier ist echt sparen angesagt, und ab geht's zur Kasse.

Wenig später. Ein Spiegel mit schönem Holzrahmen lockt mich ins Innere eines Trödelladens. Auch hier: Kleingewerbe fest in türkischer Hand. Beim Hinausgehen wäre ich fast über sie gestolpert: Weihnachtbaumfüße! Noch einer plus drei Monate ... Woher wissen die eigentlich, dass beim letzten Versuch, den großen Stamm in den kleinen Ständer zu bugsieren am Alditchibolidlfuß aus Plastik eine Strebe rausgebrochen ist, so dass die Statik immerwährend und auf ewig gefährdet ist. Und das bei echten Wachskerzen, nee, das passt nicht. Der Fuß hier, Modell Plattfuß nach versehentlichem Abwurf, ist noch richtig schön solide und gusseisern. "Der 'Christbaumständer' kostet einen Euro!" sagt der Verkäufer belehrend. Also los: Ein Blick nach links, einer nach rechts.

Sind ja nur noch vier Monate. Ach, wie schön ist es doch, in einem multikulturellen Bezirk zu leben.

Mittwoch, 23. August 2006

Schuhparkplatz

Freitagabend, sieben Uhr. In der Karl-Marx-Straße sind Parkplätze auf einer Insel zwischen den Fahrbahnen und quer zur Fahrtrichtung angeordnet. Gegenüber dem Haus mit der Nummer 150 steht auf dem ansonsten leeren Parkplatz ein helles Paar brauner Herrenschuhe. Das Obermaterial weist geschwungene Formen auf, es ist teils geflochten, teils sind Müsterchen eingeprägt; es sieht dem Paar Budapester Schuhe aus dem Schaufenster am Kudamm ähnlich.

Was macht das Schuhpaar hier, das ungefähr da steht, wo sie ein Beifahrer, wenn er beim Einsteigen die Schuhe ausgezogen hätte, stehen gelassen hätte: nicht mittig, sondern an den vorderen rechten Rand versetzt. Es könnte auch hinten links gewesen sein. Es waren eher nicht die Schuhe des Fahrers ... oder doch? Vielleicht waren vorne rechts oder hinten links die Ersatzschuhe verstaut, denn barfuß wird er ja nicht gefahren sein.

Oder hat sie ein Penner hier stehenlassen? Nein, dafür ist das Paar zu gut. Haben die Schuhe gedrückt und wurden deshalb gewechselt? Machen sie Blasen?

Ein Parkplatz für Schuhe. Es könnte sich auch um Kunst handeln.

Wie viel Platz beanspruchen die Blechbüchsen, die meist nur einzelne Menschen von A nach B bringen, im kollektiven Straßenraum? Womit, wenn nicht mit Autos, könnte man legalerweise so viel Platz übergangsweise 'privatisieren'? Ein Zelt würde abgeräumt, auch die Schuhe werden sicher bald "überfahren".

Oder hat das Haus mit der Nummer 150 etwas damit zu tun? Welche Geschichte hat hier stattgefunden? Im Haus gegenüber dem Schuhparkplatz gibt es zwei Geschäfte: Einen Juwelier und eine Apotheke.

Dienstag, 22. August 2006

Regen über Neukölln ...

Aprilwetter im August, dazu riecht es manchmal schon nach spätem September. Und die Stadtschreiberin schreibt über Paris fürs Radio.
Auch hier bald mehr ...

Sonntag, 20. August 2006

Sonntagsabenteuer im Park

Heute werde ich mal persönlich und gehe damit auf wiederholt gestellte Bitten ein.

Sonntagnachmittag im Görlitzer Park in Kreuzberg 36 - das ist das große Promenieren, Sehen und Gesehenwerden, Kinderspiel und Picknick. Am Tag vor Schulbeginn (ja, morgen geht's in Berlin wieder los) toben sich hier etliche Kinder nochmal richtig aus. Es ist warm, nicht zu warm. Der Himmel ist bedeckt.

Nach einem Picknick mit Freunden, bei dem ich kurz vorbeigeschaut habe, trete ich um fünf Uhr die Rückfahrt an, um sieben will ich ins Kino, dazwischen noch eine Stunde arbeiten. Am Parkausgang radele ich an zwei Steppkes vorbei und höre den Satzteil "hier warten, bis die Mama wiederkommt." Das war komisch, ich mache sofort kehrt.

Batuhan (5 Jahre) und Orgun (2 1/2) stehen mit Fahr- und Laufrad am Ausgang des Stadtparks, ihre dunklen Knopfaugen wirken riesig. Ich stelle mich vor, frage, ob ich Gesellschaft leisten darf. Ja, ich darf. Die Mama sei weg, schon länger, als eine Sendung vom Sandmännchen dauere.

Wir schauen kurz vor dem Park auf die Straße, ob die Mama nicht dort ist, Orgun bremst prima sein Laufrad, als es leicht bergab in Richtung Straße geht, Batuhan wacht auch darüber. Dann gehen wir wieder rein und überlegen lange. Nach einer Viertelstunde meinen sie, Mama Assia das letzte Mal im Kinderbauernhof gesehen zu haben, und der ist 15 Meter weiter östlich. Der Weg dort ist auch besser einsehbar als die Stelle hier hinter dem Gebüsch, wir ziehen also um. Eine türkische Familie auf der Wiese kennt die Jungs nicht, andere Passanten haben sie auch noch nicht gesehen. Die Knaben haben beide sehr fein geschnittene, hübsche Gesichter, tragen Fahrradhelme, T-Shirts und kurze Hosen. Ich seh mich mit ihnen schon auf der Polizei, höre im Geiste einen bräsig berlinernen Bullen: "Ja, wat solln wa denn mit die hier, junge Frau!?" - und die Kids, der Kleine wird gerade müde, in mein Gästezimmer einquartieren.

Wo ist die Mutter nur? Was ist los? Ist das schon mal passiert? Die Kleinen wissen gar nichts. Die Mitarbeiter des Kinderbauernhofs (hier gibt es Schweinchen, Hühner, Esel, ein Pony, Ziegen) haben die Kinder immerhin mit ihrer Mutter Stunden zuvor gesehen ("sie ist Ende 20, mehr wissen wir nicht"). Sie schreiben meine Handynummer auf. Inzwischen ist es viertel vor sechs, der Kinderbauernhof macht gleich zu. Der Himmel zieht langsam zu.

Die ganze Zeit über sind Batuhan und Orgun unglaublich tapfer. Sie toben mit den anderen Kindern, spielen Frisbee, der Große hat den Kleinen immer im Blick. Orgun kommt mit seinen noch nicht drei Jahren immer wieder angelaufen, holt sich eine Portion Nähe, läßt sich in den Arm nehmen, erzählt was und rennt wieder davon. Zwischendurch spielen sie Wettrennen, meine Begeisterung ist ihnen wichtig. Außenstehende würden gar nicht auf die Idee kommen, dass wir uns erst so kurz kennen. Ich stehe auf dem höhergelegenen Weg und überblicke das Gelände. Keine Suchenden zu sehen.

Es ist sechs. Wind kommt auf. Bedrohlich schwarze Wolken schieben sich plötzlich in den Horizont. Ich renne in die Senke der Wiese, um 'meine' Jungs einzusammeln. Batuhan hatte mir gesagt, er kenne den Nachhauseweg. Los mit uns, bevor das Gewitter losbricht. Doch es geht viel schneller, als erwartet. Wir kommen nur bis zur nächsten Straßenecke und fliehen in ein Zeitungsgeschäft. Es schüttet, blitzt und donnert. Das Gewitter ist direkt über uns.

Die jungen Männer halten sich weiter mustergültig. Sie schielen in die Süßwarenregale. Ich argumentiere, dass es was Süßes geben könne, aber nicht nur. "Haben Sie was Salziges?" Es ist schließlich Abendbrotzeit. Aber außer YumYum, chinesischer Nudelsuppe, gibt es nur noch in Plastik eingeschweißte Würstchen, das ist weder für meine kleinen Moslems, noch für mich Vegetarierin was. Also trockene Nudeln, die unter Kindern als Snack gelten, ich kenne das schon. Mit uns im Laden ein im Leibesumfang vom Gerstensaft stark gezeichneter Mann und einige friedliche Penner. Sie reden so manchen Kram, ich gehe mit den Knaben an die Tür und flüstere ihnen zu: "Es gibt Menschen, die trinken zu viel Alkohol, dann wissen sie nicht mehr, was sie sagen."

Alles ist friedlich, ich wundere mich sehr über diese ausgeglichenen Engelchen. Der Papa sei gerade in der Türkei, plappert Batuhan, und morgen gehe auch der Kindergarten wieder los. In die Schule komme er erst nächstes Jahr. Ich freue mich über diese Kerle, die so wunderbar Deutsch sprechen und so natürlich sind. Dann schaut Orgun wieder mal etwas trauriger drein, ich darf ihn auf den Arm nehmen. Er legt den Kopf auf meine Schulter.

Nein, das sieht nicht nach einem kurzen Gewitter aus. Es ist viertel nach sechs, ich bestelle ein Taxi - und als es endlich, endlich kommt, bin ich plötzlich umringt von einer Nachbarin der Kinder und ihrer Tochter, die im Taxi mitkommen sollen, und dann stehen da plötzlich die aufgelöste Mutter der Kinder und Nachbarn und Freunde vor mir. Sie hatten den ganzen Park abgesucht und die Leute vom Bauernhof, die sie am Ende auch noch gefragt haben, hatten ihnen gesagt, dass wir auf dem Heimweg sind.

Die beiden Kinder erlebten das Ganze mit dem entspanntesten Gesichtsausdruck, den man sich denken kann. Orgun wirkte einfach nur noch müde, zu müde vielleicht für Tränen.

In den nächsten Wochen mehr, diese Familie interessiert mich.

Samstagnacht auf der Brücke

Nach dem Kino sitzen wir in der Samstagnacht auf der Brücke zwischen Kreuzberg und Neukölln. Wir, das sind etliche Leute, die gerade fast jeden Abend hier sind, und sei es für den "Absacker". Da ist zum Beispiel der Biologe, der vor kurzem wieder nach Neukölln gezogen ist, er war vor 15 Jahren schon mal kurz hier, oder der Kunsthistoriker, der am Prenzlauer Berg wohnt, und doch drei Abende in Folge auf der Brücke gesichtet wurde. Dazu etliche andere, die über Politik oder Kindererziehung diskutieren. Ein vierjähriger Deutsch-Italiener, der zu großem Geschrei anhebt. Und eben Carsten mit seinem Eiswagen (siehe "Brückenzoll").

Unter unseren Füßen das "schwarze Loch" des Kanals. Ab und zu zieht ein leerer Ausflugsdampfer unter der Brücke durch, der sich schon lange vorher durch sein Dröhnen ankündigt. Wir schauen in den nachtblauen Himmel, wieder eine laue Augustnacht.

Neben uns erklärt eine Frau, ab wo der Kiez, der am Helmholzplatz anfängt, mehr "61" ähnelt als "36". Mit den alten Postkennziffern von der vor-vorletzten Postleitzahlenreform erklärt sie eine Gegend am Prenzlauer Berg, indem sie Kreuzberg zum Maßstab nimmt. Sie wohnte schon mal hier, sagt sie, als Kreuzberg der hipste Bezirk von Westberlin war, also zu Mauerzeiten (damals hieß das noch nicht "hip", nicht mal mehr "in", nur wie dann?). Dann sei sie in den Osten gezogen und vor fünf Jahren wieder zurück. "Bis vor zwei, drei Jahren sind wir regelmäßig in Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain ausgegangen, jetzt gehen wir immer öfter einfach vor die Haustür!"

Vor etwa drei Nummern beschrieb das Stadtmagazin "Zitty" die Gegend um das Schlesische Tor als DAS neue Szeneviertel. Der Biologe neben mir meint, dieses Gebiet reiche weit über Kreuzberg 36 hinaus. "Es diffundiert langsam nach Neukölln rein. Grund dafür ist der Aufstieg von 36. Viele können dort gar nicht mehr wohnen, alles ist besetzt. In Neukölln gibt's Platz und immer mehr coole Nachbarn. Überhaupt ist das ganz cool, mal abgesehen von manchen, sehr laut geführten Nachbarschaftsstreitigkeiten. Die arabische Musik morgens um halb fünf ist auch stressig. Ich weiß gar nicht genau, wo das herkommt, es klingt mal wie live, mal ist es eindeutig übersteuert, also wird es dann jedenfalls vom Band kommen."

"Dagegen verbürgerlicht Kreuzberg 36 immer mehr. Die Leute von Universal und MTV, deren Büros auf der Ostseite an der Oberbaumbrücke liegen, finden es eben cooler, nach Kreuzberg zum Mittagessen zu gehen als nach Friedrichshain, was ja der Prenzlauer Berg für die junge Generation ist. Also landen die am Schlesischen Tor - und etliche wohnen jetzt da auch, abzulesen an den Volvos oder Mercedes Kombis vor dem Haus. Die Autobesitzer treffen auf Nachbarn, von denen sich viele gar kein Auto leisten können, und beziehen die Wohnungen jener, die der Kinder wegen nach Schöneberg, Friedenau oder neuerdings Steglitz ziehen, also in den alten, bürgerlichen Westen."

Soweit der Biologe. Nochmal zum Mitdenken: Kreuzberg "SO 36" (Süd-Ost 36) lag einst in der Sackgasse, das war ein Ausläufer Westberlins inmitten der "Hauptstadt der DDR". Die Brücke, auf der wir sitzen, liegt genau im Schnittpunkt des Vierländerecks: Friedrichshain im Nordosten, im Uhrzeigersinn ein wenig weiter "runter" dann Treptow, im Süden Neukölln, und auf dem Zifferblatt weitergerutscht bei sieben Uhr beginnt dann das schicke, das bürgerliche Kreuzberg "61", bei neun Uhr geht es wieder in SO 36 über.

In SO 36 waren die billigen, heruntergekommenen Häuser einst von "Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund" bewohnt, damals hieß das noch "Gastarbeiter". Studenten zogen hinzu, erfuhren von den Abrissplänen des Senats, besetzten Häuser und sorgten dafür, dass Sanierungspläne entstanden und umgesetzt wurden. Das war in den 70er und 80er Jahren.

Mit dem Mauerfall waren von einem Tag auf den anderen die Ostbezirke "angesagt". Und vor kurzem zogen Medienunternehmen ans Spreeufer. Der Osten und die historische Mitte wurden immer schicker und teurer, also gibt es einen osmotischen Druck auf Kreuzberg. Der dritte (oder war's der vierte?) Studentennachzug nach Kreuzberg verbürgerlichte, bekam Kinder, zog weiter. Nun kommen Mieter mit höherer Kaufkraft ins alte, nie so gut beleumundete SO 36, was sicher sehr bald auch zu mehr Baustellen führen wird. Jene, die früher diese bislang günstigen Wohnungen bezogen hätten, weichen jetzt verstärkt nach Nord-Neukölln aus.

"Es ist nicht eine bestimmte, definierbare Szene, die weiterzieht, wie die Zeitungen schreiben, das ist Quatsch", sagt der Biologe. "Es handelt sich um eine Gruppe, die ähnliches Alter und ähnliche Interessen auszeichnet, die aus Gründen der Kaufkraft und der Kommunikation sich ihre Orte sucht."

Wenig später gehen wir Neuköllner Laborkaninchen nach Hause über die Brücke, während der Gast aus dem 'nahen Osten' noch zur U-Bahn muss.

Samstag, 19. August 2006

Kunstraum t27

Berlin besteht aus Bezirken, die Bezirke aus verschiedenen Kiezen. Am nördlichen Ende Neuköllns, von der Grenze zu Kreuzberg her gesehen, beginnt in Richtung Süden der Reuterkiez. Hier liegt die Stadtschreiberwohnung. Einen oder zwei Kieze weiter (das überblicke ich noch nicht) liegt der Körnerkiez. Das ist nicht etwa die Heimat besonders eingefleischter Vegetarier, die sich ausschließlich vegan von Pflänzchen und Körnern ernähren, nein, der Körnerkiez hat seinen Namen vom gleichnamigen Park. Ein gewisser Franz Körner, seines Zeichens Kiesgrubenbesitzer, vermachte 1910 dem Bezirk das Terrain, das in einer Senke liegt und in der im ersten Weltkrieg dann der bis heute sehr beliebte Park angelegt wurde.

Gegenüber dem Park, an der Thomasstraße 27, gibt es seit einem Jahr eine städtische Galerie, den Kunstraum t27. Hier war Freitagabend Vernissage. Neun Künstler zeigt die Webseite auf, ich zählte zehn, die hier Arbeiten unter der Überschrift "Imitatio" ausstellen. Nachahmung, Aneignung und Verfremdung, ja zum Teil auch Humor und Ironie sind die rote Linie durch die ausgestellten Bilder und Objekte.

Besonders spannend fand ich die Fotoarbeit von Fernando Ponzetta, einem italienischen Künstler, der in Neukölln lebt. Sein Akt in der Art alter Malerei sieht bei vagem Hinsehen wie eine alte Fotografie aus. Auf den zweiten Blick hat die Auflösung des Bildes eine höhere Qualität, als es damals möglich war. Der Eindruck des Alten entsteht im Wesentlichen durch die Handkolorierung der schwarz-weiß Fotografie. Und bei ganz genauerem Hinsehen erkennt man in der elegant Hingestreckten mit ihren Brustpiercings eine Frau von heute.

http://www.kunstraumt27.de, mittwochs bis sonntags, 15-19 Uhr

Donnerstag, 17. August 2006

Merke: Marke

In der Bürknerstraße gibt es ein neues Geschäft: "Klötze und Schinken". Hier gibt es Kunst und mehr. Vorne wird ausgestellt und verkauft, hinten gibt es allerlei Handgefertigtes, Notizbücher, deren Deckblatt aus dem Karton eines Tetrapacks besteht, Bastelbögen für DDR-Plattenbau und den Palast der Republik, Taschen aus Filz und aus aufgetrennten Feuerwehrschläuchen, letztere garantiert wasserdicht.

Der Laden ist aus dem Prenzlauerberg hergezogen. Noch heute versprühen seine Waren den Charme von Ostberlin der Nachwendezeit, riechen nach hipper Improvisation. "Made in GDR" wurde flugs zu "made in East-Berlin" im Schatten des Fernsehturms, das roch und klang nicht mehr nach Trabi-Motor, sondern nach frischer Farbe und dem Kreischen und Surren der Bodenabschleifmaschinen.

Und in der Euphorie des Neuen entstanden neue Marken, die keine sind und doch als solche funktionieren.

Im Laden kommt es zu einem Gespräch über Marken. Robert ist ein in die Jahre gekommener Architekt und heute "auf Hartz IV". Für ihn sind Marken zu allererst Erkennungmerkmale. "Ich erkaufe mir die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Egal ob KaDeWe (Kaufhaus des Westens) oder Aldi, ich mach für den ersten Blick klar, wo ich hingehöre. Ist Dir schon mal aufgefallen, dass die wirklich guten Rapper unter den Hipsters gar keine Streifchen an den Turnschuhen tragen müssen? Sie sind es ja schließlich, die die Trends setzen. Also: mache Deine Kinder stark, und sie werden immun gegen Marken."

Klaus, Gitarrist und Hauptschullehrer, der heute mal gucken gekommen ist, was in der Nachbarschaft passiert, bevor die Schule nächste Woche wieder anfängt, sagt: "Schau Dir die reichen Leute an. Die hetzen von Termin zu Termin, die haben gar keine Zeit dafür, sich gute Sachen zu erjagen. Oft erkennen sie nicht mal, was gut ist, aber das ist eher ein Problem von Bildung und Geschmack. Also bezahlen sie für eine Marke. Im Grunde bezahlen sie damit Mister Boss dafür, dass er Stoff, Schnitt und Laden ausgewählt hat. Sie wissen, dass sie der Marke vertrauen könnten. So gesehen ist eine Marke ein Einkaufsberater und ersetzt auch Freunde, Partner, den Herrenausstatter ihres Vertrauens - und die eigene, vielleicht längere Entscheidungsfindung."

Im Bad der Stadtschreiberwohnung liegt jetzt der Inhalt meines kaputten Verbandkastens in einer weißen Schlauchtasche mit hellblauer Aufschrift "BERLINER FEUERWEHR", zusammengehalten durch einen ebenfalls hellblauen Reißverschluss. Damit mache ich jetzt allen klar, dass ich hier zur Szene gehöre. Und eins haben alle Marken gemeinsam, egal ob Ex-East-Berlin oder Strenesse: Die Preise haben sich gewaschen. Die Differenz zum Materialwert ist eben die Marke, der "Abdruck", hier: der Aufdruck.

Mittwoch, 16. August 2006

Suche Dein Glück

... "suche Dein Glück" steht in orangenfarbenen Lettern auf blaugestrichenem Grund: Ein Ladenschild, das in einer Straße der Gegend über einem Schaufenster hängt. Was hier wohl verkauft wird?

Zweiter Blick: Da steht ein Punkt vor "suche Dein Glück". Der Punkt ist hochgerutscht und steht eher in der Mitte. Es ist auch kein Punkt, sondern das Ende eines Strichs.

Dritter Blick: Das Geschäft wirkt leer, nur ein Paar Stühle stehen darin. Dem Ladenschild fehlt links ein Teil, es sieht wie abgebrochen aus. "Versuche Dein Glück", stand hier einst wohl. Glückspiele - das klingt nach einarmigen Banditen, Black Jack und "faites vos jeux! ... Rien ne va plus!" Der Laden ist klein und unscheinbar. Hier konnte man allenfalls mit Losen sein Glück herausfordern.

Übrig blieb das Schild, das heute Aufforderung für alle ist.

Montag, 14. August 2006

Stadt und Land

"Ach", sagt die Nachbarin, Mutter zweier kleiner Söhne, "ich muss mal wieder in die Stadt!"

Auf Nachfrage erklärt sie: "Hier ist es so ländlich und dörflich, und ab und zu muss ich eben ins Zentrum, in die Friedrichstraße, zum Einkaufen."

Und sie setzt ihren Jüngsten in den Kinderwagen, schiebt ihn durch die stuckverzierte Eingangshalle und geht das Maybachufer hinunter. Nach wenigen Minuten hat das Grün die beiden "verschluckt".

So idyllisch kann Neukölln sein.

13. August

Wie heute war der Tag vor 45 Jahren ein Sonntag. Als die Berliner aufstanden, war die erste "Stadtbefestigung" aus Stacheldraht, Geröll, Militärwagen, Soldaten und Freiwilligen schon nahezu dicht. Kreuzberg und Neukölln, obwohl sie geographisch weit im Osten liegen, wurden zu Bezirken in der Sackgasse und gehörten doch politisch zum Westen.

Unweit meines Hauses, den Landwehrkanal nur ein wenig runter, stießen im Wasser die Bezirke Neukölln, Kreuzberg und Treptow aneinander. Dort partrouillierten seit jenem Sonntag am "Studentenbad" die Boote der Grenzer. Heute führen hier die beliebtesten Spazierwege der Gegend entlang.

Am Nachmittag grillt im Park am Studentenbad eine Familie - trotz der kühlen Witterung. In die Bäume haben sie Guirlanden gehängt. Ihre zwei Hunde rennen brav ihren Stöcken nach, Minis waten in bunten Gummistiefelchen durch große Pfützen. Die friedliche Stimmung lässt die Bilder im Kopf unrealistisch werden. Nein, man wisse nicht, was für ein Tag heute sei. Geburtstag halt, lautet die erste Antwort, als ich vorsichtig das Gepräch eröffne. Nur die Oma der Familie weiß etwas zu erzählen: "Ich wohne seit 50 Jahren in der Friedelstraße, also in Neukölln. Den Tag damals hab ich im Schrebergarten verschlafen, wir haben's erst am Abend erfahren. Aber zur Zeit damals fällt mir ein, dass, wenn der Wind schlecht stand, dicke Rußfladen von der anderen Seite zu uns rübergeweht kamen. Auch hier, nicht nur im Osten, haben viele Hausbesitzer ihre Häuser jahrzehnelang nicht mehr gestrichen, weil die Farbe nie lang hielt. Und es roch immer so komisch nach Reinigungsmittel und verbranntem Öl."

Für alle, die es möglicherweise nicht verstanden haben: dies ist ein Text über die Berliner Mauer. Das "raumteilende Bauwerk" (Peter Schneider) fiel in der Nacht zum 9. November 1989.

Samstag, 12. August 2006

Konvergenztheorien

In unserer Straße wird gestrichen. Der Sockel eines Wohnhauses ist abgeklebt, als erstes sind die Graffitti dran, sie verschwinden unter weißer Fassadenfarbe. Der Maler in Aktion ist eigentlich "Kunstmaler" (1) und Grafiker. Er residiert seit einiger Zeit im Ladengeschäft auf der Ecke, das zuvor jahrelang leergestanden hatte. Denn der vom Hausbesitzer geforderte Mietzins war astronomisch hoch und hätte eigentlich nur von einer florierenden Kneipe gezahlt werden können. Dafür schienen aber die Räume nicht ausgelegt.

Dann kam das Quartiersmanagment. Inzwischen zahlt ein Künstler Nebenkosten und Versicherung - und streicht neu. Das Gebäude macht schon deshalb einen freundlicheren Eindruck, weil hinter der Schaufensterscheiber jetzt oft auch noch abends einer am Schreib- und Zeichentisch sitzt.

Während der Maler/Kunstmaler seine Farbtöpfe wegräumt, kommt es auf der Straße zu einem Gespräch unter Passanten. "Die Sache mit den Nebenkosten ist gar nicht schlecht", sagt ein Passant, der sich selbst "Kulturarbeiter" nennt. "Ich war lange in der Kulturwirtschaft tätig. Jetzt gibt es fast nur noch wirtschaftliche Argumente für oder gegen die Kultur. Mit dem Ergebnis, dass ich hier in der Kultur- und Jugendarbeit einen Ein-Euro-Job mache und zwar für fast die gleiche Tätigkeit, für die meine Freundin bei einem andren Träger als Sozialarbeiterin angestellt ist - zu normalem Gehalt natürlich. Irgendwann werden diese Jobs auch noch wegrationalisiert sein. Dann ist Kultur abseits vom Mainstream auf der einen Seite Staaatskultur und Touristenprogramm und auf der anderen Seite eine Existenzform auf niedrigster Stufe. Totengräber und Lyriker - und dabei ein minimales Auskommen haben. Das kennt man von früher aus der DDR."

Leider erfahre ich seinen Namen nicht. Auch nicht den seiner Freundin. Wir schauen weiter auf das Haus. Die Freundin sagt, sie komme auch aus "der Ehemaligen". Und sie vergleicht: "In Ost-Berlin kannten wir diesen Trend schon, nur besetzte man damals die Häuser, ging rein, ohne groß zu fragen. Das Leben in der Parallelwelt, in den berühmten Nischen, fühlt sich heute ähnlich an. Es geht oft darum, etwas zu organisieren, die richtigen Leute zu kennen und dem Menschen in der Behörde nicht das Falsche zu sagen. Früher bekam man (2) viele Baumaterialien nicht, heute muss man sie mangels Geld organisieren oder schauen, wer sie einem billiger besorgt. Nur eins ist verdammt nochmal anders: Heute reden alle fast nur noch über Geld, damals hatte man einfach, was man zum Auskommen brauchte. Und ins Theater zu gehen konnten sich alle leisten. Heute steht Campino als Mackie Messer in der Friedrichstraße und ein Herr Ackermann von der Deutschen Bank sponsert das ganze. Absurd!"

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Ein Weblog mit Fußnoten? Au weia! Aber weil ich mich hier vom Promovieren erhole, mir den Kick eines kurzen fertigen Textes hole, sei mir das verziehen. Wird nicht oft vorkommen, versprochen!

(1) Kurze Anmerkung zu den Malern. Das Wort "Kunstmaler" ist für mich typisch deutsch. Erst die Präsisierung, das Wort "Kunst", hebt den Maler vom Handwerksberuf ab, der für die Mehrheit der Bevölkerung der erste Wortsinn des Begriffs zu sein scheint. Auf Französisch ist es genau andersrum. "Le peintre" malt Bilder, das längere "peintre en bâtiment" bezeichnet denjenigen, der Fassaden und Zimmer anstreicht.

(2) Auch heute noch verwenden viele Leute aus dem Osten das Wörtchen "man", wenn sie "wir" oder "ich" meinen. Das Ich und das Kollektiv ...

Freitag, 11. August 2006

Wo bin ich?

Neukölln ist der größte Stadtteil Berlins, an Einwohnern gemessen: 300.000 Menschen aus über 160 Ländern leben hier. Und so ist es auch logisch, dass der Bezirk fast täglich Schlagzeilen macht. Die Neuköllner haben jedoch die Themen dieser Nachrichten gründlich satt: "Das größte Sozialamt Europas" - steht natürlich in Neukölln. Hier soll demnächst eine große Moschee samt Schulungzsentrum entstehen - die Regierenden haben erst einmal Veto eingelegt. Noch geöffnet hat (außer in den Ferien) die Rütli-Schule, in der deutsche Schüler eine Minderheit darstellen. Deren Rektor hatte im Frühjahr die Waffen gestreckt vor der Gewalt in den Klassenzimmern und offiziel um die Schließung der Schule nachgesucht. Detlev Bucks letzter Film, der zeitgleich zu diesen Schlagzeilen ins Kino kam, fand dafür eindrucksvolle Bilder.

Und sonst? Über 20 % der 4493 Hektar Neukölln sind Grünfläche. Und wie das Unkraut aus dem Boden schießt (laut Stadtbauaumt verfügt man hier leider nur über 10 % des Geldes, das für eine ordentliche Pflege nötig wäre), und wie das Unkraut also aus dem Boden schießt, so schießen auch die neuen Projekte aus Neuköllner Erde. In NN (sprich "Nord-Neukölln") oder noch genauer: im Reuterkiez hat man sich jetzt eines Problems von zwei Seiten her angenommen: dem Leerstand von Gewerberaum. Zu dem passt nämlich die begrenzte Anzahl von Ateliers und Werkstätten für Bildende Künstler, Designer, Filmschaffende. Ein sehr lebendiges Quartiersmanagement moderiert seit einem Jahr beide Seiten aufeinander zu mit dem Ergebnis, dass die Straßen jünger werden, viele Läden wieder belegt sind und die Vermieter wenigstens ihre Grundkosten reinbekommen.

So wirkt Neukölln diesen Sommer eher friedlich, ein wenig verwachsen und auf jeden Fall eins: verdammt kreativ.

Donnerstag, 10. August 2006

Zwei Joggerinnen bei Dehnübungen I

Die eine: "Immer das gleiche mit den Männern, wenn's ernst wird, verpissen sie sich."

Die andere: "Ja, während wir versuchen für die Probleme, die’s ja immer irgendwie gibt, gemeinsam Lösungen zu finden!"

Die eine: " ... da sucht ER sich doch lieber eine zu den Problemen passende Frau!"

Mittwoch, 9. August 2006

Brückenzoll

Mitten auf der Brücke, am helllichten Tag: zwischen parkenden Autos liegt ein großes Stück knallroter Läufer auf der Straße. Darauf stehen zwei Klappstühle und ein schwarzes Korbtischchen. Richtig einladend wird das Ganze erst durch eine Glasvase mit weißen Lilien. Was ist hier los?

Um sechs Uhr abends fährt Carsten den Wagen auf die Brücke und bereitet alles vor. Auf umgedrehte Getränkekisten platziert er zwei kleine Weinpflanzen, die eben noch auf der Theke standen; aus dem schmalen Gang hinten holt er zehn Klappstühle und fünf Klapptischchen. Dann hakt er das Schutzdach fest, an dem die weiß-rote Markise baumelt: So öffnet allabendlich "La Chicha", die Eisdiele auf der Brücke.

Mit Beginn der WM hat der Dreißigjährige sein Geschäft eröffnet. Jetzt ist er von der Uferpromenade dreißig Meter weiter auf die Brückenmitte gezogen, dorthin, wo Kreuzberg aufhört und Neukölln anfängt. Und viele Passanten, die hier von der Ohlauer kommen und Richtung Friedelstraße gehen (oder andersum), unterbrechen ihren Weg. Studenten genehmigen sich eins, hier quengelt ein Kind, ein älteres Paar hat es auf Bionade und die Stühle mit "Seeblick" abgesehen: von oben aufs Wasser Richtung Potsdamer Platz, unverstellter Westblick, mit Sonnenuntergangsgarantie. Solange keine Wolken sind wie heute.

Trotz des kühlen Wetters halten viele an, entrichten ihren Brückenzoll und laben sich am selbstgemachten Gelato "aus ökologisch kontrollierten Zutaten". Elf Sorten sind im Angebot, auch Eis ohne Sahne oder ohne Milch, darunter "Joghurt-Mirabelle" und "Wahlnuss" - passend zum Wahlplakat vom Laternenmast daneben. Ein Ghettoblaster spielt dazu Chopin. Später werden Gäste den Vollmond am Osthimmel besingen und damit den Passanten ausnahmslos ein Lächeln ins Gesicht zaubern. (Wolken schieben sich vor den Erdtrabanten: "Seht ihr den Mond dort stehen? | Er ist nur halb zu sehen | und ist doch rund und schön. | So sind wohl manche Sachen, | die wir getrost belachen, | weil unsre Augen sie nicht sehn.")

Neben der Eistruhe steht ein Schild: "2- bis 3-Zimmerwohnung im Kiez gesucht, wir sind eine kleine Familie." Carstens Freundin Rebecca hatte sich gerade, als ich angekommen war, zum Filmegegucken verabschiedet. Die Familienbildung steht den beiden mehr als nur ins Gesicht geschrieben. "Ich werde ja bald Vater", sagt Carsten, der sich sein charmantes, jungenshaftes Lachen bewahrt hat, "und bin froh, jetzt nach Kreuzberg zu ziehen, wir haben was gefunden, das Schild kann weg. Ich bin Schauspieler, da gibt's natürlich immer wieder Phasen ohne Beschäftigung. Und ich habe die Ämter in Neukölln als einen ziemlichen Moloch erlebt als es darum ging, für den Eiswagen Existenzgründerhilfe zu bekommen. Mir hat sogar jemand von der Kreditanstalt für Wiederaufbau beim Schreiben des Businessplans geholfen, aber das Amt hat mir nur 170 Euro Grundförderung zugesagt, ist eben Ermessenssache. Ohne die Hilfe von Freunden und Familie stünde ich nicht hier. Die Ämter in Kreuzberg sind viel cooler, ich hab ja schon mit dem Ordnungsamt zu tun. In Kreuzberg sind die Ämter erste Welt, in Neukölln ist das wirklich dritte Welt. Da rennen eben die Massen aufs Amt und Perspektiven gibt's auch kaum."

Um neun ist vom Tag nicht mehr viel Licht übrig. Carsten nimmt Papiertüten aus einem Korb. Der Boden der Tüten ist mit Sand bedeckt, darin stehen Teelichte. Auf dem Landwehrkanal macht eine Entenfamilie mit Jungen Rabatz. Während jetzt nicht nur die Küken auf dem Wasser schlafen geschickt werden, weiß Carsten, dass er noch ein paar Stunden Arbeitszeit vor sich hat, bis er um Mitternacht oder ein Uhr morgens Stühle und Weinpflanzen wieder einpackt und die Nacht wirklich anbricht.

Und irgendwann am Nachmittag drauf wird er den roten Teppich wieder ausrollen als Platzhalter für seinen Eiswagen.

Dienstag, 8. August 2006

Fremddeutsch I

Es geht morgens kurz nach sechs los: "Klackklack, klackklack - rumms!" Böcke aus rohem Holz werden von Anhängern geladen, oben drauf werfen Arbeiter Tischplatten. Am Ende rollen sie Planen über Gestänge aus gesteckten Leisten: Der Markt am Maybachufer öffnet gegen Mittag. Fälschlicherweise oft "Kreuzberger Türkenmarkt" genannt, ist er eigentlich ein Neuköllner Ereignis. Entlang des Ufers bilden die Stände Gassen, die sich über die Bürgersteige hinziehen. Hier gibt es en gros oder au détail Obst, Gemüse, Nähzeug, Töpfe, Gewürze, Fisch, Fleisch, seit neuem auch Biogemüse und einen Kaffeestand. Am Kottbusser Damm, gleich bei der Ankerklause, steht sogar ein Stoffverkäufer mit feinem bis grobem Leintuch, von Gardinenstoff über Möbelstoffe bis Malerleinen: alles naturweiß.

Und fast überall bekommt man gratis hinzu, wie hier auf den Schildern die Ware manchmal recht eigenwillig benannt wird: "Granny Simitis" heißt da eine Apfelsorte, dort bietet ein Stand mit Haushaltswaren "Ein Kaufswagen" an (wie viel kosten wohl zwei?) und in ein paar Wochen heißt es dann wieder: "Eßt Katsanien".

Beim Haushaltswarenstand liegen auch ein paar Visitenkarten von Geschäften aus der Nachbarschaft aus. Ein Trödelladen bietet an: "Wohnungsauf Lösungen".

Montag, 7. August 2006

Sparen

Ich stehe auf der Sonnenalle im tiefsten Neukölln. Die Straße, die im einstigen Ostberlin endet, ist schon sehr osteuropäisch geprägt: Marktstände, Frauen mit Kopftüchern, Männer, die trotz des frischen Tages auf Stühlen vor dem Haus sitzen, Kaffee oder Tee trinken, die politische Lage diskutieren. An den Häusern viele in der Aufmachung billige Ladenschilder von McGeiz und wie sie alle heißen, oder auf Türkisch ohne Übersetzung. Einer der Ramschläden hat als Unterzeile: "Viel kaufen, viel sparen". Mein Blick fällt auf den Straßenbelag neben dem Haus. Ich fange an zu zählen. Sieben unterschiedliche Arten von Pflaster, Steinen und Platten, Asphalt, Bitumen und Macadam. Dazwischen große Löcher. Auch hier wurde kräftig gespart.

Sparen scheint das geheime "Wort des Jahres" zu sein, nicht nur in Neukölln. Drei Nachrichtenmeldungen: Bund und Länder sparen an Kulturausgaben, die ja nur freiwillige Leistungen sind, denen also kein Rechtsanspruch zugrunde liegt. VW würde 1,5 Milliarden Euro im Jahr sparen, wenn die Arbeitskosten in den Fabriken Deutschlands so niedrig wären wie in den französischen. Und die Hochschulen sparen Geld durch KW-Vermerke auf Stellenplänen in der Lehre.

KW-Vermerk – „kann wegfallen“. Die Professur in der Geisteswissenschaft kann wegfallen – dass das nicht nur zunehmende geistige Verarmung bedeutet, sondern auch die Karrierepläne von Nachwuchswissenschaftlern zerstört, ist keines Nebensatzes wert. Da hat sich jemand 12 Jahre lang von Zeitvertrag zu Zeitvertrag gehangelt, zu Facharbeitereinkommen halbierte oder gedrittelte Stellen innegehabt und Studenten ausgebildet, Nachwuchs geprägt, Wissenschaft betrieben. Nun: KW, auch das kann wegfallen. Sparen wir uns Wissen und Erfahrungen dieser Jungen, die zu alt sind für eine "Juniorprofessur", die wir uns demnächst auch sparen. Wir sparen uns auch das Wissen der späteren Jahre: 70 % der 60jährigen sind nicht mehr im Beruf, da können Unternehmen richtig sparen. Die fehlenden Renditen dieser Art von Kapital, nämlich dem geistigen, berechnet niemand.

Arbeitnehmer, also Menschen, werden auf „Kostenfaktoren“ miteinander konkurrierender „Standorte“ zusammengeschrumpft. Die dann perfide den Konsum verweigern und die Reproduktion der Spezies. Nicht nur bei Volkswagen überlegt jetzt der eine oder andere in Werkhalle oder Büro, ob sie oder er sich die neue Karre kauft - oder das Geld lieber spart.

Das Wort "sparen" hatte mal einen anderen Sinn. Sparen war was schönes, wir steckten das Geld ins Schweinderl, deponierten es vor dem Börsenboom auf dem Sparbuch und später im Aktienportefeuille. Am Ende hatten wir ein hübsches Sümmchen beisammen, mit dem wir dann in den Sommerurlaub fuhren, ein neues Sofa erwarben – oder eben besagtes Kraftfahrzeug. Auch Sprache kann durch Sparen ärmer werden.

Auf Neusprech kommt "sparen" praktisch nur noch in der semantischen Begriffsverengung vor, die der Präfix "ein-" mit sich bringt, "ein-sparen", also wenn im Grunde "kürzen“, "streichen“, "mit dem Rotstift drübergehen“ gemeint ist.

Was aber, wenn man in der Kultur zu viel spart? Zurück zum Volkswagenwerk, diesmal in den östlichen Teil des Landes, nach Westsachsen. Dort, so wurde mir vor Ort glaubhaft versichert, sei die werte Gattin des managenden Chefs in die westliche Heimat zurückgekehrt, weil es in der westsächsischen Provinz zu wenig Kulturangebote gibt. Volkswagen hätte sicher gern das Trennungsgeld gespart, das der Manager jetzt bekommt.
Volkswagen – das klingt genauso alt und unzeitgemäß wie Volkswirtschaft. Also sparen wir, damit dem Volk noch ein wenig Wirtschaft übrigbleibt? Oder glauben Sie etwa, „Bausparen“ heißt „Bausparen“, weil man sich das Bauen sparen will?

Sonntag, 6. August 2006

Gelungene Integration

Am Ufer, in der Nachbarschaft. Die Dame trägt dreierlei Blumenstoff. Sie steht auf der Straße vor dem geöffneten Fenster und brüllt hinein. Die dreifach Gemusterte - Kopftuch, Bluse und Rock - hält sich dabei an einem Rollstuhl fest, in dem sie sonst in der Gegend von ihren Kindern und Enkeln spazierengeschoben wird. Auf der anderen Seite des Fensters sitzt ein in die Jahre gekommener deutscher Schmerbauch in Sportshorts auf dem Sofa und tut so, als sei er schwerhörig. Sie lässt mit rauher Stimme eine Schimpftirade äußerst korrekt ausgesprochener politisch äußerst unkorrekter Schimpfwörter los. Die Worte können zum Teil ihre Herkunft aus dem süd- bzw. südosteuropäischen Raum nicht verbergen ("Hurensohn"). Zwischendurch schnappt sie nach Luft. "Isch Anzeige machen." Der erste grammatikalisch falsche Satz.

Später erzählt sie mir, als ich die Eingangstür zum Treppenhaus aufschließe, der Nachbar des Hauses links von uns habe die Jugendlichen dazu ermutigt, im gartenähnlich angelegten Hof des Hauses rechts von uns ballzuspielen. "Aba is Privatgaten, is für kleine Kinda, nicht für große. Is Privatgaten. Isch Polizei rufen. Und der hat misch angemacht. Der denkt wohl, der kann Angst machen, nur weil isch Kopftuch trage. Schelappschwanz! Spießer!"

Samstag, 5. August 2006

Kracher, Böller, Salven

Gestern Abend wurde mein Haus befeuert, nein: vor dem Haus meiner Stadtschreiberwohnung wurde gefeiert. Die Stadtschreiberwohung liegt idyllisch am Ufer des Landwehrkanals, dort hinaus geht auch der Austritt, der immerhin so groß ist, dass man ihn auch zu zweit betreten kann und sogar mit einem kleinen Tischchen bestückt, so dass der Austritt im Vertrag mit dem Vermieter als "Balkon" erwähnt wird. Auf dem Tischchen wohnt derzeit eine Palme. Die Palme erholt sich hier vom langen Berliner Winter. Die Spitzen der Palme sind ungeheuer piksig, deshalb kann seither kann der Austritt nur noch im langen Mantel betreten werden, was an den heißen Tagen etwas mühsam war.

Aber ich schweife ab. Gestern wurde vor dem Haus auf der anderen Uferseite nicht nur gefeiert, sondern es wurden viele Böller, Kracher und Salven in die Luft gejagt. Es klang so, als hatte jemand sein restliches WM-Pulver zu verschießen. Die Sache ging bis in die Nacht und ließ mich schlecht schlafen.

Im Halbschlaf wurden die Wellen, die der Seegang der Touristenboote an die Ufermauer wirft, immer lauter, das Wasserfläche wurde immer größer. Und die Palme auf dem Austritt wuchs und wuchs. Ich träumte von Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeeres, die im Keller sitzen, während Salven und Bomben über ihre Köpfe fliegen. Ich träumte von Regisseur Amos Gitai aus Haifa, den ich vor Jahren mal auf der Berlinale gedolmetscht habe. Und als ich heute morgen die BERLINER ZEITUNG aufgeschlagen habe, las ich folgende Zeilen:

Warten auf die Sirenen

Der Nahe Osten erlebt jetzt seine Stunde der Wahrheit / Von Amos Gitai

Auf merkwürdige Weise setzt der Krieg für das Heranwachsen Punkt und Komma. Ich wurde 1950 in Haifa geboren, zwei Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg. In die Grundschule kam ich 1956: da herrschten die Suezkrise und der dritte arabisch-israelische Krieg. Man kann jede unserer Biografien aus der Perspektive der außenpolitischen Ereignisse im Nahen Osten beschreiben. Deshalb habe ich den Eindruck, dass sie in die intimsten Sphären jedes einzelnen eindringen.

Im Jahr nach dem Jom-Kippur-Krieg wollte ich mich nicht erinnern. Zu viele Albträume. [Gitai war 1973 in einem Rettungshubschrauber abgeschossen worden, d.R.] Ich gab das Architekturstudium auf. Ich suchte mir andere Mittel, um mit der Wirklichkeit des Nahen Ostens ins Gespräch zu kommen. Ich dachte, das Kino könne es mir leichter machen, meine Einfälle und Überlegungen auszudrücken.

In den 80er-Jahren begann ich die Trilogie, die ich gerade mit dem Film "News from Home/ News from House" beendet habe. Diese Trilogie behandelt die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern, die sich im Mikrokosmos der Bewohner eines Hauses in Jerusalem spiegeln. Seinerzeit war Scharon Verteidigungsminister, es war die Zeit des Libanon-Kriegs, und es wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen, dass Israel vor allem ein Kriegsfilm fehlen würde. Ich musste bis in die 90er-Jahre warten - darauf, dass der Frieden langsam ein Gesprächsthema wurde. Bis mir klar wurde, dass man den Krieg auf dialektische Weise zeigen muss. Genau zu dem Zeitpunkt habe ich den Film "Kippur" gedreht.

Zu viele Kriegsfilme zeigen distanzierte, ästhetisierte Bilder. Dabei ist der Krieg per definitionem Unordnung und Bruch. In einer Situation wie der des Jom-Kippur-Kriegs ist die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Ich wollte diese chaotische Seite, das Verschmelzen und die Verwirrung der ersten Tage am Beispiel von Staus einfangen, in denen sowohl Zivilfahrzeuge als auch Militärlastwagen oder Lieferwagen mit Eiskrem stehen.

Der Nahe Osten erlebt jetzt seine Stunde der Wahrheit. Ich glaube, wir werden gezwungen uns zu entscheiden, ob wir uns eine Form der Koexistenz vorstellen können oder nicht. Ich hoffe, dass diese Debatte friedlich geführt werden wird und nicht kriegerisch. Wir müssen andere Wege finden, miteinander zu sprechen oder geteilter Meinung zu sein, aber keinesfalls auf so mörderische Art und Weise wie jetzt.

In diesen Tagen in meiner Geburtsstadt Haifa zu sein, den Bombenalarm und die Einschläge der Granaten zu hören, ist eine alles andere als intellektuelle Erfahrung. Es bedeutet ganz im Gegenteil physisch zu erfahren, wie sehr das Dasein eines Bewohners des Nahen Ostens doch Teil eines großen regionalen Rituals ist, das darin besteht, in regelmäßigen Abständen das Blut seines Volkes zu vergießen. Die einzige Frage, die sich aufdrängt, lautet: Warum? Wie viele Opfer, wie viel Zerstörung werden hier noch nötig sein, bis man versteht, dass dieser Totentanz keinen Sinn macht?

Der Konflikt zeigt wenigstens eines: dass der Nahe Osten sich in der letzten Zeit auf dem Weg der Beruhigung und der Versöhnung befand. Tragisch ist, dass die Extremisten jedes Mal ebenso regelmäßig wie vorhersehbar zuschlagen, wenn es in Sachen Frieden vorangeht - sie machen mit Gewalt alles wieder rückgängig. Man muss nur einige Jahre zurückdenken, um sich dessen bewusst zu werden: Genau in dem Moment, als Itzhak Rabin den Tsahal den Befehl gegeben hatte, sich aus Jenin und Nablus zurückzuziehen, begannen die Attentate auf Busse in Tel Aviv. Die Terroristen interpretieren jeden Fortschritt in Richtung Frieden als Zeichen der Schwäche - und als Gelegenheit, die eigene Macht zu demonstrieren, indem sie Israel treffen. So reiben sie das Lager der moderaten Israelis auf. Momentan haben weder Israelis noch Palästinenser Zeit, sich der täglichen, menschlichen Dinge anzunehmen, die hier wie überall in der Welt geregelt sein wollen, Probleme der Rente oder des Mindestlohns. Der Konflikt verhindert absolut jede soziale Entwicklung.

Hüten muss man sich vor dem Vermischen des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern einerseits und den Zusammenstößen zwischen Israel und den arabischen Ländern andererseits. Das Erste ist der Hauptkonflikt, weil die Erde beiden Völkern gehört und weil wir einen Weg fürs Zusammenleben finden müssen. Für uns linke Israelis ist der Krieg, den wir gerade erleben, politisch besonders komplex. Seit Jahren versuchen wir mit Artikeln, Büchern oder Filmen zu beweisen, dass der Konflikt durch den Rückzug aus den besetzten Territorien gelöst werden könnte. Nun hat sich Israel aus dem Gazastreifen und Libanon zurückgezogen, und genau hier haben jetzt die Hisbollah zugeschlagen. In dem Teil der Golan-Höhen, die noch immer besetzt sind, ist es hingegen ruhig. Wir wissen, was die israelische Rechte sagen wird: Rückzug war nicht die Lösung. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass Israel sich nicht nur weiter zurückziehen sollte, sondern dass die friedliche Koexistenz mehr ist als ferne Hoffnung: Sie wird sich ergeben. Aber bis dahin gibt es für den Kampf gegen die Hisbollah keine politisch korrekte Lösung. Kann man wirklich durch Diplomatie und Moderation eine ungebändigte religiöse Organisation befrieden, die sich so perfekt auf eine irrationale Ideologie stützt?

Der Konflikt im Nahen Osten ist deshalb besonders, weil er vollständig gefilmt wird. Es ist der Konflikt, der am meisten in den Medien vorkommt - die Lieblingsfernsehserie der Welt. Eine endlose Serie, bei denen die Guten und die Bösen regelmäßig die Rollen tauschen. In diesem Zusammenhang Kino zu machen ist eine schwierige Herausforderung: Man muss sich ständig für eine Perspektive entscheiden, trotz Sturm rational bleiben, trotz der ganz individuellen Sorgen.

Gleichzeitig Filmemacher und Bürger zu sein hat etwas Schizophrenes, aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Kino nicht die Rolle der Abendnachrichten übernehmen soll, sondern dass es die Aufgabe hat, die Vereinfachungsmechanismen der Medien außer Kraft zu setzen. Am Ende soll Kino nicht Hass schüren, sondern die gegenseitige Verständigung nähren.

Amos Gitai ist der renommierteste israelische Filmregisseur. In seinen Arbeiten hat er sich immer wieder mit den Gründungsmythen des israelischen Staates befasst. Sein Kunst-/Film-Projekt "News From Home" kommt am 7. September in die deutschen Kinos.

Ein Jahr Neukölln oder: Wie ich zur Stadtschreiberin wurde

Das ist also der Blog der Neuköllner Stadtschreiberin. Auf modernem Deutsch steht der Begriff für eine Auszeichnung und eine besondere Ehre. In der Regel mit einer Geldsumme dotiert, darf der/die jeweilige Stadtschreiber/in, der von einer Jury ausgewählt wird, ein Jahr im Stadtschreiberhaus (oder bescheidener: in der Stadtschreiberwohnung) residieren und arbeiten. Es wird mehr erhofft als erwartet, dass er/sie diese Erfahrung in die jeweilige Arbeit einfließen lässt.

Heute, am 5.8., bin ich als Stadtschreiberin in meiner Neuköllner Wohnung aufgewacht. Ich erhalte weder Preisgeld noch mietfreies Wohnen, es wird aber gern gesehen, wenn ich meinen Blick auf die Kommune, deren Stadtschreiberin ich bin, nicht nur werfe, sondern Eindrücke und Einblicke in Texte einfließen lasse.

Vielen Dank für Ihr Vertrauen - ich nehme die Aufgabe an und werde versuchen, den hohen Erwartungen zu genügen. Zum geeigneten Zeitpunkt, vielleicht so nach einem Jahr, werde ich mir eine/n Nachfolger/in suchen.

Caroline E.